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Hirsebrei für den Generaldirektor

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Video zum Fundstück

Der Leserbriefschreiber wollte es dem Chefredakteur der Suhler Tageszeitung Freies Wort leicht machen. Mit blauem Kugelschreiber markierte er am Rand des Textes den Abschnitt, der ihm bei der Lektüre der SED-Parteizeitung aufgestoßen war, faltete die Zeitungsseite sorgfältig zusammen und legte sie seinem wutentbrannten Schreiben bei.

"Ich könnte noch viele solcher Geschichten erzählen", hatte der Journalist Landolf Scherzer zum Abschluss seiner mehrteiligen Serie "Jahre und Jahrhunderte" im Freien Wort geschrieben. Mit seinen Schilderungen über Leben und Arbeiten der Menschen in der südthüringischen Stadt Schmalkalden hatte Scherzer – getreu der von der SED vorgegebenen Perspektive – darüber berichtet, welche Erfolge des Sozialismus in der Region bereits zu verzeichnen waren und welche Aufgaben es noch zu bewältigen gelte. Auch von Hans Kerst hätte er erzählen können, so Scherzer, "dem Generaldirektor, der früh um halb fünf an der Arbeit ist und abends um neun seine Frau anruft, sie solle die Hirse warmmachen, in einer halben Stunde sei er zu Hause".

„Das kann man im Kindergarten erzählen, aber doch nicht Erwachsenen vorsetzen“

Ein kritischer Zeitungsleser
Leserbrief an die Zeitung "Freies Wort"

Fahndung nach Kritikern mit allen Mitteln

Eine Erfassung von derartigen Materialien gehörte zu den Kernaufgaben der HA XX/2 und der entsprechenden Diensteinheiten in den BV und KD. Mit vielfältigen Methoden untersuchte die Hauptabteilung, die für die "Bearbeitung von 'Schwer- und Brennpunkten der Hetze'" zuständig war, solche Materialien. Sogar der Speichel unter der Briefmarke konnte dabei in den Blick des MfS geraten.  So forderte die Abteilung XX der BV Suhl 1988 eine "Geschlechts- und Blutgruppenbestimmung" von ihren Berliner Kollegen an. Ein Zeitungsleser hatte einen Artikel, in dem der rumänische Staatschef Nicolae Ceaucescu überschwänglich gelobt worden war, mit den Worten kommentiert: "nie zuvor ging es den Rumänen so schlecht wie heute! Wir sind nicht blöd" – und an die Suhler SED-Bezirksleitung gesandt. Sowohl an den "Klebeflächen der Verschlußklappe" des Briefumschlages als auch an der 20-Pfennig-Briefmarke hatten die MfS-Spezialisten "Speichel einer männlichen Person" ermitteln können.

Im Fall des "kritischen Zeitungslesers" aus dem Jahr 1971 unternahm das MfS solche Ermittlungen offenbar nicht. Möglicherweise fehlten zu diesem Zeitpunkt auch noch die technischen Voraussetzungen, um eine derartige Analyse durchzuführen. Immerhin aber erfasste das MfS die "Tatschrift" und hielt sie so für spätere Ermittlungen – etwa beim Auftauchen weiterer Briefe – verfügbar.

Das MfS dürfte besonders die Kritik am System der Presselenkung in der DDR, die den Hintergrund des Leserbriefes bildete, als potenzielle Gefahr – eben als "staatsfeindliche Hetze" – betrachtet haben. Doch den Leserbriefschreiber scheint nicht nur seine Kritik am Mediensystem motiviert zu haben. Zugleich sah er offenbar ein großes Maß an Ungerechtigkeit in der sozialistischen Gesellschaft: Einen bescheiden lebenden Generaldirektor mit hohem Gehalt, der Hirse aß, konnte er sich jedenfalls nicht vorstellen. Ob dieses Empfinden durch persönliche Erfahrungen gespeist war, die ihn dann auch zum Schreiben des Briefes veranlassten, oder ob es "nur" ein allgemeines Gefühl war – Antworten darauf liefert der Brief nicht. Immerhin widersprach die Wahrnehmung erheblicher sozialer Unterschiede der von der Staatsführung proklamierten prinzipiellen Gleichheit der Menschen. Kritik daran rührte an den Grundfesten des Herrschaftssystems.

Publikation zur Serie

Publikation

Verschluss-Sachen

Dokumente, Fotos und Objekte aus dem Archiv der Staatssicherheit

Eine Streichholzschachtel mit vermeintlichem Urangestein, ein Briefumschlag mit "Hetzbuchstaben", ein heimlich kopierter Wohnungsschlüssel - das sind unerwartete Fundstücke aus dem Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit.