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Blick auf die Fenster der Umwelt-Bibliothek von außen

Stasi-Razzia in der Umweltbibliothek

Unter dem Decknamen Aktion "Falle" führte die Stasi in der Nacht vom 24. zum 25. November 1987 in der Umweltbibliothek eine Razzia durch. Geplant war, Aktivisten bei der Herstellung der nicht durch die kirchliche Lizenz gedeckten Oppositionszeitung "Grenzfall" zu ertappen.

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Die Gründung der Umweltbibliothek

Das Aufkommen der Friedensbewegung in der DDR Ende der 1970er-Jahre gab der gesamten Opposition im Land neuen Schwung. In der evangelischen Kirche, die sich mit kritischen Äußerungen bis dahin eher zurückgehalten hatte, fanden die Oppositionellen den nötigen Freiraum – unabhängig von staatlichen Strukturen. Viele Gruppen entdeckten Anfang der 1980er-Jahre das Umweltthema für sich und erreichten damit die unangepassten jungen Leute in der DDR. Auch die 1986 in Ost-Berlin gegründete Umweltbibliothek wollte unter dem Schutz der Zionskirche einen Zugang zu Themen der Friedens- und Umweltbewegung schaffen. Der Pfarrer der Evangelischen Zionsgemeinde, Hans Simon, stellte den Umweltschützern die Kellerräume des Gemeindehauses der Zionskirche zur Verfügung.

Die UB setzte die Tradition der sogenannten "fliegenden Universitäten", also alternativer Bildungseinrichtungen in Privatwohnungen, fort. Als Teil der basisdemokratischen Alternativbewegungen der DDR bestand ihr Hauptanliegen darin, Öffentlichkeit herzustellen und die Opposition zu vernetzen. Hier wurde "verbotene" oder in der DDR nicht zugängliche Literatur zur Verfügung gestellt, Untergrundpublikationen gedruckt und verbreitet sowie Veranstaltungen zu Themen durchgeführt, die offiziell  tabuisiert waren. So gab es hier zeitkritische westliche Bücher und politische Fachpublikationen über Themen wie Abrüstung und Umwelt.

Neben der Umwelt spielten auch weltanschauliche und politische Themen eine Rolle. Dies führte die Staatssicherheit zu der Annahme, hinter dem Namen "Umweltbibliothek" verberge sich eine verfassungsfeindliche Gruppe.

 

Bücherregale im Keller der Umweltbibliothek.

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Eine Schreibmaschine im Keller der Umweltbibliothek, daneben eine eng beschriebene Manuskriptseite, die bereits auf eine Matrize zum Vervielfältigen übertragen wurde.

Die Umweltbibliothek entwickelte sich zu einem zentralen Treffpunkt oppositioneller Gruppen. Diese sorgten dafür, dass ihre Sammlung von Publikationen kontinuierlich wuchs. Samisdat-Zeitungen, also heimlich vervielfältigte Informationsblätter aus der gesamten DDR, wurden zusammengetragen und zum Lesen zur Verfügung gestellt. Durch die staatliche Druckgenehmigung der Kirchen konnten halblegal und in kleiner Auflage eigene Zeitungen, wie die systemkritischen "Umweltblätter" oder ab Oktober 1989 der "telegraph", entstehen. Jedes Exemplar wurde von Hand zu Hand weitergegeben und erreichte auf diese Weise oft mehrere hundert Leserinnen und Leser. Viele der gedruckten Untergrundpublikationen wurden noch einmal zum Weiterverteilen abgeschrieben und damit weiter verbreitet.

SED-Funktionäre bezeichneten die Arbeit der Umweltbibliothek als Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten und als Verstoß gegen die Trennung von Kirche und Staat. Nach Meinung der Stasi bildete die Umweltbibliothek einen "Schwerpunkt des politischen Missbrauchs kirchlicher Einrichtungen" (BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 3656, Bl. 1).

 

„Hände hoch! Maschinen aus!“ – Die Stasi-Razzia 1987

Nachdem Staatschef Erich Honecker von einem Arbeitsbesuch in der Bundesrepublik zurückgekehrt war, erhielt die Staatssicherheit die Erlaubnis zum offenen Vorgehen gegen die Redaktion der Zeitschrift "Grenzfall". Die Aktion "Falle" wurde nach Aussagen ehemaliger Stasi-Mitarbeiter direkt von Minister Erich Mielke angeordnet. Das MfS hatte es auf vorgeblich "staatsfeindliche" Schriften abgesehen. Mit der Aktion war die Idee verbunden, die Urheber des "Grenzfall" in der Umweltbibliothek "auf frischer Tat" zu ertappen. Das von der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) verbreitete Blatt galt als eine der kritischsten Samisdat-Publikationen in der DDR.

Durch das Vorgehen des MfS in der Nacht vom 24. zum 25. November 1987 wurde die unscheinbare Umweltbibliothek schlagartig deutschlandweit bekannt. Die DDR-Geheimpolizei hatte eine Chance gewittert, das Ende des Treffpunkts einzuleiten. Durch  einen IM, der Mitglied der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) war, falsch informiert, war sich die Staatssicherheit sicher, die Akteure in flagranti beim Druck des "Grenzfall" zu erwischen. Unter dem Decknamen Aktion "Falle" führte die Stasi daraufhin eine Razzia in der Zionskirche durch. Mit den Worten "Hände hoch! Maschinen aus!" wurden die Kellerräume gestürmt und Material sowie Vervielfältigungsgeräte beschlagnahmt.

 

Von der Stasi während der Durchsuchung der Umweltbibliothek angefertigtes Foto von den verhafteten Mitarbeitern der "UB": Bodo Wolff, Till Böttcher, Bert Schlegel, Wolfgang Rüddenklau und Tim Eisenlohr (von links nach rechts).

Der "Grenzfall" wurde allerdings – entgegen der Darstellung in einem Schreiben von Minister Mielke – in dieser Nacht nicht hergestellt. Gedruckt wurden in diesem Moment nur die "Umweltblätter", deren Herstellung als kircheneigene Publikation per se nicht strafbar war. Dennoch wurden die sieben angetroffenen Personen verhaftet, unter denen sich auch ein 14-jähriger befand.

Die Staatssicherheit vermutete in der Folge weitere Aktionen der Opposition, insbesondere von Personen aus dem Umfeld der Zionskirche. Vor allem die Herausgeber des "Grenzfall", Mitglieder der oppositionellen „Initiative Frieden und Menschenrechte“, gerieten nun ins Visier der Geheimpolizei.

Die Stasi bediente sich arbeitsdisziplinarischer Maßnahmen und einer "offensiven politischen Einflußnahme", um oppositionelle Gruppen zu bekämpfen.

Wachsende Bekanntheit in Ost und West

Beschlagnahmtes Transparent, das Demonstranten am Morgen des 27. November 1987 an den Turm der Zionskirche in Berlin gehängt hatten. Die Aufschrift lautet: „Wir protestieren gegen die Festnahmen und die Beschlagnahmung in der Umweltbibliothek“.

In den  Tagen nach der Razzia wurden auch in anderen Städten Oppositionelle vorgeladen oder vorübergehend festgenommen und Materialien beschlagnahmt. Auswärtigen Mitgliedern oppositioneller Gruppen wurde der Besuch Ost-Berlins untersagt, um Solidaritätskundgebungen zu verhindern. Dennoch kam es zu zahlreichen Solidaritätsbekundungen und Protestveranstaltungen.

Vor dem Hintergrund, dass die Festgenommenen beim Druck der "Umweltblätter" anstatt des "Grenzfall" (der nicht den Schutzzusatz "für den innerkirchlichen Gebrauch" trug) erwischt worden waren, mussten sie wieder freigelassen werden. Am 28. November wurden die letzten beiden Personen auf freien Fuß gesetzt. Mit der Aktion "Falle" war die Staatssicherheit erstmals seit den 1950er-Jahren wieder offen in eine Kirche eingedrungen und hatte so dem Ansehen des SED-Regimes weiter geschadet.

 

Insgesamt geriet die Zionskirchaffäre für Partei und Staatssicherheit zum Desaster. Schnell gelang es der Kirchengemeinde und den Oppositionellen, westliche Medien über den Vorfall zu informieren. So wurden die Umweltbibliothek und die Zionskirche über Nacht als Orte der DDR-Opposition bekannt. In der Zionskirche wurden spontan Mahnwachen organisiert.

Abend für Abend war das Kirchenschiff überfüllt, Medien wurden neugierig und vor Ort mit Informationsmaterial versorgt, darunter auch vorsorglich aufgenommenes Videomaterial aus der Umweltbibliothek. Westliche Fernsehsender verbreiteten diese Bilder, woraufhin es landesweit zu Protestaktionen kam – mit unerwarteten Folgen. Die DDR-Führung gab dem öffentlichen Druck nach und ließ die Festgenommenen wieder frei - ein Triumph der wachsenden DDR-Bürgerbewegung und eine folgenreiche Niederlage für die SED-Diktatur. Die Ermittlungsverfahren gegen die vier Umweltbibliotheks-Mitglieder mussten eingestellt werden.

Ein Gruppe von Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Mahnwache steht vor der Zionskirche. Sie protestieren gegen Festnahmen in der Umweltbibliothek Ende November 1987.

Der Bekanntheitsgrad des "Grenzfall" und ebenso der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM), insbesondere durch westliche Medien, stieg durch die Vorfälle beträchtlich. Der relativ glimpfliche Ausgang für die Betroffenen war – neben der Solidarisierungswelle – auch auf intensive Verhandlungen zwischen der Ost-Berliner Kirchenleitung und den zuständigen staatlichen Stellen zurückzuführen. Beide Seiten wollten letztlich keine grundsätzliche Verschlechterung ihrer Beziehungen.

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Ein Jahr später erweiterte die UB ihr Themenspektrum und professionalisierte ihre Arbeit. Durch Spenden konnten schließlich moderne Computer- und Drucktechniken aus dem Westen beschafft werden, was die Stasi wiederum beunruhigte. Die westliche Technik erleichterte den konspirativ arbeitenden Druckern ab Sommer 1988 ihre Arbeit in der Umweltbibliothek. In zwei weiteren Kellerräumen wurden ein aus dem Westen eingeschmuggelter Amiga-Computer sowie zwei gebrauchte Wachsmatrizen-Druckmaschinen installiert. Unter anderem beteiligte sich auch der ehemalige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, daran, die Geräte durch die innerstädtische Grenze zu schleusen. Er hatte solche Transporte von Berlin-Kreuzberg aus mitorganisiert, wo er seit seiner Ausbürgerung aus Jena im Juni 1983 lebte.

Die Zionskirche blieb dem SED-Regime weiter ein Dorn im Auge – auch weil zeitweise weithin sichtbare Protest-Transparente vom Kirchturm wehten. Unter dem Vorwand baupolizeilicher Mängel wurden Turm und Eingangsbereich gesperrt, so dass aufgrund fehlender Fluchtwege keine größeren Veranstaltungen mehr in der Kirche stattfinden durften.

Aber die Aktivitäten der zumeist jungen Leute ließen sich damit nicht stoppen. Sie bemühten sich, andere Kirchen in der Nachbarschaft, wie die Gethsemanekirche oder die Sophienkirche einzubeziehen. Diese boten Freiräume für Veranstaltungen und waren bemüht, dem Druck von SED und Stasi auf Kirchenleitung, Pfarrer und Gemeinderäte zu widerstehen.