Karoline Ausserer: Herzlich willkommen, guten Abend. Ich möchte Sie recht herzlich im Namen des Schwulen Museums begrüßen. Mein Name ist Karoline Ausserer, ich bin zuständig für die Presse-/Öffentlichkeitsarbeit in diesem Haus. Ich freu mich sehr über diese Zusammenarbeit mit der Stasi-Unterlagen Behörde, dass heute diese Veranstaltung zu "Die Aids-Verschwörung – die Desinformationskampagne von KGB und Stasi" hier stattfinden kann. Ich heiße Sie alle recht herzlich willkommen und möchte noch ein Wort verlieren, in welchem Zusammenhang wir diese Veranstaltung halten. Wir haben derzeit eine Ausstellung zu "30 Jahre Positives Erleben" – eine Jubiläumsausstellung mit der Berliner Aids-Hilfe zu deren dreißigstem Geburtstag. Die ist nebenan und kann auch im Anschluss betrachtet werden. Da können Sie gerne hingehen.
Jetzt möchte ich ganz gerne das Wort an Dr. Heidemeyer überreichen und wünsche Ihnen einen schönen, spannenden Abend. Danke schön.
[Applaus]
Dr. Helge Heidemeyer: Guten Abend auch von meiner Seite. Geht das so mit dem Mikrofon? Das war ja grade schwierig, fand ich.
Mein Name ist Helge Heidemeyer. Frau Ausserer hat mich freundlicherweise schon angekündigt. Ich bin der Leiter der Abteilung Bildung und Forschung der Stasi-Unterlagen Behörde. In diesem kleinen, aber wie wir natürlich finden, feinen Bereich in der Behörde, die sich mit den Stasi-Unterlagen befasst; und wir sind der Bereich, der aus den Stasi-Unterlagen wissenschaftliche Studien, Bücher, Bildungsmaterialien und Ausstellungen produziert.
Aids – das ist das dominierende Thema in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre. Nicht nur in der Szene, sondern auch noch deutlich darüber hinaus. Aids hat vor allen Dingen erst mal Ängste freigesetzt, dann aber auch viele positive Kräfte. Nicht nur in der Szene, in der Community selber, sondern in der Gesellschaft insgesamt, nachdem erst mal die ganz großen Vorbehalte überwunden worden sind.
Ängste, Schrecken und Abwehrreaktionen waren vorherrschend in den 80er-Jahren. Da war dann aber erst mal die praktische Hilfe ganz im Vordergrund, die musste erst mal realisiert werden. Aber die Ängste waren auch ein sehr guter Nährboden und Ausgangspunkt für alle möglichen Spekulationen und Theorien. Damit war Aids eben auch ausnutzbar für sehr unterschiedliche Interessen. Die Verunsicherung war ein guter Nährboden für Verschwörungstheorien und genau darum geht es in dem Band, den Douglas Selvage und Christopher Nehring vorgelegt haben. Hier geht es um die steilen Thesen, was den Ursprung des HIV-Virus angeht und wie KGB und Staatssicherheit versucht haben, diese - wie ich sie jetzt nenne - steilen Thesen in der Welt zu verbreiten. Aber das wird uns gleich Douglas Selvage näherbringen, darauf will ich gar nicht eingehen und meine schöne Pflicht ist an dieser Stelle eigentlich nur zu danken.
Danken möchte ich vor allen Dingen den Mitdiskutanten, die sich für den heutigen Abend zur Verfügung gestellt haben: Sabine Weinmann, Kuno Kruse und Christopher Nehring, die unsere charmante und uns seit Langem verbundene Moderatorin, die Journalistin Jaqueline Boysen, gleich noch vorstellen wird. Ganz besonders Danken möchte ich aber auch Frau [phonetisch: Rejall] und Frau [phonetisch: Reichelt], ohne die beiden Kräfte wäre dieser Abend in dieser Form hier nicht durchsetzbar und realisierbar gewesen. Dann aber auch mein Dank an Sie, Frau Ausserer, und das Schwule Museum, das uns in diesem Rahmen zum ersten Mal als Mitveranstalter zur Seite steht. Ich freue mich sehr, dass wir heute mit dem Thema hier sind. Die Anknüpfungspunkte zwischen dem, was die Stasi trieb und dem Schwulen Museum sind vielleicht nicht immer so groß [leises Gelächter], aber vielleicht finden wir doch die ein oder andere Gelegenheit, auch in der Zukunft nochmal diese Zusammenarbeit weiter auszubauen.
Und dann danke ich natürlich Ihnen, die Sie hier doch zahlreich hier hergekommen sind an diesem heutigen Abend und danke für Ihr Interesse und hoffe, dass wir einen spannenden Abend miteinander verbringen können, in dem wir uns noch mal diese Geschehnisse aus der zweiten Hälfte der 80er-Jahre vor Augen führen.
Und einführen wird uns, ich sagte es schon, Douglas Selvage, der Autor der Studie. Douglas Selvage ist Projektleiter in unserer Abteilung Bildung und Forschung und er leitet den Projektbereich, in dem es – ich sag´s mal ein bisschen flapsig - um das Internationale geht, also die Zusammenarbeit der Staatssicherheit mit anderen Geheimdiensten und warum das genau in dem Thema so wichtig ist, wird er gleich noch mal verraten. Douglas Selvage hat in der Yale-University promoviert, war dann Professor an der Universität in Florida und hat auch in den USA an vielen Editionsprojekten mitgewirkt. Douglas Selvage, Ihr Podium.
[Applaus]
Dr. Douglas Selvage: So, besten Dank. Guten Abend meine Damen und Herren. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, um über unsere Publikation zu erfahren und zu diskutieren: "Die Aids-Verschwörung. Das Ministerium für Staatssicherheit und die Aids -Desinformationskampagne des KGB".
Im Oktober 1986 hat der sowjetische Geheimdienst - der KGB - eine Verschwörungstheorie in der Zeitschrift "Literaturnaja Gaseta" was lanciert, die eine weltweite Desinformationskampagne eingeleitet hat. Da wurde behauptet, dass der Erreger für die tödliche Krankheit "Acquired Immune Deficiency Syndrome" oder Aids, heute bekannt als das "Humane Immundefizienz-Virus" oder HIV, in dem Militärforschungslabor des Pentagons in Fort Detrick, Maryland als potenzielle Biowaffe durch Genmanipulation entwickelt worden sei. Dies nennen wir die Fort-Detrick-These. Diese Verschwörungstheorie über den Ursprung von HIV stand im Gegensatz zu der damaligen Hypothese vieler bekannter Aids-Forscher, die inzwischen mehrfach wissenschaftlich belegt werden konnte: Das Vorgänger-Viren in nicht-menschlichen Primaten in Afrika entstanden sind und von dort auf Menschen übertragen wurden.
Hauptgegenstand unserer Arbeit war die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit, das MfS oder Stasi, in der Verbreitung der Verschwörungstheorie in Zusammenarbeit mit dem KGB zu erforschen. Wir sind zu dem folgenden Schluss gekommen: Es gab eine geheime Zusammenarbeit, das heißt eine echte Verschwörung, zwischen dem KGB und dem MfS, die Fort-Detrick-These international zu verbreiten. Diese Desinformationskampagne des KGB, unterstützt vom MfS, war international erfolgreich in ihrer Zielsetzung, die USA zu diskreditieren, anti-amerikanische Stimmung in Afrika aufzupeitschen und Opposition gegen die US-Stützpunkte aus Furcht vor einer Aids-Epidemie zu fördern.
Heute möchte ich aber nicht nur über die Leute der Stasi und die Verbreitung der Aids-Verschwörungstheorie reden, obwohl das der Hauptgegenstand unseres Buchs ist. Eine andere wichtige Frage, die wir auch in unserem Buch behandeln, ist, wie solche Verschwörungstheorien entstehen, wie sie von Geheimdiensten und anderen Akteuren für ihre eigenen Zwecke ausgenutzt werden und was für gefährliche Auswirkungen bzw. Nebenwirkungen sie haben können.
Erstens muss man zum Entstehen der Verschwörungstheorie sagen, dass der KGB keineswegs originär war. Der KGB und die sowjetische Presse waren nicht die Ersten, die die US-Regierung der künstlichen Herstellung des tödlichen Virus beschuldigt hatten. Weil die Aids-Epidemie plötzlich unter Randgruppen der US-Gesellschaft ausgebrochen war - Homosexuelle, Drogenabhängige, Immigranten aus Haiti und Afroamerikaner - entstanden schon in den frühen 1980er Jahren verschiedene Verschwörungstheorien über den Ursprung der Krankheit. Das ist keine Überraschung. Verschwörungstheorien werden häufig von sozial ausgegrenzten Personen einer Gesellschaft entwickelt und verbreitet, die bereits staatlicher und gesellschaftlicher Diskriminierung und echten Verschwörungen zum Opfer gefallen sind. Während Afroamerikaner mehrere historische Ansatzpunkte für Verdachtsmomente gegen die US-amerikanische Regierung ins Feld führen konnten, fanden die meisten Homosexuellen die Reaktion der Reagan-Administration auf die Aids-Epidemie, bei der sie sich als die Hauptbetroffenen sahen, viel zu zögerlich. Es gab außerdem in den 1970er-Jahren im US-Kongress Enthüllungen über die Tätigkeit der CIA sowie Tuskegee-Syphilis-Studie des Gesundheitsministeriums der USA. In der Letzteren wurde von 1932 bis 1972 die Folgen von Syphilis an 399 früher infizierten, verarmten afroamerikanischen Farmpächtern untersucht. Diese Personengruppe, unter ihnen teilweise Analphabeten, wurde nicht darüber informiert, dass 1947 Penicillin als wirksames Mittel gegen die Krankheit festgestellt wurde. Auch eine Behandlung mit dem Wirkstoff erfolgte nicht. Viele der Betroffenen gaben die Krankheit an ihre ungeborenen Kinder weiter. Viele starben, bevor die Studie 1972 eingestellt wurde.
Nach diesen Enthüllungen schienen die verschiedenen Verschwörungstheorien über eine Rolle der US-Regierung in der Aids-Epidemie plausibel, insbesondere für die Ausgegrenzten der US-Gesellschaft. Afroamerikanische und gaye Zeitungen dienten öfter als Publikationsorte für solche Vorwürfe. Der KGB hat seine Verschwörungsthese praktisch aus solchen alternativen Zeitungen in den USA übernommen, aber gab ihr eine neue Wendung, indem er Fort-Detrick als genauen Herstellungsort des Aids-Erregers hinzufügte.
Der KGB erkannte die Probleme mit seiner Verschwörungstheorie, der Fort-Detrick-These. Sie hatten nämlich keine wissenschaftlichen Beweise für ihren Vorwurf oder zumindest keine Wissenschaftler, die ihre These bestätigen können. Außerdem gab es in den Jahren 1985/86 eine konkurrierende Hypothese in den westlichen Massenmedien, dass HIV in grünen Meerkatzen in Afrika entstanden ist und von ihnen auf Menschen übertragen wurde. Abgesehen davon konnte es auch nicht erklärt werden, warum die USA HIV als Biowaffe entwickelt hätte, da das Virus bekannter Weise eine Inkubationszeit von mehreren Jahren hat. Genau deswegen wäre HIV auf dem Schlachtfeld als Biowaffe, im Vergleich zu Anthrax zum Beispiel, völlig nutzlos.
Glücklicherweise für den KGB gab es damals einen ostdeutschen Biologen mit sowjetischer Staatsbürgerschaft, Jakob Segal, der mit entsprechender Erforschung anfing, um die Grüne-Meerkatze-Hypothese zu widerlegen und die Fort-Detrick-These des KGB zu untermauern. Zusammen mit seiner Frau Lilli stellt er überarbeitete Fassung der Fort-Detrick-These auf. Auf Grundlage seiner angeblichen Forschung, hauptsächlich dem Lesen von wissenschaftlichen Zeitschriften und Aufsätzen, aber auch Presseartikeln, bastelte er die folgende Indizienkette zusammen, die Fort Detrick als Ursprungsort von HIV hätte bestätigen sollen. Das Aids-Virus sei 1977 in Fort Detrick durch die Rekombination von Teilen zweier anderer Viren hergestellt worden. Das künstlich entstandene Virus sei dann in der Nähe von Fort Detrick an Gefangenen, verbunden mit dem Versprechen einer vorzeitigen Haftentlassung, getestet worden. Wegen der langen Inkubationszeit des künstlich hergestellten Virus, sei der Krankheitserreger frühzeitig von den Verantwortlichen in Fort Detrick als ungenügend wirksam abgetan worden und die Testhäftlinge seien deshalb als gesund nach ungefähr 12 bis 18 Monaten entlassen worden.
Segal schrieb, und ich zitiere: "Kriminelle, die sich während ihrer langen Haftzeit auf homosexuelle Praktiken eingelassen hatten, begaben sich offensichtlich nach ihrer Entlassung in die nächste Großstadt. Es ist deshalb logisch, dass nach Ende der Inkubationszeit, das heißt gegen 1979, die ersten Aids-Fälle ausschließlich unter homosexuellen Männern in New York registriert wurden." Zitat Ende. Aids verbreitet sich im Anschluss daran, von der homosexuellen Szene in New York ausgehend, in der ganzen Welt.
Wissenschaftlich und einfach logisch gesehen gab es mehrere Probleme mit der Segalschen Fassung der Fort-Detrick-These. Nur um zwei zu nennen: New York ist nicht die nächste Großstadt zu Fort Detrick, sondern Baltimore oder Washington. Keiner der Häftlinge, die angeblich als Versuchskaninchen dienten, wurde jemals gefunden oder, soweit ich weiß, jemals gesucht.
Trotzdem klingt die Segalsche Studie mit dem Titel "Aids - Natur im Ursprung" sehr wissenschaftlich und aus Sicht des KGB erfüllte sie dessen Bedürfnisse. Es gab endlich einen Wissenschaftler, der ihre Fort-Detrick-These angeblich bewiesen hätte. Segal hätte die Herkunft des Virus in Fort Detrick in den USA, anstatt unter nicht-menschlichen Primaten in Afrika, angeblich bestätigt und seine These von einem fehlgeschlagenen Versuch auf Menschen könnte erklären, wie ein so ungenau Eigennutzes Virus wie HIV als potenzielle Biowaffe von den USA entwickelt wurde und auf die Menschen übertragen worden sei.
Wegen des Nutzens der Segalschen Studie für den KGB, ergibt sich die Frage: War sie eine Auftragsarbeit des KGB? Es ist möglich, dass der KGB eine Rolle bei der Aufnahme von Segals Forschung gespielt hat, aber die Akten des ehemaligen KGB in Moskau sind verschlossen. Wir wissen durch Jakob Segals Korrespondenz, dass er zumindest indirekt vom KGB, unter anderem durch den schon erwähnten Artikel in der "Literaturnaja Gaseta" beeinflusst wurde. In 1992 hat ein ehemaliger Offizier der für Aufklärung zuständigen Hauptverwaltung Aufklärung oder HV A des MfS erklärt, dass die HV A praktisch die Feder von Segal geführt habe. Diese Behauptung könnte aber nicht einfach archivalisch belegt oder zurückgewiesen werden, weil ungefähr 90% der Akten der HV A in der Wendezeit zerstört wurden und deshalb nicht im Archiv des BStU liegen.
Was die HVA aber nicht zerstören konnte waren die Akten in den Archiven seiner Brüderorgane, die in den anderen ehemaligen kommunistischen Ländern abgelegt wurden.
Vor drei Jahren hatte Christopher Nehring mich deswegen kontaktiert. Während seiner Forschung für seine Doktorarbeit in Sofia, ist er auf Akten über die Zusammenarbeit der HV A mit der bulgarischen Staatssicherheit im Archiv unserer Partnerbehörde "COMDOS" gestoßen. In diesen Akten gab es unter anderem Informationen über die Aids-Desinformationskampagne. Dank seiner Befunde in Sofia konnte ich Rückschlüsse auf verschiedene Datenbanken und Akten in unserem Archiv ziehen, die sonst fast unmöglich wären. Hier ist, was wir gefunden haben:
1986 erklärte der KGB gegenüber den bulgarischen Genossen, dass er seit dem vorigen Jahr eine Reihe von Aktivitäten in der Aids-Desinformationskampagne gemeinsam mit den deutschen Kollegen durchgeführt hatte. Die HV A war vom KGB beauftragt worden, ihren eigenen wissenschaftlichen Beitrag zur Kampagne zu leisten. Ein HV A-Offizier informierte seinen bulgarischen Kollegen im September 1986, dass zu diesem Zweck, und ich zitiere: "Gelehrte aus der DDR herangezogen worden, wobei einer davon eine wissenschaftliche Studie ausgearbeitet hat, die beweist, dass Aids ein Ausfluss einer biologischen Waffe der USA ist. Die Studie wurde und wird von ihnen bei verschiedenen aktiven Maßnahmen, das heißt Desinformationen, auf der ganzen Welt benutzt." Zitat Ende.
Aus dem Kontext ergibt sich zweifelsfrei, welche wissenschaftliche Studie der Stasi-Offizier meinte, nämlich die Studie von Jakob und Lilli Segal. Obwohl die HV A nie behauptete, die Feder von Segal geführt zu haben, haben wir mehrere Beweise gefunden, dass die HV A verdeckte Hilfe für die Segals geleistet hat. Vielleicht sogar ohne ihr Wissen. Als Beispiel kann man das Publikationsverbot der SED gegen die Mehrheit der ostdeutschen Wissenschaftler nennen, die sich gegen die Segalsche These gestellt hatten. Dieses Verbot kam auf Anregung des MfS.
Bei der internationalen Verbreitung der Segalschen These war die auch HV A ganz aktiv. Sie versah im Juli 1986 ihre Teilnahme an der Aids-Desinformationskampagne mit dem Decknamen "Denver". Sie beschrieb "Denver" auf einem Treffen mit den bulgarischen Kollegen wie folgt und ich zitiere: "Zur Aufdeckung der Gefahren, die der Menschheit aus Forschung, Produktion und Einsatz von biologischen Waffen erwachsen und zur Verstärkung anti-amerikanischer Vorbehalte in der Welt sowie zu den Beziehungen innenpolitischer Auseinandersetzungen in den USA [Husten aus dem Publikum] übergibt die DDR-Seite eine wissenschaftliche Studie und andere Materialien, die belegen, dass Aids aus den USA und nicht aus Afrika stammt und Aids ein Produkt der Viren- und Waffenforschung der USA ist." Zitat Ende.
Wie schon erwähnt, ging es hier ganz offenbar um die Segalsche Studie "Aids – Natur im Ursprung". Ende August 1986 wurde die Studie als hektografierte Broschüre mit dem Titel "Aids – USA homemade evil, not imported from Africa" im Vorfeld des Gipfeltreffens der nicht fachgebundenen oder blockfreien Bewegung in Harare, der Hauptstadt Simbabwes, verteilt. Die Broschüre enthielt auch eine Einleitung eines anonymen Verfassers, der die Segalschen Argumente noch etwas propagandistischer zusammenfasste. Die HV A deutete gegenüber den Bulgaren an, dass die HV A eine Rolle bei dieser Popularisierung der Segalschen Studie spielte. Wenn die HV A eine Rolle beim zustande kommen bei der Verbreitung der Broschüre gespielt hat – was naheliegt – könnte sie diese Aktion als Erfolg für ihre Operation "Denver" und die Aids-Desinformationskampagne des KGB verbuchen. Die "Sunday Mirror" aus Harare hat auf ihrer Titelseite eine Woche vor dem Gipfeltreffen aus der Einleitung der Broschüre zitiert. Die Hypothese des afrikanischen Ursprungs von HIV sei eine riesige und rassistische Täuschungsoperation der USA und stelle einen Versuch dar, den neuesten Dreck des weißen Mannes vor die Tür des schwarzen Mannes zu fegen.
Darüber hinaus erschien eine Rezension der Broschüre in dem simbabwischen Journal "Social Change and Development", die nach dem Gipfeltreffen hauptsächlich in den afrikanischen Medien weiterverbreitet wurde und als zusätzlicher Kanal für die Popularisierung der Fort-Detrick-These diente.
In der Bunderepublik druckte der evangelische Pressedienst epd die Rezension in deutscher Übersetzung als Dokumentation in seinem Informationsdienst "epd – Entwicklungspolitik" nach. Die Redaktion des epd kommentierte dies positiv, ich zitiere: "Die französischen Ärzte Jakob und Lilli Segal führen gewichtige Gründe dafür an, dass das Aids-Virus nicht in Afrika entstanden ist, sondern in US-Labors, die an biologischen Waffen forschen." Zitate Ende.
Nur, weil verschiedenen Publikationen und Autoren die Harare-Broschüre zitiert haben, sollten wir nicht annehmen, dass diese für den KGB oder die HV A bewusst tätig waren. Viele unbewusste und unwissende Multiplikatoren haben die Fort-Detrick-These übernommen und sie selbstständig weiterverbreitet. Das war die Zielsetzung der aktiven Maßnahmen des KGB und der anderen osteuropäischen Geheimdienste, dass ihre Desinformationsthesen sich verselbstständigen und ohne ihr weiteres Zutun verbreitet werden. Das war auch ein Maßstab für ihren Erfolg. In diesem Zusammenhang soll der ostdeutsche Schriftsteller und Regimekritiker Stefan Heym genannt werden. Er spielt eine wichtige Rolle bei der Verselbstständigung der Fort-Detrick-These , ohne dass das MfS irgendeinen direkten Einfluss auf ihn nahm. Er hatte von Segals These erfahren, hielt sie für überzeugend und traf sich mit Jakob Segal, um ein Interview mit ihm zu machen. Heym wollte das Interview im Westen veröffentlichen. Hinter den Kulissen informierte die HV A die Stasi Hauptabteilung XX, die normalerweise die Publikation von Heym verhinderten wollte, damit sie in diesem Fall nichts gegen Heyms Veröffentlichungen im Westen unternehme.
Nachdem andere westdeutsche Zeitungen und Zeitschriften das Interview abgelehnt hatten, druckte schließlich die West-Berliner Tageszeitung oder taz das Interview am 23. Februar 1987 unter dem Titel "Aids – Man-Made in the USA". Der damalige Wissenschaftsredakteur der taz, Kuno Kruse hat das Interview kurz danach in einer Broschüre "Aids-Erreger aus dem Genlabor?" nachgedruckt, zusammen mit der ursprünglichen Studie der Segals und einigen positiven und negativen Stellungnahmen dazu. Die HV A zeigte sich zufrieden mit dem Interview und mit der Broschüre. Obwohl sie keine aktive Rolle im zustande kommen gespielt hat, übergab die HV A ein Exemplar von der Broschüre im Juni 1987 an ihre bulgarischen Kollegen zur weiteren Nutzung in der Desinformationskampagne. Nach der Wende haben sich die taz und Herr Kruse für ihre frühere Rolle in der Verbreitung der Segalschen These entschuldigt.
1988 hat der KGB unter Druck von Michail Gorbatschow seine aktive Teilnahme an der Aids-Desinformationskampagne aufgegeben. Die HV A hat sich aber nicht an das Beispiel des KGB gebunden gefühlt. Sie wollte mit der Desinformationskampagne weiter machen, die sie als eigenen Erfolg und Erfolg des ganzen Ostblocks betrachtete. Wir beschreiben die Einzelheiten in dem fünften Teil unserer Studie. Zusammenfassend: Die Aids -Desinformationskampagne des KGB war erfolgreich in ihrer Zielsetzung die USA international zu diskreditieren. Das geht nicht nur aus den Akten der ehemaligen Geheimdienste des Ostblocks hervor, dies wurde mehrmals durch die US-Regierung öffentlich bestätigt. Der KGB verdankte diesen Erfolg zum Teil auch der HV A des MfS, deren Rolle in der Desinformationskampagne der KGB gegenüber ihren bulgarischen Genossen immer wieder gewürdigt und gelobt hatte.
Die Aids-Desinformationskampagne hat bis heute aber auch unzählige politische und gesundheitliche Nebenwirkungen verursacht. Nach der Wende propagierten nicht nur die Segals weiterhin aktiv ihre Fort-Detrick-These bis zu ihrem Tod, viele Verschwörungstheoretiker im Internet nehmen heute noch Bezug sowohl auf die Publikationen der Segals als auch auf die ihrer Unterstützer. Die Segalsche These des Aids-Ursprungs fand nach der Wende aber auch neue Multiplikatoren. An vorderster Front steht bis heute die linksextremistische marxistisch-leninistische Partei Deutschlands oder MLPD, obwohl Rechtsextremisten ebenfalls mit der Fort-Detrick-These für ihre politischen Ziele werben.
Die Sengalsche These beeinflusst außerdem die schönen Künste. Eine fiktionale Abhandlung der Einzelheiten der Sengalschen These wurde in dem Roman "Die Impfung" im Jahr 1996 veröffentlicht. Im Jahr 2000 wurde der Film "No one sleeps" auf der Berline gezeigt, dessen Handlungsgerüst auf der Sengalschen These aufbaut. Last but not least hat das Duisburger Hip-Hop Duo "Die Bandbreite" 2002 für ein neues Lied die Sengalsche These gerapt und aufgenommen.
Die Weiterverbreitung der "Fort-Detrick-These" dient nicht nur politischen Extremisten, die die Sorge für ihre politischen Ziele ausnutzen, sie gefährdet auch die öffentliche Gesundheit. Die südafrikanische Aids-Forscherin Nicoli Nattrass schreibt, und ich zitiere: "Immer mehr Forschungsarbeiten belegen, dass verschwörungspolitische Überzeugungen zu Aids in den USA und Südafrika mit ungeschütztem Geschlechtsverkehr, der Nichtbefolgung von antiretroviraler Behandlung und einem Nichttesten von HIV verbunden sind." Zitate Ende. Alle drei Verhaltensmuster können tödliche Folgen haben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
[Applaus]