Immer mehr Bürger wollten der DDR den Rücken kehren: Einige versuchten über die grüne Grenze zwischen Ungarn und Österreich zu fliehen, andere besetzten die bundesdeutschen Botschaften in Budapest und Prag.

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Auf einem unbefestigten, eingezäunten Platz stehen in verschiedenen Modellen und Farben Pkws, die dicht an dicht in Schrägstellung abgeparkte wurden. Auch ein Wohnwagen steht am Rand. Im Hintergrund sind auf der rechten Seite lang gezogene Flachbauten zu erkennen, auf der linken Hälfte grenzt ein Wald an. An den Zäunen stehen Laternen. Es handelt sich um ein farbiges Lichtbild, das erhöht mit einem Weitwinkelobjektiv aufgenommen wurde.

Ungarn öffnet die Grenzen

Im ersten Halbjahr 1989 hatten über 100.000 Bürger Anträge darauf gestellt, aus der DDR in die Bundesrepublik überzusiedeln. Nach bisherigen Erfahrungen würden sie Monate, wenn nicht Jahre auf eine Genehmigung warten müssen. Doch plötzlich eröffnete sich eine neue Möglichkeit: Ungarn begann im Mai 1989 die Grenzanlagen nach Österreich abzubauen und damit durchlässiger zu machen. Zugleich wurden DDR-Bürger, die bei einem Fluchtversuch in den Westen festgenommen worden waren, nur noch in seltenen Fällen in ihr Herkunftsland abgeschoben. Die ersten Wagemutigen riskierten im Juni und Juli 1989 den immer noch gefährlichen Weg über die "grüne Grenze". Noch im August wurde ein DDR-Bürger an dieser Grenze erschossen. Andere suchten die bundesdeutschen Botschaften in Budapest und in Prag in der Hoffnung auf, von dort in die Bundesrepublik abgeschoben zu werden. Aus Dutzenden wurden bald Hunderte, aus Hunderten Tausende und Zehntausende.

Der Staatssicherheit kam die Aufgabe zu, die SED-Führung über die Fluchtwelle zu informieren.

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Unmittelbar nach der endgültigen Öffnung der ungarischen Grenze in der Nacht vom 10. zum 11. September erarbeitete die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe eine "Information" über DDR-Bürger, die über Ungarn in den Westen gelangt waren.

Massenhaft waren diese aus den überfüllten Flüchtlingslagern in der Ungarischen Volksrepublik (UVR) über die österreichische Grenze gelangt. Der vorliegende Bericht schildert, dass vorherige Versuche der DDR-Botschaft in Budapest, die Fluchtwilligen zur Rückkehr in die DDR zu bewegen, "im wesentlichen ohne Wirkung" geblieben waren. Die nun entstandene Situation mache es "zwingend erforderlich […], Überlegungen über Modalitäten zur künftigen Gestaltung des Reiseverkehrs in die UVR anzustellen".

Schild mit der Aufschrift "Achtung Staatsgrenze"

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Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe erstellte darüber hinaus einen zusammenfassenden Bericht zu Ausreise und Flucht zwischen Januar und September 1989.  Es handelt sich um eine zu Auslandsreisen, genehmigten Ausreisen und erfolgreichen Fluchtversuche aus der DDR für den Zeitraum Januar bis September 1989. Das Papier wurde offenbar im Zusammenhang mit der Vorbereitung eines neuen Reisegesetzes erarbeitet, das weitgehende Reisefreiheit bringen sollte, dann aber von den Ereignissen im November 1989 überholt worden ist.

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Stasi soll Fluchtwelle eindämmen

Neben der reinen Informationsbeschaffung für die SED-Führung sollte die Staatssicherheit auch einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, die Fluchtwelle einzudämmen. Sie hat dabei lange gezögert, weil sie von der SED-Spitze angewiesen worden war, alles zu unterlassen, was den wachsenden Unmut in der Bevölkerung noch weiter anheizen würde. Nach der ungarischen Grenzöffnung aber konnte die Geheimpolizei nicht mehr länger warten. Der Staatssicherheitsminister Erich Mielke gab nun den Befehl, eine ganze Reihe von Maßnahmen zu ergreifen.

Ein Schreiben Mielkes an die Leiter der Diensteinheiten macht das Dilemma deutlich, in dem die Staatssicherheit steckte: Nachdem die ungarische Grenze seit dem 11. September 1989 faktisch offen war, sollte einerseits mit den Informationen und Mitteln des MfS verhindert werden, dass noch mehr Menschen über Ungarn in den Westen fliehen. Möglichst sollten sie die DDR gar nicht erst verlassen dürfen. Andererseits aber wird gewarnt, es gebe "Gerüchte", "wonach die DDR in absehbarer Zeit den Reiseverkehr […] drastisch reduzieren würde. Dieses Vorgehen des Gegners erfolgt mit dem Ziel, die DDR zu restriktiven Maßnahmen zu veranlassen, feindlich-negative Kräfte zu öffentlichkeitswirksamen, demonstrativen Handlungen zu inspirieren und den Druck im Innern der DDR […] zu verstärken."

Mielke wollte dieses Dilemma durch den Einsatz Inoffizieller Mitarbeiter (IM) lösen, die Fluchtwillige aus ihrem Umfeld denunzieren, damit die Staatssicherheit dann Reisesperren gegen sie verhängen kann.

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Zu unterbinden vermochte die Staatssicherheit die Fluchtwelle nicht, doch wirkungslos blieben ihre Maßnahmen auch nicht. Zugleich fachten sie den Unmut im Land weiter an. 

In "Wochenberichten" stellte die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe die wichtigsten Ereignisse der vorangegangenen Tage für die Führung des Ministeriums zusammen. Im folgenden Bericht vom 16. Oktober wird ab Blatt 97 über den Erfolg jener Maßnahmen berichtet, die Erich Mielke am 13. September veranlasst hate: Insgesamt wurden seither 15 125 Anträge auf ein Reisevisum nach Ungarn abgelehnt (von 48 167 Anträgen insgesamt), 737 bereits erteilte Visa wurden eingezogen und direkt an der Grenze wurden 1 167 Bürger zurückgewiesen, obwohl sie gültige Reisedokumente hatten.

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Asservate von über Ungarn und die CSSR geflüchteten DDR-Bürgern

Gründe für die Fluchtwelle

Darüber hinaus erarbeiteten die Analytiker des MfS in der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe eine Aufstellung der Motive hinter der Fluchtwelle. Ihr Bericht ist auch deshalb interessant, weil er die offizielle SED-Propaganda jener Monate Lügen straft: dass nämlich die Flüchtlinge auf westliche Propaganda und Versprechungen hereingefallen seien.

Stattdessen werden im Dokument all jene Missstände aufgezählt, die gerade jüngere Menschen, die ihre Zukunft noch vor sich haben wollten, aus dem Lande trieben: von der fehlenden Reisefreiheit, über den allgegenwärtigen Bürokratismus bis hin zur offiziellen Medienpolitik. Darüber hinaus seien auch "Personen, die bisher gesellschaftlich aktiv waren, 'müde' geworden", hätten "resigniert und schließlich kapituliert".

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Stimmungsberichte

Die Stimmungslage der Ausreisenden unterschied sich nicht wesentlich von der ihrer Mitbürger, das zeigt ein weiterer Bericht aus den gleichen Tagen: "In den sehr umfangreich und häufig sehr heftig geführten Diskussionen zu den Ursachen und begünstigenden Bedingungen für diese gesamte Entwicklung wird mehrheitlich zum Ausdruck gebracht, die eigentlichen Ursachen lägen in der seit langem angestauten Unzufriedenheit breitester Teile der Bevölkerung mit einer Vielzahl ungelöster Probleme im Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich, in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen." 

Die Anhänger des Regimes, die "progressiven Kräfte", aber würden darauf mit "Besorgnis und Beunruhigung bis hin zu Verunsicherung" reagierten und kaum mehr wagten, dem zu widersprechen. Sie warteten darauf, dass von der SED-Führung "schnellstmöglich Maßnahmen einleitet, die zur Überwindung bestehender Probleme in der DDR führen".

Wenn die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe als das Gehirn der Staatssicherheit solche Forderungen "progressiven Kräften" in den Mund legte, kann man davon ausgehen, dass damit nicht zuletzt die intelligenteren Stasi-Offiziere selbst gemeint waren.

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Für die Machthaber musste noch besorgniserregender sein, dass selbst bei den SED-Mitgliedern die Stimmung immer schlechter wurde.  Der folgende Bericht trägt  die höchste Geheimhaltungsstufe: "Nur zur persönlichen Kenntnisnahme". Der Grund ist klar: Es geht um die Stützen des Regimes. Was den Machthaber von dort berichtet wurde, konnte sie schwerlich erfreuen. Unter den SED-Mitgliedern und -Funktionären hegten die einen "ernste Befürchtungen hinsichtlich der weiteren Erhaltung der politischen Stabilität in der DDR", während andere sich in ihrer Kritik "kaum noch von Parteilosen unterscheiden". Diejenigen aber, die die offizielle Politik etwa auf Parteiversammlungen oder in den Betrieben noch verteidigten, "wirken hilflos".

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Diese drei Berichte zeigten in aller Deutlichkeit, dass sich etwas zusammen braute. Zugleich enthielten sie implizit noch eine andere Botschaft: Den angestauten Problemen - von zahlreichen Versorgungsengpässen bis hin zu einer stupiden Medienpolitik - und der wachsenden Unzufriedenheit war mit den Mitteln der Staatssicherheit nicht beizukommen. Die Partei war gefordert.

Mielke ruft Chefs der Bezirksverwaltungen zusammen

Die Chefs der Bezirksverwaltungen für Staatssicherheit wurden regelmäßig im Ost-Berliner Ministerium zusammengerufen, um über die Lage vor Ort zu berichten und von Mielke in neue Aufgaben eingewiesen zu werden. Auch Ende August kamen die Bezirkschefs des MfS in Berlin-Lichtenberg zu einer Dienstberatung zusammen. Sie waren näher am tatsächlichen Geschehen als der Minister und sollten die Situation in ihren Bezirken schildern. In Abweichung von dem üblichen Ritual ließ Mielke zuerst seine Untergebenen sprechen, unterbrach die Redner freilich häufig mit Zwischenfragen, und redete anschließend ebenso lange wie alle seine Vorredner zusammen. Ausgewählte Bezirkschefs berichteten über ihre Vorbereitung auf den 50. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs, über die Weiterleitung der im Mai verschickten "Information" zu den oppositionellen Gruppen an die lokalen SED-Spitzen und schließlich über die allgemeine Lage, über die "Stimmung" vor Ort.

Diese Dienstbesprechung hat es zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, weil Mielke einem seiner Generäle die Frage stellte, ob etwa "morgen der 17. Juni ausbricht".

Eingangsbereich zu "Haus 1" der Stasi-Zentrale, dem Dienstsitz von Minister Erich Mielke

„Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?“

Erich Mielke
Minister für Staatssicherheit bei einer Dienstbesprechung am 31. August 1989

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  1. Juli 1989
  2. September 1989