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Die Stasi-Unterlagen als Quellen für die Gesellschaftsgeschichte der DDR

Von Jochen Hecht. Leicht geänderte Fassung des in Timmermann, Heiner (Hg.): Die DDR in Deutschland. Ein Rückblick auf 50 Jahre. Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen. Band 93, Berlin 2001, veröffentlichten Beitrags.

Es ist nicht nur mir, sondern vor allem auch den Mitarbeitern der Abteilung Archivbestände in der Behörde der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen wichtig, dass ich mich bei der Akademie für Politische Bildung bedanke, auf dieser Tagung zum Anlass der zehnjährigen Öffnung der Stasi-Unterlagen sprechen zu können. Der Beitrag versucht deutlich zu machen, dass diese Unterlagen für die Erforschung der Gesellschaftsgeschichte wichtig und unverzichtbar sind - dabei wird auch auf gegenwärtige Grenzen und künftige Möglichkeiten der Nutzung verwiesen, ohne dabei eine grundsätzliche Analyse von juristischen Auseinandersetzungen um diese Fragen vornehmen zu wollen.

Als Gesellschaftsgeschichte verstehe ich die Geschichte von Individuen im jeweils konkreten engeren, aber auch weiteren gesellschaftlichen Umfeld. Das betrifft den familiären Bereich, die Schule, die Lehre oder das Studium, die Arbeitssphäre und das Wirken in Parteien, Vereinen, Kirchen und sonstigen gesellschaftlichen Gremien und Interessenverbänden. Die meisten Akten des Staatssicherheitsdienstes dazu sind auf eine Person oder eine Personengruppe bezogen. Aus der Summe dieser individuellen Schicksale können mit Hilfe statistisch-soziologischer Methoden Analysen der Gesellschaft der DDR erarbeitet werden, die erhellend beitragen können, wie sich im Bewusstsein, in der Wahrnehmung und im privaten und gesellschaftlichen Handeln der Bevölkerung die vierzig Jahre des real existierenden Sozialismus widerspiegelten.

Zu all diesen hier sehr abstrakt genannten Lebensthemen hat der Staatssicherheitsdienst vierzig Jahre lang Vorgänge geführt, Akten angelegt und eine archivalische Quellenbasis hinterlassen, die ihresgleichen sucht. Dass diese Quellen nicht nur für die Gesellschaftsgeschichte der DDR, sondern auch für die der alten Bundesrepublik Deutschland von einiger Bedeutung sind, sei hiermit nicht nur am Rande angemerkt.

Es zeugt allerdings von einiger Verwegenheit, den Versuch zu unternehmen, dies in der notwendiger- und glücklicherweise beschränkten Zeit zu tun. Ich darf Sie dabei um Verständnis und Nachsicht bitten, wenn die Ausführungen einen kursorischen Charakter haben und vielleicht mehr Fragen provozieren als beantworten. Aber es steht ja Diskussionszeit zur Verfügung, und ich setze meine Hoffnungen darauf, Ihnen dort die Auskunft geben zu können, die Sie vielleicht erwarten.

Vorsorglich sei aber noch bemerkt, die letzten Geheimnisse des Staatssicherheitsdienstes kann ich Ihnen auch nicht offenbaren und auch nicht verbindlich die interessante Frage beantworten, wieviel und wo die unermüdlichen West-IM (für Uneingeweihte - Inoffizielle Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes) ihren aufopferungsvollen Kampf für den Frieden im Lande des Klassenfeindes, im Operationsgebiet, geführt haben.

Verantwortlich für die Unmöglichkeit, umfassend auch für jeden befriedigend Aussagen zur archivalischen Quellenlage des Staatssicherheitsdienstes in kurzer Zeit vorzunehmen, ist dieses Organ selbst. Es ist schon wahr, der Staatssicherheitsdienst war in 40 Jahren DDR-Geschichte nicht alles, aber ohne Staatssicherheitsdienst ist diese DDR auch nicht zu verstehen und zu analysieren.

In seinem unnachahmlich schnoddrig-brutalen Tonfall - er wird Ihnen, wenn Sie Originaldokumente hören, unvergesslich bleiben - hat der Minister für Staatssicherheit Mielke immer wieder gefordert: "Wir müssen alles wissen". Und dieser Auftrag war das Grundgesetz im Handeln und Wirken dieses Dienstes.

In seiner unheiligen Dreifaltigkeit von politischer Geheimpolizei, geheimen Nachrichtendienst und Organ für strafrechtliche Untersuchungen war das MfS bestrebt, die Gesellschaft der DDR - in erkennbarem Ausmaß auch die der BRD - zu durchdringen, zu bearbeiten und in die von der SED vorgegebenen Richtung sachte und auch weniger behutsam, ja brutal zu lenken.

Es ist hier nicht meine Aufgabe, die Gründe für das Scheitern der DDR - trotz oder wegen des Wirkens des Staatssicherheitsdienstes - zu erörtern, aber auf eine interessante Tatsache, die auch für die Entstehung dieser merkwürdigen - im Sinne von des Merkens würdigen - Behörde der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen wichtig ist, möchte ich aufmerksam machen.

Schon vor der sogenannten Wende- oder Aufbruchzeit, besonders aber dann in der aktiven Phase des Herbstes 1989 fokussierte sich der Unmut eines Großteils der Bevölkerung auf den Staatssicherheitsdienst. Manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, man schlägt den Sack und meint den Esel.

Eine nachdenkenswerte Tatsache dieser Wende- oder Revolutionszeit war jedenfalls, dass nicht die Ministerien, der Ministerrat der DDR, ja nicht einmal das ZK der SED oder die Bezirks- und Kreisleitungen dieser Partei besetzt wurden; nein, flächendeckend waren dies die territorialen Gliederungen des Staatssicherheitsdienstes (zur Erinnerung 216 Kreis- und Objektdienststellen, 15 Bezirksverwaltungen und das Ministerium selbst).

Es ist schon ein besonderes Phänomen, dass dabei letztlich die Besetzung von Archiven und der Kampf und die Nutzung oder Vernichtung von Akten für das politische Handeln auf der Straße und in den neugeschafften Diskussionsgremien wichtig wurde.

Dass diese Wende friedlich verlief, hat viele Ursachen; eine gehört sicher dazu - und die Quellen beweisen es: Den Staatssicherheitsdienst befiel bald das Gefühl der Verlassen- und Verlorenheit, und die Absetzbewegungen der SED-Spitze von ihrem Schwert und Schild waren sowohl zentral als auch in den Bezirken deutlich registrierbar.

Mit einem kühnen Wort kann man sagen, die jetzige Behörde der Bundesbeauftragten hat ihren Ursprung auf der Straße und bildete sich zu der jetzigen Gestalt einer Einrichtung des "öffentlichen Dienstes" in der Bundesrepublik in einem politischen Prozess, der zwischen Ost und West, zwischen Ost und Ost und West und West stattfand und bei dem es um die Nutzung der Akten ging, um Deckelung der Aktenberge oder deren Vernichtung durch ein Freudenfeuer.

Die erste und auch letzte freigewählte Volkskammer hatte dann die Grundzüge vorgegeben, wie die Überlieferung des Staatssicherheitsdienstes zu nutzen ist und das in einem Gesetz vom 24. August 1990 fixiert (übrigens mit Zustimmung der PDS und beinah einstimmig).

Das Gesetz sollte dann aber nicht in die Liste der Vorschriften aufgenommen werden, die nach dem Beitritt der DDR zur BRD weitergelten sollten.

In buchstäblich letzter Minute und nach Hungerstreik und symbolischer Besetzung der MfS-Gebäude durch 21 Mitglieder der Bürgerbewegung wurde dann in einer Zusatzregelung des Einigungsvertrages vom 18. September 1990 vereinbart, dass "der gesamtdeutsche Gesetzgeber" die Grundsätze, wie sie in dem von der Volkskammer am 24. August 1990 verabschiedeten Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des damaligen Ministeriums für Staatssicherheit / Amt für Nationale Sicherheit zum Ausdruck gekommen sind, umfassend berücksichtigt.

Das gegenwärtig geltende Stasi-Unterlagen-Gesetz1 , mit dessen Inkrafttreten am 01.01.1992 die Behörde der Bundesbeauftragten in die Wirklichkeiten trat, ist somit die Erfüllung dieses Auftrages der gesellschaftlich aktiven Kräfte des Jahres 1989.

Das Stasi-Unterlagen-Gesetz sichert einmal und das vorrangig, dass dem einzelnen Zugang zu den vom Staatssicherheitsdienst zu seiner Person gespeicherten Informationen gewährt wird, damit er die Einflussnahme des Staatssicherheitsdienstes auf sein persönliches Schicksal aufklären kann und es gewährleistet und fördert die historische, politische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes.

Das Gesetz hat 48 Paragraphen, und es gibt sowohl interne und externe Richtlinien und Kommentare zu diesem Gesetz, da bekanntlich nicht nur Juristen Paragraphen unterschiedlich interpretieren können. Die Arbeitsweise aller Mitarbeiter unserer Behörde muss so sein, dass Handlungen juristisch abgesichert und überprüfbar bleiben.

Die Behörde selbst ist gegliedert in die Zentralstelle und in 14 Außenstellen. Neben der unverzichtbaren Verwaltungsabteilung gibt es noch drei Abteilungen: die Abteilung Archivbestände, sozusagen der Fels, auf dem die Behörde nicht ruht, sondern arbeitet; die Abteilung Auskunft sowie die Abteilung Bildung und Forschung.

Einige Zahlen seien hier genannt, die Ihnen sicher verdeutlichen können, weshalb gegenwärtig ca. 2.600 Mitarbeiter in dieser Behörde tätig sind.

Seit 1990/91, verstärkt aber seit 1992, wurden 1,9 Millionen Anträge von Bürgern auf Akteneinsicht gestellt; es wurden weiterhin 3 Millionen Ersuchen der Behörden zur Überprüfung durch den öffentlichen Dienst übermittelt; 500 Tausend Nachfragen zu Rentenangelegenheiten liegen bisher vor; 314 Tausend Anträge zur Rehabilitierung, Wiedergutmachung und zu Ermittlungsverfahren wurden registriert und bearbeitet, und zusätzlich dazu wurden auch schon 9.700 Anträge auf Nutzung der Akten zum Zwecke der Forschung, der politischen Bildung seit 1995 gestellt.

Gegenwärtig werden durch die zuständigen Referate der Abteilung Archivbestände im Monat durchschnittlich 235 Sachrecherchen zu wissenschaftlichen und journalistischen Zwecken zeit- und personalaufwendig durchgeführt.

Es ist jetzt die Gelegenheit, einige Zahlen zur Überlieferung und Erschließung im Zentralarchiv des ehemaligen MfS zu nennen:

Es lagern dort insgesamt 80.400 laufende Meter Schriftgut, davon sind 22.400 lfd. Meter schon vom MfS archivierte Unterlagen, die grundsätzlich unbeschadet und personenbezogen recherchierbar übernommen werden konnten. Weitere 24.700 lfd. Meter Schriftgut befanden sich bis Januar 1990 in den Dienstzimmern des Ministeriums und wurden im Jahre 1990 verunordnet - ein beschönigender Begriff - in die Archivmagazine übernommen. 26.600 lfd. Meter Schriftgut, das sich auf Sicherungs- und Arbeitsfilmen des Staatssicherheitsdienstes befindet, komplettiert diese Angaben.

Unter Einschluss der Außenstellen werden insgesamt ca. 184.000 lfd. Meter Schriftgut verwahrt; ca. 40 Millionen personenbezogene Karteikarten stellen den Findapparat des Staatssicherheitsdienstes dar, und allein in der Zentralstelle sind 986.000 Fotodokumente, 89.000 Filme, Video- und Tondokumente sowie 17.870 elektronische Datenträger überliefert. Vom Schriftgut ist ca. 75 % nur personenbezogen nutzbar, d. h., man muss einen Namen mit den Personengrunddaten nennen, um an eine Akte zu gelangen. Etwa 55 % der Unterlagen der Diensteinheiten, die also noch in Bearbeitung des Staatssicherheitsdienstes waren, sind inzwischen archivisch erschlossen und stehen der Forschung zur Verfügung.

Um den Kampfauftrag "Wir müssen alles wissen" auch organisatorisch verwirklichen zu können, entwickelte sich das MfS in den 40 Jahren seiner Existenz zu einem riesigen, in sich reich gegliederten Verwaltungskörper, dessen Zuständigkeiten und Verantwortungslinien, vom Ministerium ausgehend, sich dann in den territorialen Gliederungen der Bezirke und Kreise manifestierte.

Im MfS gab es im Jahre 1989 43 Struktureinheiten, dem Minister selbst waren davon 19 direkt unterstellt, während die anderen vier Stellvertreterbereichen zugeordnet waren.

Von diesen 43 Struktureinheiten ist für gesellschafts- und sozialwissenschaftliche Daten die Überlieferung der operativen Hauptabteilungen besonders wichtig.

In diesen personen- und sachbezogenen Unterlagen kann man anhand von Zehntausenden von Akten das Individium in seinem Wirken in der, mit der und gegen die Gesellschaftsordnung der DDR wiederfinden. Zu nennen wäre vorrangig die Hauptabteilung XX (HA im folgenden), zuständig für den Staatsapparat, die Kunst und Kultur und den DDR-spezifischen Widerstand; die HA XVIII, zuständig für die "Bearbeitung" der Volkswirtschaft und die HA XIX, die die Belange des Staatssicherheitsdienstes im Verkehrs-, Post- und Nachrichtenwesen sicherte.

Wichtig für Untersuchungen zur Rolle des Individiums in der Gesellschaft - sein Agieren und Reagieren - sind auch die Materialien der HA I (Abwehrarbeit in der Nationalen Volksarmee und den Grenztruppen); der HA II (Passkontrolle, Tourismus, Interhotel) und der HA VIII (Beobachtung, Ermittlung).

Eine dieser Hauptverwaltungen sei etwas genauer mit ihren Aufgaben und in ihrer Überlieferung vorgestellt:

Die HA XX hatte die Federführung auf dem Gebiet der Verhinderung bzw. der Aufdeckung und Bekämpfung "politisch-ideologischer Diversion" (PID) und "politischer Untergrundtätigkeit" (PUT). Sie war weiterhin verantwortlich für die Sicherung zentraler Organe und Einrichtungen des Staatsapparates, Sicherung der Führungsgremien der Parteien (ohne SED natürlich) und Massenorganisationen, Mitwirkung an der Durchsetzung der offiziellen Jugendpolitik, Aufklärung und Bearbeitung "staatsfeindlicher Hetze", Sicherung zentraler Sporteinrichtungen und Abwehrarbeit im Leistungssport, Aufklärung, Bearbeitung, Sicherung der Kirche und von Religionsgemeinschaften (im Sprachgebrauch des MfS auch häufig als "Verhinderung des Missbrauchs der Kirchen" gekennzeichnet), Sicherung der zentralen Massenmedien, Mitwirkung an der Durchsetzung der Kulturpolitik der SED und Sicherung zentraler Einrichtungen und Objekte auf dem Gebiet der Kultur, Sicherung zentraler Einrichtungen des Bildungswesens, abwehrmäßige Arbeit im und nach dem Operationsgebiet (vor allem in der damaligen BRD und in "Berlin-West" gegen Zentren PUT und PID und unter Anhängern "alternativer" Gruppierungen).

In Erledigung dieser Aufgaben, die wahrlich anspruchsvoll zu nennen sind, standen dem Leiter dieser HA (1989 Genosse Generalleutnant Kienberg) 461 Mitarbeiter, darunter 202 IM-führende Genossen zur Verfügung. Dies bezieht sich nur auf das MfS, nicht auf die Verantwortungslinie HA XX in den Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen.

Die HA XX war in 10 Abteilungen und diese in Referate gegliedert, dazu gab es eine Arbeitsgruppe Koordinierung und die wichtige Auswertungs- und Kontrollgruppe, die für die Erarbeitung von Analysen, von Informationen, Führung von personen- und sachbezogenen Speichern und für die Planung und Kontrolle der operativen Arbeit zuständig war.

Von dieser HA XX sind 1.267 lfd. Meter Schriftgut überliefert, von denen bisher ca. 718 lfd. Meter erschlossen, verzeichnet und recherchierbar sind. Nachweislich sind 62 lfd. Meter Schriftgut mit geringer Intensität vorvernichtet worden, darüber hinaus sind 1.093 Papiersäcke, die mit durchschnittlich 1 lfd. Meter Schriftgut gleichgesetzt werden, mit geschredderten und stark vorvernichteten Materialien überliefert. Die Hälfte des Schriftgutes, das sich bis Mitte Januar 1990 in den Abteilungs- und Sektorenregistraturen befand, steht also grundsätzlich nicht mehr für die Nutzung zur Verfügung.

Trotz dieser intensiven Vernichtungsaktionen sind gerade für diese Diensteinheit des MfS bedeutsame Vorgänge, Akten- und Aktengruppen auswertbar geworden, die für die Analyse der DDR-Gesellschaft, insbesondere für den sogenannten Überbau unverzichtbar sein werden.

Die Erschließungsarbeiten konzentrierten sich vor allem darauf, die in der Zentralen Materialablage (ZMA) der schon genannten Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) dokumentierten Sachverhalte wieder zu ordnen und für die Forschung bereitstellen zu können. Diese ZMA beinhalten ausschließlich Sachinformationen und Maßnahmepläne zur Aufklärung und Bekämpfung von sogenannten "feindlichen" Kräften und Organisationen vor allem in der BRD, aber auch in der DDR.

In den Unterlagen der Abteilung 4 der HA XX ist u. a. eine ausführliche Dokumentation der Überwachung von Synoden der Evangelischen Kirche in der DDR und der Zusammenarbeit mit den Sicherheitsorganen anderer sozialistischer Länder bei der Durchdringung und Bearbeitung internationaler Kirchengremien überliefert. Umfangreich ist zudem die Überwachung von anderen Religionsgemeinschaften dokumentiert. In diesem Zusammenhang sei auch auf die kirchenpolitische Dokumentensammlung des MfS verwiesen. Diese Sammlung ist teilweise mit operativen Dokumenten des Staatssicherheitsdienstes kombiniert. Sie ermöglicht deshalb einen umfassenden Einblick in die "Bearbeitung" der Kirchen durch den Staatssicherheitsdienst.

Da es eine der Grundüberzeugungen der herrschenden Kaste in der DDR war, dass das materielle Sein das Bewusstsein bestimmt, sei noch ein Blick auf die HA XVIII des MfS erlaubt (zuständig für die Volkswirtschaft).

Diese HA hatte folgende Aufgaben:

  • Sicherung der zentralen volkswirtschaftlichen Bereiche einschließlich der Leitungs- und Planungsorgane in der Regierung
  • Sicherung der Einrichtungen der naturwissenschaftlichen Forschung und technischen Entwicklung (Akademie der Wissenschaften der DDR, Bauakademie usw.)
  • Wirtschaftsspionageabwehr
  • Aufklärung und Bestätigung von Nomenklaturkadern, Auslands- und Reisekadern, Führung von Personendossiers
  • Sicherung der Außenwirtschaftsbeziehungen, insbesondere mit dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet sowie Maßnahmen zur Umgehung von Embargobestimmungen
  • Verhinderung bzw. Aufklärung von Bränden, Havarien, Störungen
  • Aufdecken von Fällen schwerer Wirtschaftskriminalität sowie
  • Informationstätigkeit zu volkswirtschaftlichen Prozessen.

Auch diese Aufgaben können mit Recht anspruchsvoll genannt werden. Dem Leiter der HA XVIII, Genossen Generalleutnant Dr. jur. Kleine, standen dafür 647 Mitarbeiter zur Verfügung; 229 dieser Mitarbeiter waren Führungsoffiziere für IM, und die Bedeutung dieser HA für die Gesellschaft der DDR zeigt sich auch darin, dass immerhin 111 Offiziere im besonderen Einsatz für die HA verdeckt in den Betrieben und Kombinaten oder Leitungsorganen der Volkswirtschaft tätig waren.

Von dieser HA sind 844 lfd. Meter Schriftgut überliefert; davon sind gegenwärtig 265 lfd. Meter erschlossen und recherchierbar. In Akteneinheiten ausgedrückt sind dies 13.110 Akten.

Vernichtet wurden 37 lfd. Meter mit geringem Vernichtungsgrad und 393 Säcke mit geschredderten und stark zerrissenen Unterlagen; das sind ca. 430 lfd. Meter Schriftgut.

In den inzwischen aufbereiteten Unterlagen befinden sich u. a. Vorgänge im Zusammenhang mit der illegalen Beschaffung von Ausrüstungen und Handelsgütern für die DDR unter Umgehung der Embargobestimmungen sowie über sogenannte "Gemischte Gesellschaften" unter Beteiligung von DDR-Betrieben in westlichen Staaten.

Neben Sicherheitsüberprüfungen von Reisekadern sind sehr viele operative Personenkontrollen und operative Vorgänge - auch zu Bürgern westlicher Staaten, die der Geheimdiensttätigkeit verdächtigt wurden - erschlossen. Allein aus diesem Teilbestand wurden mehr als 11.400 Personendatensätze in die Findmittel der Bundesbeauftragten zur Sicherung der gegenwärtig noch im Vordergrund stehenden individuellen Ansprüche auf Akteneinsicht eingegeben.

Überliefert sind auch zahlreiche Fälle, in denen der Staatssicherheitsdienst Wirtschaftsstraftaten sowie Havarien, Störungen, zum Teil auch mit gravierenden Umweltschäden bearbeitete.

Es liegen auch umfangreiche Unterlagen vor, in denen aus der Sicht der HA XVIII die politische und wirtschaftliche Lage in der DDR eingeschätzt und die Versorgung der Bevölkerung und deren Stimmung analysiert wird - ein überzeugender Beweis, dass die These vom materiellen Sein, das das Bewusstsein bestimmt, im Staatssicherheitsdienst ihre Anhänger hatte.

Ein weiterer Fund sind Materialien über die Absicherung der Staatsaktion "Licht", in deren Rahmen im Jahre 1962 Tresore und Schließfächer in Banken und Sparkassen überprüft und Wertgegenstände, z. B. Kunstobjekte, Schmuck, Sparbücher, Briefmarken, mit einem damaligen angenommenen Wert von 4,1 Millionen DM beschlagnahmt und der Tresorverwaltung des Ministeriums für Finanzen übergeben wurde. Damit sei es genug der Einzelheiten.

Die Erschließungsstrategie der Abteilung Archivbestände wurde im Jahre 1991/92 von den Erwartungen der Bürger bestimmt, die das Stasi-Unterlagen-Gesetz erst ermöglicht hatten. Es wurden vorrangig die personenbezogenen Unterlagen geordnet und verzeichnet, die sich noch nicht in der Verwahrung der Archive des Staatssicherheitsdienstes, sondern zur Bearbeitung in den Dienstzimmern befanden. Damit wurde der Auftrag erfüllt, der in der damaligen Losung festgehalten ist: Freiheit für meine Akte.

Gegenwärtig sind wir in eine Phase eingetreten, in der die Erschließung von sogenannten Sachakten die archivische Arbeit bestimmt. Neben den operativen Diensteinheiten werden die Unterlagen der Leitungsebene, der Auswertungs- und Informationsabteilungen und der Querschnittsabteilungen wieder nutzbar gemacht.

Mit dem gegenwärtigen Erschließungsstand von 55 % können wir nicht zufrieden sein, geschuldet ist dies aber einmal der chaotischen Überlieferungslage und der nicht ausreichenden Zahl von historisch und archivarisch ausgebildetem Fachpersonal.

Werfen wir nun einen Blick auf das so zu bezeichnende Archivgut des MfS. Abgeschlossene Vorgänge zu Personen und Personengruppen aus der operativen Arbeit, Kaderakten, Disziplinarakten der hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS, Gerichts- und Untersuchungsakten und Akten, die von den Diensteinheiten aus der spezifischen Sicht des Staatssicherheitsdienstes als historisch bedeutsam angesehen wurden, übergab man der Abteilung XII des MfS (Archiv, Registratur), wo sie in sogenannten Archivbeständen abgelegt wurden. Das sind:

  • der Archivbestand 1 oder auch operative Hauptablage genannt. Zu diesem Bestand gehören die Aktenkategorien archivierter operativer Vorgang, der archivierte IM-Vorgang und IM-Vorlauf und der archivierte Untersuchungsvorgang.
  • Im Archivbestand 2 sind archivierte Feindobjekte, archivierte Akten zu Kontrollobjekten, sonstige Sachakten und die Vorgangshefte der Führungsoffiziere verwahrt.
  • Die Personalaktenablage des MfS wird als Archivbestand 3 bezeichnet.
  • In den Archivbeständen 4 und 5 sind die Akten der Staatsanwaltschaften abgelegt, die Sachakten der Abteilung I A des Generalstaatsanwaltes der DDR sowie die archivierten Akten des Arbeitsgebietes I der Kriminalpolizei.

Um Ihnen die jeder Rechtsstaatlichkeit Hohn sprechende Verfahrensweise zu verdeutlichen, bitte ich Sie, sich vorzustellen, dass die Verfahrensakten des Bundesgerichtshofes und des Generalbundesanwalts im Archiv des BND oder des Verfassungsschutzes deponiert wären.

Allein für das MfS sind aus den Jahren 1950 - 1989 ca. 45 Tausend Vorgänge zu Personen bewahrt und nutzbar, die unter den Begriff "Betroffene" des Stasi-Unterlagen-Gesetzes fallen und die gegenwärtig nur unter Namensnennung und mittels eindeutiger Personendaten auffindbar sind; im öffentlichen Sprachgebrauch oft auch als Opferakte benannt.

Was berichteten bisher unbekannt gebliebene IM über die Diskussion in einem Lehrerkollegium in Schwerin zum Ungarn-Aufstand 1956, zur Versorgungslage in Schwerin, zur Verschärfung des ideologischen Drucks auf das pädagogische Personal?

Alle diese kleinen, auf ein Individium bezogenen Hinweise, Vermerke, Einschätzungen würden im geschichtlichen Dunkel versinken, wenn es nicht möglich würde, die in diesen personenbezogenen Opfer- und Täterakten verborgenen zeitgeschichtlichen Sachverhalte zu erschließen und der Forschung anzubieten.

Wir haben deshalb begonnen, diese vom MfS archivierten Unterlagen der operativen Hauptablage nach archivischen Grundsätzen zu bearbeiten; das bedeutet, die vom MfS vorgenommene personelle Erfassung wird durch eine sachbezogene Erschließung ergänzt. Die ersten Ergebnisse sind aus dem Archiv der Außenstelle Schwerin vorzulegen und beweisen nach unserer Auffassung die Notwendigkeit dieses langfristigen Vorhabens.

Aus dem Teil IM-Akten der Jahre 1950 - 1953 sind u. a. noch folgende zeitgeschichtlichen Sachverhalte erkennbar, die für die frühe Geschichte der DDR und auch der Sowjetischen Besatzungszone relevant sind. So sind folgende Sachbetreffe beispielhaft zu nennen:

  • Ablieferung und Erfassung in der Landwirtschaft
  • Stimmung betr. die Aufstellung der Kasernierten Volkspolizei, der Nationalen Volksarmee
  • Remilitarisierung in der BRD
  • Normerhöhungen, Stimmungsberichte
  • Grenzabsperrungen, Umsiedlungen, Stimmungsberichte zum Schriftwechsel Grotewohl - Adenauer, Westarbeit des MfS, Doppelagenten, Korruption und Wirtschaft, Schiebereien, illegale Geschäfte, Widerstand gegen die Kollektivierung, Enteignungen, Untergrundarbeit, illegale Zusammenkünfte, Vorkommnisse mit und in der Roten Armee.

Mit dieser Arbeit, die jetzt im Zentralarchiv der Bundesbeauftragten und künftig in allen Außenstellen begonnen wird, erhält die Forschung ein Quellenmaterial, das sich nicht auf die zeitgeschichtlich bekannten Personen und Aktionen beschränkt, sondern aus den Akten des sogenannten kleinen Mannes schöpfen und aus dem Flickenteppich dieser Einzelangaben zu einer Vertiefung, Erhellung oder Neubewertung von gesellschaftlichen Prozessen und deren Geschichtsbild beitragen kann.

Immerhin gab es im Zentralarchiv des Staatssicherheitsdienstes auch eine Ablage, die man mit einigem Recht als Archivablage zum Nachweis historischer Taten und Werke des Staatssicherheitsdienstes bezeichnen kann. Dieser Archivbestand 2 (ca. 490 lfd. Meter) stellt eine einzigartige Mischung von Unterlagen verschiedener Herkunft, unterschiedlicher Qualität und inhaltlicher Dichte dar.

Dieser Bestand ist erfreulicherweise vollständig nach archivischen Grundsätzen sach- und personenbezogen erschlossen worden, ein Findbuch im klassischen Archivsinne liegt meines Wissens in Bälde vor.

In der 1988 erlassenen Archivordnung der Abteilung XII wird auch jener Aspekt deutlich, dem die gesamt operative Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes untergeordnet war. Dieses sogenannte "operative Interesse", die Ausschließlichkeit von Konspiration und bedingungslosem Sicherheitsdenken des Apparates, ließ archivwissenschaftliche Kriterien nur dann zu, wenn diese jene Konditionen nicht in Frage stellten.

Dieser Archivbestand 2 umfasst Unterlagen aus den Jahren 1947 - 1989. Ich erlaube mir, Ihnen einige Stichworte zu nennen, die die sachlichen Inhalte beschreiben:

  • Bedeutung und Kontrolle von Organisationen, Einrichtungen und Wirtschaftsbetrieben sowie Personen und Personengruppen im In- und Ausland
  • Ermittlungen zur politischen Opposition
  • Arbeit mit IM
  • Haft, Haftanstalten und Häftlinge
  • Stimmungsberichte und Eingaben
  • Zusammenarbeit mit Sicherheitsdiensten sozialistischer Staaten
  • Unterlagen der Deutschen Verwaltung des Innern mit Angaben zur oppositionellen Agitation, Beobachtung und Kontrolle von SPD, CDU-, LDPD im Zusammenhang mit Ostbüros dieser Parteien, Veranstaltungen und Ereignisse, Personen von zeitgeschichtlichem Interesse.

Einige dieser Inhaltskomplexe sollten doch noch etwas genauer vorgestellt werden:

Als Eingaben (immerhin 22 lfd. Meter) überlieferte Unterlagen von DDR-Bürgern, in Einzelfällen auch von Ausländern, wurden vor allem an zentrale staatliche Organe gerichtet. Bemerkenswert ist hier wieder der festzustellende Vertrauensbruch gegenüber den Bürgern. Der Staatssicherheitsdienst konnte diese Angaben auswerten, ja erhielt diese Eingaben und damit Kenntnis von privaten, beruflichen oder sonstigen Schwierigkeiten und hatte sicher keine Skrupel, diese Informationen auch in seinem Sinne zu verwenden.

Der Inhalt der Eingaben bezieht sich vorrangig auf

  • Probleme bei der Ein- und Ausreise DDR / BRD
  • Übersiedlungsersuchen
  • Denunziationen
  • Anträge von Strafgefangenen auf vorzeitige Entlassung, Haftverschonung, Wiedereingliederung
  • Beschwerden zu arbeits- und zivilrechtlichen Fragen u. a.

Die Eingaben stellen insgesamt eine interessante Quelle dar, die die Wünsche und Interessen von einzelnen DDR-Bürgern im Detail erkennen lassen.

Interessant sind aus vielerlei Gründen die in erheblicher Dichte und Anzahl festgestellten Unterlagen zur Republikflucht von Angehörigen der Intelligenz aus dem Bereich der Universitäten und Hochschulen der DDR in den 50er und 60er Jahren. Hierbei handelt es sich vielfach um Originalunterlagen aus den Personal- bzw. Kaderabteilungen. Dazu zählen Lebensläufe, Beurteilungen, Verzeichnisse von Veröffentlichungen und Weiterbeobachtung nach erfolgter Republikflucht.

Zu den auch menschlich erschütternden Dokumenten zählen insbesondere die Unterlagen über geheimgehaltene und legendierte Grenzdurchbrüche, insbesondere an der Berliner Mauer. Diese Aktenbehältnisse waren versiegelt und mit einem Geheimhaltungsvermerk versehen. In vielen der hier dokumentierten Fälle starben Menschen nach Schusswaffengebrauch; Todesursache und Bestattung wurde vor den Angehörigen teilweise geheimgehalten, geleugnet oder als Unfall ausgegeben.

Erich Mielke war ja in der Sowjetischen Besatzungszone auch einmal 2. Vizepräsident der Deutschen Verwaltung des Innern. Aus dieser Zeit sind 20 lfd. Meter Schriftgut mit ca. 2.000 Akteneinheiten überliefert. Sie geben Einblick in die Tätigkeit des Kommissariats 5 (K 5) der Deutschen Verwaltung des Innern, das mit einigem Recht als Vorläufereinrichtung des Staatssicherheitsdienstes zu bezeichnen ist.

Aus dieser Tätigkeit entstanden die bei der BStU verwahrten Unterlagen, die vor allem den Zeitraum 1948 - 1950 betreffen. Es sind vor allem folgende Sachverhalte in der für den Sicherheitsapparat typischen Ermittlungstätigkeit festzustellen:

  • Meldungen zur Flucht in die Westzonen, vor allem von Mitarbeitern der öffentlichen Verwaltung, insbesondere aus dem Polizeidienst
  • Untersuchungen zur Beteiligung an Nazi- und Kriegsverbrechen
  • Ermittlungen zu Personen wegen ihrer Bewerbung für eine Tätigkeit im Polizeidienst
  • Ermittlungen zu Fällen politischer und allgemeiner Kriminalität sowie
  • Ermittlungen wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Spionage und Sabotage sowie wegen der Verbindungen zu westlichen Sicherheitsdiensten und Organisationen.

Ausführungen zu den Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes wären im höchsten Maße unvollständig, wenn man die ca. 40 Millionen Karteikarten unerwähnt lassen würde.

Es bietet sich dabei ein verwirrendes Bild, das nur durch eine notwendige Abstraktion in der Erläuterung verständlich wird.

Die Karteikarten zu Personen sind in ihrer Wertigkeit für die Forschung höchst unterschiedlich. Sie führen einmal als Findhilfsmittel zu Akten und beschränken sich dann zunächst auf kurze Angaben zur Person, die sogenannten Personengrunddaten. Das bezieht sich im allgemeinen auf die Personenkarteien, die wir als zentrale Karteien des MfS bezeichnen. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Karteien, die in den Diensteinheiten geführt und mit dem schönen Begriff VSH-Karteien (Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskarteien) bezeichnet wurden. Auch diese Karteien können zu Akten führen, bilden aber oft eigene archivalische Quellen zu Personen, auch Sachverhalten, die weit über den Charakter eines Findhilfsmittels hinausgehen.

Derzeit stehen allein in der Zentralstelle 371 unterschiedliche Personenkarteien zur Verfügung. Auf einige Karteibereiche möchte ich gern besonders aufmerksam machen, um Ihnen die hochspezialisierte Karteilandschaft des MfS in Ansätzen nahezubringen.

Es gibt einen großen Arbeitsbereich "Justizaktenkarteien", der sich aus Quellen der Abteilung XII (Archiv, Registratur); Abteilung XIV (U-Haft, Strafvollzug), HA IX (Untersuchungsorgan) und der HA II (Spionageabwehr) speist.

Durch den sogenannten Speicher XII/01 besaß das MfS einen konkreten Überblick über ehemals vorbestrafte Bürger der DDR, auch der BRD und aus anderen Staaten.

So gibt es mehrere Karteien mit Erfassungen zu Straftaten der allgemeinen Kriminalität, zu Verurteilten der Sowjetischen Militäradministration. Es sind Karteien über Verlegung von Strafgefangenen in andere Zellen und über den Postverkehr von Strafgefangenen überliefert.

Es gibt eine Kartei der Luftraumverletzungen im Grenzbereich und eine Haftentlassungskartei BRD, die die Häftlingsfreikäufe dokumentiert und Informationen zu Unterhaltszahlungen enthält.

In einer Kartei sind Ermittlungsfälle der Jahre 1962 - 1981 zusammengefasst, die eine Spezialkommission Untersuchung und Aufklärung "politisch-operativ bedeutsamer Vorkommnisse", wie Tötungsdelikte, Selbstmorde, Havarien oder Brände, als Arbeits- und Informationsmittel nutzte.

In der Vorgangskartei der HA IX/11 sind Erfassungen zu Personen, die Amtsträger im "Dritten Reich" waren, am antifaschistischen Widerstand beteiligt waren, zur Zwangsarbeit in Deutschland gezwungen wurden oder auch als Mitglieder der NPD in der BRD auffällig wurden, nachgewiesen.

Der gesamte Arbeitsbereich "Karteien hauptamtlicher Mitarbeiter" gibt grundsätzlich einen umfassenden Überblick über Personalstrukturen des Staatssicherheitsdienstes in allen seinen Aspekten, von disziplinarischen Vergehen bis zur Gehaltsentwicklung des einzelnen.

In Arbeitskarteien der HA VII (Sicherung des MdI, Deutsche Volkspolizei) sind Personen erfasst mit Verdachtshinweisen, Anzeichen und Anhaltspunkten bzw. Strafakten und Vorkommnissen auf Spionage- und Abschöpfungstätigkeit; politisch-ideologische Diversion und gegnerische Kontakttätigkeit.

Die ZKG (Zentrale Koordinierungsgruppe Übersiedlungen in die BRD sowie ungesetzliches Verlassen der DDR) besaß natürlich eine besondere Arbeitskartei zur operativen Personenkontrolle auffällig gewordener Bürger, aber auch Personenkarteien mit Hinweisen zu Notaufnahmelagern in der BRD, Durchgangsheime für Aussiedler und Zuwanderer, Bekämpfung der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte und der Organisation "Hilferufe von drüben" und überraschenderweise eine personenbezogene Auswertung des Gießener Allgemeinen Anzeigers zu Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens.

Lassen wir es damit genug sein. Diese Karteien in ihrer Gesamtheit und ihrer speziellen Zielrichtung bieten sich natürlich an für Untersuchungen mit statistischen Methoden zur Soziologie, zur Gesellschaftsgeschichte der DDR.

In Ansätzen ist dies auch schon geschehen, allerdings aus verständlichen Gründen nur für Ausarbeitungen unserer BStU-eigenen Bildungs- und Forschungsabteilung.

Das StUG neben allen seinen Vorzügen lässt es aber nicht zu, dass externe Forscher direkt an und mit den originalen Karteien arbeiten und eine Anonymisierung oder sonstige, auch datentechnische Aufbereitung ist gegenwärtig nicht möglich.

Bei genauer Betrachtung der im Stasi-Unterlagen-Gesetz für die Aufarbeitung der Tätigkeit dieses Organs relevanten § 32 und § 33 wird deutlich, dass die Regelungen einmal positiv für den Forscher sind (keine Sperrfristen), aber auch Festlegungen enthalten, die für die ernsthafte historische Forschung hinderlich erscheinen.2

Nach Absatz 1 § 32 werden Stasi-Unterlagen für zwei Zwecke zur Verfügung gestellt:

  • für die Forschung zum Zwecke der politischen und historischen Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes,
  • für Zwecke der politischen Bildung.

Nach Artikel 5 Abs. 3 Grundgesetz ist die Forschung zwar frei; der Staat ist aber deshalb nicht verpflichtet, ihr auch sämtliche erforderlichen Materialien unbeschränkt zur Verfügung zu stellen. Das bedeutet gegenwärtig, dass die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für andere Zwecke als die der Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes verschlossen bleiben; allerdings hat es eine Novellierung schon dahingehend gegeben, dass auch die NS-Forschung auf die Unterlagen zurückgreifen kann. Forschung umfasst jedoch nicht Ausforschung dergestalt, dass unter Berufung auf die Forschung etwa ein ehemaliger Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes Zugang zu den Unterlagen begehrt, die ihm nach § 16 StUG verschlossen wären.

Für die genannten Zwecke werden deshalb folgende Unterlagen zur Verfügung gestellt:

  • Unterlagen, die keine personenbezogenen Informationen, also auch keine der Mitarbeiter oder Begünstigten, enthalten;
  • Duplikate, in denen die personenbezogenen Informationen aller Personen, also auch solche über Mitarbeiter oder Begünstigte anonymisiert worden sind;
  • Unterlagen mit personenbezogenen Informationen bestimmter Personengruppen, die eine schriftliche Einwilligung erteilt haben.

Die BStU wird bei Anträgen der Forschung nicht von amtswegen, sondern nur auf Ersuchen bzw. Antrag tätig.

Für die Form des Ersuchens enthält das Gesetz keine Bestimmungen. Zweckmäßigerweise werden aber die Tatsachen vorgetragen, die eine Prüfung erlauben, ob ein Antrag für Zwecke der Forschung gestellt ist, und sodann eine zielgerichtete Suche nach den gewünschten Unterlagen ermöglichen.

Soweit Einsichtnahme erfolgt ist, können auf Verlangen auch Duplikate der Unterlagen herausgegeben werden. Hierzu ist die Bundesbeauftragte auch verpflichtet. Diese Duplikate dürfen vom Empfänger weder für andere Zwecke verwendet noch an andere Stellen weitergegeben werden.

Diese Zweckbindung gilt ausnahmslos. Sie gilt unabhängig davon, ob in den Unterlagen personenbezogene oder nicht-personenbezogene Informationen enthalten sind.

Aus der Sicht der Abteilung Archivbestände sind es zwei Sachverhalte, die einer optimalen Nutzung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes entgegenstehen; dies wäre einmal die schon erwähnte Zweckbindung - Nutzung der Unterlagen für die Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes -, die im StUG definiert ist, und zweitens: die internen, organisatorisch fixierten Zuständigkeiten der Nutzerbetreuung.

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Unterlagen auch archivalische Quellen für Forschungsthemen sein können, die sich nicht nur mit dem Wirken des Staatssicherheitsdienstes beschäftigen. So könnten diese Quellen auch nutzen, um die Gesellschaftsordnungen der DDR ohne direkte Bezugsnahme auf das MfS zu analysieren und zu erhellen. Dazu müsste der Vorbehalt des § 32 entfallen.

Das strukturelle Problem besteht darin, dass in einer Abteilung, der Abteilung Auskunft, die Anträge der Forscher entgegengenommen, geprüft und dann beginnend mit einem Rechercheauftrag an die Abteilung Archivbestände weitergegeben werden.

Hier werden diese Anträge bearbeitet; die Abteilung Auskunft erhält Signaturen von Archivalien bzw. auch Ablichtungen von Findkarteien übermittelt; dann beginnt dort die Arbeit der Anonymisierung und ein evtl. Gespräch mit dem Forscher.

Diese Mitarbeiter sind grundsätzlich keine Archivare oder Historiker und kennen die archivalische Überlieferungslage meist nur aus den statistischen Mitteilungen und sonstigen Erläuterungen der Abteilung Archivbestände.

Wir sind uns bewusst, dass gerade in der Arbeit mit diesen Unterlagen ein direktes Gespräch Forscher - Archivar für beide Seiten nützlich wäre, müssen aber auch ehrlicherweise zugeben, dass dies aus reinem Personalmangel und im Interesse einer fortschreitenden Erschließung nicht durchführbar ist.

In einer der wissenschaftlichen Reihen unserer Forschungsabteilung wurde im Jahre 1994 im Zusammenwirken mit der Abteilung Archivbestände eine kurze Studie über Struktur, Charakter und Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes erarbeitet, deren Schlussfolgerungen ich auch heute noch zustimmen kann.3

Ich erlaube mir, diese Auffassungen noch einmal zusammenzufassen:

Die wissenschaftliche Auswertung der archivalischen Hinterlassenschaft des Staatssicherheitsdienstes steht auch Ende des Jahres 1999 noch am Anfang. Dennoch zeichnet sich schon heute ab, dass der Wert der MfS-Akten sowohl für die Erforschung des SED-Regimes und der Gesellschaft der DDR als auch für die derzeit noch im Vordergrund stehenden Formen der persönlichen justitiellen und politisch-publizistischen Aufarbeitung von hoher Bedeutung ist.

Diese Bewertung kann allein schon auf der Grundlage von drei fundamentalen Sachverhalten vorgenommen werden:

Der Umfang allein der schriftlichen Materialien ist außerordentlich groß (ca. 184 laufende Kilometer); im historischen Maßstab ist groß auch der Apparat, der sie produziert hat, und der Kreis der von seiner Tätigkeit Betroffenen. Die Überlieferungsverluste hingegen sind - im Vergleich etwa mit denen der entsprechenden Akten des NS-Regimes - relativ geringfügig.

Der Aufgabenbereich des Staatssicherheitsdienstes der DDR war - ebenso wie der anderer Geheimdienste in der sozialistischen Staatengemeinschaft - ungleich größer als der der bisher erforschten politischen Polizeien.

Seine Unterlagen - so auch seine Tätigkeit - sind daher mit dem in der wissenschaftlichen Diskussion eingebürgerten Terminus "Akten der Repression" nicht hinlänglich beschrieben. Neben den "klassischen" geheimpolizeilichen und geheimdienstlichen Tätigkeitsbereichen treten hier Aufgaben wie die "Sicherung der Volkswirtschaft" oder "vorbeugende" und verdeckte Aktivitäten unterhalb der schnellen offenen repressiven Maßnahmen ins Blickfeld.

Die Mitarbeiter des MfS haben den Auftrag des Genossen Minister "Wir müssen alles wissen" ernst genommen und ihn auf die gesamte Gesellschaft der DDR bezogen. Diese Erkenntnisgewinne aus 40 Jahren Geschichte der DDR finden sich jetzt in den Überlieferungen, die für uns Gegenstand der Arbeit und Quelle für die Forschung sind.

Der Grad der Schriftlichkeit - man kann auch sagen einer ausufernden Normierung und Bürokratisierung - ist sowohl in der "operativen" Tätigkeit als auch im Verwaltungsapparat ungewöhnlich hoch. Häufig ist sie durch entsprechende Bestimmungen präzise geregelt.

Die Informationssammlung und die Auswertungstätigkeit des Staatssicherheitsdienstes diente einem offen definierten Zweck, der dem MfS von der SED zugewiesen war: dem "zuverlässigen Schutz der gesellschaftlichen Entwicklung" und der "allseitigen Gewährleistung der staatlichen Sicherheit".

Das MfS hat seine Informationsgewinnung keinesfalls grobschichtig oder naiv vorgenommen; es hat sich vielmehr bemüht, verfälschende Faktoren möglichst auszuschalten, weil diese die Effizienz der eigenen Tätigkeit gefährdeten. Es führte daher eine permanente Bewertung, Kontrolle und Überprüfung seiner eigenen Informationserhebung durch, betrieb also selbst eine Art "Quellenkritik", die in einigen Punkten der historischen Forschung nicht unähnlich ist.

Ein ehemaliger Oberst des MfS bestätigte dies mit folgenden Worten; ich darf zitieren:

"Es war eine Grundvoraussetzung, das weiß jeder, der mit Informationen arbeitet, dass sie zuverlässig sein müssen. ... Es war die Regel, dass Informationen verschiedener Quellen gegenübergestellt, verglichen wurden. In der Wissenschaft wird ja auch auf dem Wahrheitsgehalt jeder Information rumgebissen, nur derjenige ist ein akkurater Wissenschaftler, der aus überprüften Informationen wichtige Schlussfolgerungen zieht. In diesem Sinne haben auch wir gearbeitet."4

Zitat Ende und so weit so gut. Über die wissenschaftlich richtigen Schlussfolgerungen des MfS und dessen Beißlust darf man nachdenken, aber der Erkenntnisdrang ist auch anekdotisch belegt:

Ein IM, der tschekistisch wachsam eine Zusammenkunft von Geistesschaffenden begleitete, und seinem Führungsoffizier mitteilte, es sei von einem gewissen Voltaire mit offenbar subversiven Neigungen die Rede gewesen, war Anlass, dass nach diesem Voltaire in den Personenspeichern des MfS gesucht wurde.

Auf einen weiteren Punkt sei noch hingewiesen: Als konspirativ arbeitendes Kontrollorgan hatte das MfS im DDR-System allerdings eine Sonderrolle, die seiner Informationsgewinnung und -erarbeitung einen größeren Spielraum verschaffte als andere Institutionen und Organe ihn hatten.

In der SED, den Blockparteien und Massenorganisationen sowie in Teilen des Staatsapparates prägten die allgegenwärtigen propagandistischen Bedürfnisse des Regimes den Arbeitsalltag naturgemäß sehr viel stärker als in der verdeckt arbeitenden Staatssicherheit.

Soweit man das zum gegenwärtigen Zeitpunkt beurteilen kann, bildete die Berichterstattung, die Analysen des MfS, ein Gegengewicht zur allgemeinen schönfärbenden Tendenz der nicht-konspirativen Berichtsysteme der DDR. Durch den Einsatz geheimdienstlicher Mittel wurde es der Staatssicherheit möglich in Bereiche einzudringen, die anderen berichterstattenden Einrichtungen nicht zugänglich waren und denen sich Meinungen und Sachverhalte in einer authentischeren Form präsentierten als in den sonstigen öffentlichen und halböffentlichen Sphären. Es spricht daher einiges dafür, dass Wahrheitsgehalt und Quellenwert der Staatssicherheits-Unterlagen gerade für die Gesellschaftsgeschichte und in Relation zu anderen Überlieferungen der ehemaligen DDR als relativ hoch einzuschätzen sind.

Der Schlusssatz meiner Ausführungen kann daher nur lauten: Eine Gesellschaftsgeschichte der DDR kann nicht nur mit Quellen des Staatssicherheitsdienstes geschrieben werden, aber eben ohne die Archivalien dieses Apparates auch nicht. Den Forschern werden dazu in den nächsten Jahrzehnten immer wieder neue Materialien zur Verfügung gestellt werden. Ob für die Nutzung der Stasi-Unterlagen auch einmal die bewährten Regelungen der Archivgesetzgebung des Bundes gelten können, wird sicher zu gegebener Zeit zu diskutieren und vom Gesetzgeber zu entscheiden sein.

Jochen Hecht

05. November 2003

Anmerkungen

1 BGBl. I 1991, S. 2272 f. Text mit allen Änderungen, siehe den Sonderdruck, der vom BStU hrsg. ist: Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Stasi-Unterlagen-Gesetz - StUG), Berlin 1997, sowie 4. StUÄndG vom 19. Dezember 1998 (BGBl. I, S. 3778).

2 Siehe dazu: Unverhau, Dagmar (Hrsg.), Das Stasi-Unterlagen-Gesetz im Lichte von Datenschutz und Archivgesetzgebung, Referate der Tagung des BStU vom 26. - 28.11.1997, Archiv zur DDR-Staatssicherheit, Band 2, Münster: LIT, 1998.

3 Siehe Engelmann, Roger, Zu Struktur, Charakter und Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, in: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Abt. Bildung und Forschung, BF informiert, Nr. 3/1994.

4 Ebenda, S. 9.