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Bildbericht, in den Fotos des Grenzzauns eingeklebt sind, über den Rolf H. 1987 in den Westen floh. Auf einigen Bildern ist ein Fetzen der Uniform des geflüchteten NVA-Gefreiten zu sehen, die während seiner Flucht am Zaun zerriss.

Ein Stofffetzen am Grenzzaun

Das Foto von einem "Stofffetzen am Grenzzaun" zeigt ein Stück Uniform eines 25-jährigen Wehrdienstleistenden aus Merseburg, der am 2. Mai 1987 in der Nähe von Stedtlingen bei Suhl in den Westen fliehen konnte. Mit einer aus Ästen gebauten Leiter kletterte er über den Zaun, wobei er seine Uniform zerriss. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), das die Flucht eines Soldaten als besondere Niederlage erlebte, hielt den Fetzen als "Tatort-Dokumentation" fest.

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Spuren einer "Republikflucht"

Auf den ersten Blick wirkt die Fotografie geradezu surreal. Hat eine Fotokünstlerin oder ein Fotokünstler mit Formen experimentiert und dabei strenge Linien durch eine chaotische Struktur brechen wollen? Ist ein Schatten auf einer sommerheißen Asphaltstraße zu sehen? Zeigt das Foto am Ende gar ein haariges Monster, das von einem Häuserdach herunterkrabbelt? Die Aufnahme ist Teil eines "Bildberichts", den zwei MfS-Leutnants am 2. Mai 1987 bei Stedtlingen anfertigten, einem rund 30 Kilometer westlich vom thüringischen Suhl direkt an der innerdeutschen Grenze gelegenen Dorf. Leutnant Detlef H., der 29-jährige Untersuchungsführer und Fotograf der nur auf den ersten Blick rätselhaften Aufnahme, hatte keine künstlerischen Ansprüche, sondern dokumentierte die Spuren eines "Verbrechens": den "ungesetzlichen Grenzübertritt DDRBRD" des NVA-Gefreiten Rolf H.

Der 25-jährige Wehrdienstleistende aus Merseburg hatte seinen kurz zuvor angetretenen Urlaub genutzt, um die Staatsgrenze Richtung Westen zu überwinden. Er hatte nicht nur verschiedene Uniformteile, darunter zwei Paar Handschuhe, zur Vorbereitung seiner Flucht mitgenommen. Wichtigstes Requisit war vielmehr eine 2 Meter lange Leiter, die er aus Baumästen und kompanieeigenem Draht angefertigt hatte. Damit musste H. bei seiner Flucht die beiden Grenzzäune überwinden.

„Das MfS stellte fest, dass der Mann vor allen Dingen wohl aus Liebe zu seiner Freundin den Schritt in den Westen gewagt hatte.“

Dr. Philipp Springer
Historiker beim Stasi-Unterlagen-Archiv

"Motiv: Liebe[,] Konsumdenken", notierte die Hauptabteilung (HA) I auf der "Vorverdichtungskarteikarte" zu Rolf H. Tatsächlich hatte seine Freundin einige Woche zuvor die Beziehung beendet und war vier Tage später bei einer Jugendtouristikreise nach Nordrhein-Westfalen republikflüchtig geworden. Am 22. April 1987 erfuhr H., der während der Reise seiner Freundin planmäßig vom direkten Grenzdienst zurückgezogen worden war, durch einen Anruf seiner Eltern davon. Wenige Tage später, vermutlich am frühen Morgen des 2. Mai 1987, verschwand auch er – aus Liebe also, wie das MfS wohl richtig vermutete.

Dass H. den Westen mit leicht zerrissener Kleidung erreichte, dürfte ihn nicht weiter gestört haben. Für das MfS gehörte dagegen der Stofffetzen, der an den scharfen Spitzen des Grenzzauns hängen blieb und den Leutnant Heußlinger fotografierte, zu den Details, die penibel erfasst wurden. Auch Fußspuren im Ackerboden, die Konstruktion der Leiter und eine vermutlich vom Flüchtling verlorene Armgelenkkette dokumentierten die MfS-Fotografen in ihrem Bildbericht.

Ermittlungen wegen Fahnenflucht

Das Foto stellt ein Dokument für das überbordende Überwachungssystem des MfS dar. Jede Einzelheit konnte wichtig sein und musste festgehalten werden. Zugleich ist die Aufnahme aber auch ein Dokument des Scheiterns des DDR-Herrschaftssystems – schließlich war wieder einmal ein Angehöriger des Grenzregimes republikflüchtig geworden. Auch hier also, im Kern des Machtapparates, gab es Menschen, die ihre Freiheit jenseits der Grenze suchten, und damit in den Augen der Herrschenden ein besonders schweres Vergehen begingen. "Die Fahnenfluchten", so der Historiker Rüdiger Wenzke, "galten als ein Delikt militärischen Ungehorsams sowie als Treuebruch gegenüber dem sozialistischen Vaterland. Oftmals wurde die Fahnenflucht in besonderer Weise mit anderen 'staatsfeindlichen' Tatbeständen wie Spionage, Terror, Diversion, Sabotage, Hetze usw. in Zusammenhang gebracht."

In den Jahren bis zum Mauerbau war die Fahnenflucht weit verbreitet, auch in den 60er Jahren kam es noch zu zahlreichen Fällen. Folgt man einer Aufstellung der HA I aus dem Jahr 1986, so wurden zwischen dem 1. Januar 1961 und dem 31. August 1986 2.229 Angehörige der NVA und der Grenztruppen fahnen- und zugleich republikflüchtig. Für die 70er und 80er Jahre listet die HA I allerdings nur jährlich etwas mehr als ein Dutzend Fahnenflüchtige auf. Insbesondere der massive Ausbau der Grenzanlagen, aber auch die intensivere Überwachung der Soldaten dürften zu dem Rückgang der Fälle geführt haben.

„Auch nach seiner Flucht verfolgte ihn das MfS durch verschiedene Methoden der Überwachung, insbesondere durch die Kontrolle der sogenannten Rückverbindung in die DDR.“

Dr. Philipp Springer
Historiker beim Stasi-Unterlagen-Archiv

Wie wichtig dem MfS die Fahnenflüchtigen auch nach erfolgreicher Flucht waren, zeigt nicht nur der detaillierte Bildbericht zu Rolf H. Mindestens zwei Jahre lang wurde die "aktive operative Bearbeitung" der geflohenen Männer fortgeführt und nur dann eingestellt, wenn innerhalb dieses Zeitraums keine "operativ bedeutsamen Informationen" ermittelt werden konnten. Vor allem die "Rückverbindungen" in die DDR, also beispielsweise Briefe an Verwandte und Freunde, standen dabei im Blickfeld des MfS. Insgesamt sah sich die HA I jedoch angesichts der Vielzahl von Fahnenflüchtigen, die ja die Überwachung einer weitaus höheren Zahl von möglichen Kontaktpersonen nach sich zog, überfordert. Auch die partiell verbesserten Reisemöglichkeiten für DDR-Bürger erschwerten es dem MfS, die Kontakte unter Beobachtung zu halten, da sich beispielsweise Verwandte der Fahnenflüchtigen bei Reisen in dringenden Familienangelegenheiten mit ihnen im Westen treffen konnten. Eine "lückenlose operative Kontrolle aller Fahnenflüchtigen und ihrer Rückverbindungen durch die Mitarbeiter des zuständigen Referates 4 [könne] nicht gewährleistet werden", klagte etwa ein leitender Mitarbeiter der HA I.

Gegen Rolf H. wurde, wie in solchen Fällen üblich, durch den Militärstaatsanwalt ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Bis zu zehn Jahre Haft drohten ihm nun, allerdings natürlich nur dann, wenn er sich wieder auf das Gebiet der DDR begeben sollte. Doch die Fahnenflüchtigen waren, wie auch das MfS wusste, "eindeutig und nachhaltig instruiert, [keinesfalls den] Transit durch die DDR zu nutzen und auch keine Reisen in andere sozialistische Staaten [...] durchzuführen".

Publikation zur Serie

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Verschluss-Sachen

Dokumente, Fotos und Objekte aus dem Archiv der Staatssicherheit

Eine Streichholzschachtel mit vermeintlichem Urangestein, ein Briefumschlag mit "Hetzbuchstaben", ein heimlich kopierter Wohnungsschlüssel - das sind unerwartete Fundstücke aus dem Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit.