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Vier Linolschnitte liegen auf acht verschiedenen Papierabzügen, deren Druckfarben sind in rot und schwarz.

Der "Feind" schreibt "Kunstschrift"

"Feind" – der Name, den Leutnant Harald Pippig für den von ihm geführten Operativ-Vorgang wählte, war eindeutig. "Staatsgefährdende Propaganda und Hetze" warf der Offizier der KD Perleberg dem anonymen Briefeschreiber vor, der im Sommer 1962 einige Linolschnitte in den Westen geschickt hatte. "Die Graphiken", so der 29-jährige Pippig in seiner etwas ungelenken Beschreibung, "beinhalten in Kunstschrift religiös gehaltene Sprüche staatsgefährdenden Charakters, versehen mit bildl[ich]er Dokumentation". Mit Sätzen wie "Wer den Bruder vom Bruder trennt, in ewiger Schande sein Name brennt" und "Wo der Mensch kein Wort mehr wagt, sein Schweigen mehr als Worte sagt" protestierte der Absender gegen die deutsche Teilung und die fehlende Meinungsfreiheit.

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Linolschnitte in der Postkontrolle

Die Linolschnitte waren Mitarbeitern der für die Postkontrolle zuständigen Abteilung M aufgefallen. Der "Feind" hatte einen fingierten Namen und eine erfundene Anschrift als Absender der Briefe angegeben – vermutlich waren die Sendungen deshalb ins Visier der MfS-Fahnder geraten. Über den Empfänger besaß das MfS allerdings keine Informationen. Auch die Überprüfung der 60 derzeitigen und früheren Nachbarn des fingierten Absenders führte die Geheimpolizisten nicht zum Urheber der Briefe. Leutnant Pippig konzentrierte seine Untersuchungen deshalb vor allem auf die Grafiken, deren Kunstfertigkeit eine gewisse Professionalität des Urhebers erkennen ließ. Mit großem Aufwand wurden deshalb Personen ermittelt, die über gestalterische Fertigkeiten verfügten: Mitglieder der Grafik-zirkel des VEB Nähmaschinenwerk und des Reichsbahnausbesserungswerkes, Beschäftigte der Dekorationsabteilungen von örtlichen Geschäften, Mitarbeiter von Druckereien, Handwerker wie Glaser und Schriftmaler und Menschen wie Eckhard V., den der Klubhausleiter des Nähmaschinenwerkes als Freizeitkünstler und kirchlich gebunden beschrieben hatte. Das genügte Pippig, um V. durch den GI "Schwefel" unter einem Vorwand besuchen und dessen Wohnung heimlich auf mögliche Kunstwerke, die denen des anonymen Briefeschreibers ähnelten, überprüfen zu lassen – erfolglos.

„Auf Umwegen wurde versucht, eine solche Schriftprobe zu beschaffen.“

Dr. Philipp Springer
Historiker beim Stasi-Unterlagen-Archiv

Günter W. dürfte jedoch nicht den Vorstellungen des MfS-Offiziers von einem "Feind" entsprochen haben. Der 36-Jährige, der in einem kleinen Ort bei Wittenberge lebte, litt seit über 20 Jahren unter einer schweren Krankheit, die seine Bewegungsfähigkeit zunehmend einschränkte. Arbeiten konnte der junge Mann, der nach dem Krieg aus Hinterpommern in die Prignitz "umgesiedelt" worden war, seit 1950 nicht mehr. Seit 1955 war er außerhalb der Wohnung auf einen Selbstfahrer angewiesen. W., der von seiner Mutter betreut wurde, lebte jedoch keineswegs zurückgezogen. In den Sommermonaten war er viel im Ort unterwegs, malte und fotografierte, suchte das Gespräch mit Passanten und fertigte für Sportvereine und Hochzeiten Festzeitungen an – "sein Talent auf diesem Gebiet wird im Dorf sehr geschätzt", ermittelte das MfS.

Pippig und seine Mitarbeiter bemühten sich, in der Gemeinde Schriftproben von W. zu finden. Zwar konnten sie sich mehrere Schreiben beschaffen, die der Verdächtige fünf Jahre zuvor in Rentenangelegenheiten an die Sozialversicherung geschickt hatte; bei der Schweriner Volkszeitung fanden sie auch zwei Holzschnitte, die W. zur Veröffentlichung angeboten hatte. Doch einen Beleg für W.s Kunstschrift bekamen sie erst, als sie der örtlichen Bürgermeisterin den Auftrag gaben, W. um eine künstlerische Widmung des Buches "Erinnerungen an Lenin" zu bitten. Die Frau erhielt dafür vom MfS 15 Mark.

Moralischer Druck statt Strafverfolgung

Auch der Kreisarzt untersuchte W. – vermutlich ebenfalls unter einem Vorwand. In seinem Gutachten erläuterte er dem MfS W.s Krankengeschichte, schilderte dessen derzeitigen Gesundheitszustand und kam zu dem Schluss: "Der Pat[ient] ist z. Z. behandlungsbedürftig und müsste im Falle einer Haft in ein Haftkrankenhaus eingewiesen werden." Seine körperliche Verfassung dürfte W. schließlich vor einer weiteren Strafverfolgung durch das MfS geschützt haben. Auch scheint W. im Herbst/Winter 1962 keine weiteren Grafiken an seinen früheren Wehrmachtskameraden – den Adressaten der Briefe – geschickt zu haben. Ob die Geheimpolizisten die öffentliche Resonanz einer Verhaftung scheuten, ob sie W. als unwichtigen "Feind" einstuften oder ob es andere Gründe dafür gab, dass ihm nicht der Prozess gemacht wurde, geht aus den überlieferten Akten nicht hervor.

Allerdings setzte das MfS, gemeinsam mit dem Staatsanwalt, W. Ende März 1963 in einer Aussprache massiv unter Druck, "damit er sofort mit seiner Feindarbeit" auföre. Der zuständige MfS-Offizier, zwang W. außerdem, die übrigen Linolschnitte und eine Matrize herauszugeben, sodass die Geheimpolizei Beweise in der Hand hatte, ohne die Postkontrolle der Abteilung M dekonspirieren zu müssen. W. musste schriftlich erklären, sich strafbar gemacht zu haben und "künftig nie mehr mit den Gesetzen der [DDR] in Konflikt zu geraten". Zugleich versuchte der MfS-Offizier, W. auch moralisch unter Druck zu setzen:

„Unser Staat gibt aber Ihnen doch Unterstützung, wir können deshalb Ihre Handlungsweise aber nicht verstehen.“

Tilse
Hauptmann beim MfS

Doch dem MfS gelang es nicht, "W. von unserer Politik zu überzeugen", wie der Offizier abschließend notierte. W. spielte zwar die Bedeutung seiner Grafiken herunter, aber er kritisierte offen den Bau der Mauer und die Waffengewalt gegen Flüchtende und prophezeite, "dass sich die Menschen durch 'unsere Mauern' auch nicht aufhalten lassen und eines Tages [...] die Mauern umrennen" werden.

Publikation zur Serie

Publikation

Verschluss-Sachen

Dokumente, Fotos und Objekte aus dem Archiv der Staatssicherheit

Eine Streichholzschachtel mit vermeintlichem Urangestein, ein Briefumschlag mit "Hetzbuchstaben", ein heimlich kopierter Wohnungsschlüssel - das sind unerwartete Fundstücke aus dem Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit.