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Ein schwarzweißes kriminaltechnisches Foto vom Grenzzaun liegt auf einer Tatortskizze, zuunterst ist ein alter Aktendeckel zu sehen.

Der angebliche Selbstmord eines "Grenzverletzers"

Herbert Kiebler war einer von mindestens 140 Menschen, die zwischen 1961 und 1989 an der Berliner Mauer zu Tode kamen. Doch die Staatssicherheit wollte das Geschehen in einem anderen Licht darstellen und fingierte vermeintliche Beweisstücke, um es als einen Suizid darzustellen.

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Eine "vorläufige Festnahme" meldete der zuständige Offizier des Grenzregiments 42 der DDR-Grenztruppen am frühen Morgen des 27. Juni 1975. "Ca. 200 m westlich [der] ehem[aligen] F[ernstraße] 96", am südlichsten Rand West-Berlins, hatte sich ein "Grenzverletzer" in Richtung Staatsgrenze bewegt und mehrere Hindernisse überwunden, bis er von einem Angehörigen der Grenztruppen gestellt wurde: "Durch Anwendung [der] Schußwaffe wurde der Grenzverletzer tötlich [!] verletzt." Von einer "Festnahme" konnte also allenfalls in der Sprache der MfS-Bürokratie die Rede sein.

Mitarbeiter der BV Potsdam und der KD Zossen übernahmen die Ermittlungen zu dem "versuchten ungesetzlichen Grenzübertritt". Sie schossen Fotos des Tatorts, setzten einen Fährtenhund ein, der den Weg des "Grenzverletzers" in das Grenzgebiet herausfinden sollte, ordneten eine Obduktion des Leichnams im Zentralen Lazarett der NVA an, ließen IM, die in der Umgebung lebten, über mögliche Reaktionen der Bevölkerung berichten und fertigten eine Skizze des Tatorts an.

„Da keine Zeugen für dieses Geschehen außerhalb der Beteiligten anzutreffen waren, versuchte das MfS, das Geschehen geheim zu halten.“

Dr. Philipp Springer
Historiker beim Stasi-Unterlagen-Archiv

Wenige Stunden später war die Identität geklärt

Seine Mutter meldete ihren Sohn bei der Volkspolizei als vermisst und legte einige Abschiedszeilen vor, die Herbert Kiebler – so der Name des Toten – in seinem Fahrschulbuch "Ich lerne fahren" hinterlassen hatte. Nun konnte das MfS das Umfeld des 23-Jährigen ausforschen und die letzten Stunden im Leben des "Grenzverletzers" rekonstruieren. Eine "Quelle" informierte, dass die Einwohner der benachbarten Siedlung "Roter Dudel" in Mahlow von dem "Zwischenfall" nichts bemerkt hätten.

Kiebler war einer von insgesamt 138 Menschen, die zwischen 1961 und 1989 an der Berliner Mauer zu Tode kamen. Bei 100 dieser Opfer handelte es sich um Männer und Frauen, die versucht hatten, aus der DDR zu fliehen und dabei getötet wurden oder in den immer stärker ausgebauten Grenzbefestigungen tödlich verunglückten.

Das MfS ließ die Familie zunächst im Ungewissen über das Schicksal Kieblers, bis man ihnen von seinem angeblichen Selbstmord berichtete. Offenkundig waren die Mutter und die Geschwister Kieblers aber sehr skeptisch, zumal ein Bruder in der Nacht Schüsse aus Richtung Grenze gehört hatte. Ein Kollege des Bruders berichtete der Volkspolizei, dieser habe ihm erzählt, dass Kiebler an der Grenze erschossen worden sei. Ein NVA-Offizier habe dies gegenüber dem Bruder geäußert.

Zweifel bei den Angehörigen

Offensichtlich konnte das MfS nicht verhindern, dass Zweifel über die wahre Todesursache Kieblers entstanden. Dies stellte auch ein Mitarbeiter der KD Zossen bei der Beerdigung fest, die am 11. Juli 1975 in Mahlow unter den Augen des MfS stattfand. Dort sprach der Pfarrer die Rätsel um den Tod an: "Was am Abend des 26. Juli passiert ist, weiß niemand. Ob diejenigen, die diese Bluttat begangen haben, sich der Folgen bewußt sind." Kieblers Bruder erstattete schließlich sogar eine Anzeige wegen Körperverletzung, die sich allerdings gegen diejenigen richtete, mit denen der Tote wenige Stunden vor den Schüssen in eine schwere Schlägerei geraten war. Die Familie bemühte sich – soweit ihr dies möglich war – um Aufklärung über das Schicksal Herbert Kieblers, zumal sie vor der Beerdigung heimlich den in der Friedhofskapelle aufgebahrten Leichnam ansah und Schusswunden entdeckte.

Die wahren Hintergründe wollte das MfS jedoch geheim halten. Aus diesem Grund wurde sogar mit großem Aufwand "für Abdeckungszwecke gegenüber den Angehörigen der Fam[ilie] Kiebler" ein umfangreiches Lügenkonstrukt erarbeitet. Laut einem fingierten Tatortuntersuchungsprotokoll soll Kieblers Leiche demnach von einem Forstmitarbeiter in einem Wald in Potsdam-West gefunden worden sein. Eine umfangreiche Fotoserie, die sogar die Nahaufnahme eines Haares an einem Zweig und die angebliche Blutlache auf dem Laubboden umfasste, schien dies zu bestätigen. Auch mit einer frei erfundenen "Tatortskizze", die die präzise Ermittlungsarbeit der Volkspolizei belegen sollte, täuschte das MfS die Familie.

„Die Stasi befürchtete auch, dass die Tat durch Zeugen unter den Grenzsoldaten bekannt werden könne und überwachte deswegen den Briefverkehr der Grenzsoldaten.“

Dr. Philipp Springer
Historiker beim Stasi-Unterlagen-Archiv

Die Ermittlungen zu der Person, die den Angehörigen offenbar einiges zu den wahren Hintergründen des Todes mitgeteilt hatte, stellte das MfS allerdings zunächst zurück, da man "keinen weiteren Gesprächsstoff" liefern wollte. Doch die Kontrolle der Briefe von Soldaten des Grenzregiments zeigte dem MfS, dass es kaum gelingen konnte, die Nachrichten über den Tod Kieblers unter der Decke zu halten. Allein neun Zitate aus der Soldatenpost dokumentierte das MfS – und damit auch sehr unterschiedliche Reaktionen auf den Tod des Mannes, den einer ihrer Kameraden erschossen hatte.

"In der letzten Nacht hatten wir Grenzalarm. [...] Er kam nicht weit und seine Flucht mußte er mit dem Leben bezahlen. [...] Als ich ihn sah, lag er zugedeckt und tot auf dem LKW. Die Decke wurde weggenommen und ich sah, was ich wohl nie mehr in meinem Leben vergessen kann. Es war kein Mensch mehr, es war nur noch ein Haufen Mensch, eine unidentifizierbare zusammengeschossene Gestalt. [...] Er war ein Grenzverletzer, aber war es wirklich nötig, aus 80 m Entfernung ihn so grausam zu töten? Es gab andere Möglichkeiten, ihn an seinem Vorhaben zu hindern. [...] Das Bild werde ich nicht mehr vergessen können. Ich kann mir nur wünschen, nie mehr in irgendeiner Weise einen Grenzverletzer zu sehen", schrieb beispielsweise ein Soldat nach Hause. Ein anderer notierte dagegen: "Vorgestern wurde für unsere Kompanie mal wieder Gefechtsalarm ausgelöst [...], 4 Schüsse alle getroffen. Als unsere Kompanie rauskam brauchte er nur noch aufgesammelt zu werden. Und wieder einer weniger, der unsere Butter ißt."

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Verschluss-Sachen

Dokumente, Fotos und Objekte aus dem Archiv der Staatssicherheit

Eine Streichholzschachtel mit vermeintlichem Urangestein, ein Briefumschlag mit "Hetzbuchstaben", ein heimlich kopierter Wohnungsschlüssel - das sind unerwartete Fundstücke aus dem Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit.