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Blick auf das Gebäude des Carl-von-Ossietzky-Gymnasiums

"Rausgeschmissen"

Am 30. September 1988 wurden eine Schülerin und drei Schüler der Carl-von-Ossietzky-Schule in Berlin-Pankow verwiesen. Sie hatten sich offen gegen Militärparaden und Rechtsextremismus in der DDR ausgesprochen. Schule, Leitung der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und Elternrat nötigten, maßregelten und demütigten die Betroffenen. Doch anders als in ähnlichen Fälle, wurde dieser öffentlich. Es regte sich offener Protest.

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Es gibt bereits zahlreiche Publikationen über die politisch verantwortlichen Akteure (Schulrat Schulleiter, FDJ-Leitung) und ihre Verantwortung in dem vorliegenden Fall. Einen knappen Überblick zu den Ereignissen gibt ein Beitrag von Ilko-Sascha Kowalczuk (PDF, 210 KB, Datei ist barrierefrei ⁄ barrierearm). Bislang wenig beachtet blieb allerdings die Rolle des, in diesem Fall auf den ersten Blick wenig auffälligen, Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Die Stasi-Akten geben Auskunft, welche Rolle das MfS dabei spielte, wie die Geheimpolizei die Beteiligten beobachtete und die Ereignisse ausgewertet und verfolgt hat. Einige Beispiele werden hier gezeigt.

Protest gegen Militarismus an der Carl-von-Ossietzky-Schule

Am 13. September 1988 brachte ein Schüler an der Speakers' Corner, einer Diskussionsecke der FDJ in der Carl-von-Ossietzky-Schule Berlin, ein Poster gegen Militärparaden an. 38 Schülerinnen und Schüler setzten ihre Unterschrift unter den Aufruf.

Das MfS verfolgte bereits einige der Schüler, weil diese kurz zuvor (am 11. September 1988) zu offiziellen Feierlichkeiten der "Gedenkkundgebung zur Ehrung der Opfer des Faschismus" selbstgefertigte Transparente gegen nationalistische Tendenzen trugen und an der Speakers’ Corner die Opposition in Polen befürworteten.

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Durch die Unterschriftensammlung und ein dazu gehängtes Gedicht aus der Zeitung "Die Volksarmee" fühlte sich die Schulleitung besonders provoziert und informierte den zuständigen Schulrat. Umgehend ging von dort die Berichterstattung an die Kreisdienststelle des MfS Berlin-Pankow.

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Ausschlussverfahren und Schulverweis der Jugendlichen

Das MfS hatte zur geheimen Kontrolle der Carl-von-Ossietzky-Schule die inoffizielle Mitarbeiterin (IM) "Ilona" eingesetzt. Diese gab nicht nur die Texte der Schüler, sondern auch Stimmungen und Meinungen einzelner Lehrkräfte im Kollegium an die Stasi weiter.

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Unter massivem Druck der FDJ-Grundorganisationsleitung der Schule fanden in den Klassen (die in der DDR immer gleichzeitig FDJ-Gruppen waren) Abstimmungen statt, die Schüler aus dem Jugendverband FDJ auszuschließen. Die Atmosphäre war so demütigend, dass einige Schüler ihre Tränen nicht zurückhalten konnten. Um noch mehr einzuschüchtern, wurden auch Vertreter der Kreisleitung der FDJ, des Patenbetriebes, des Elternaktivs, die Parteisekretärin und der Direktor in die Klassen geholt. Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) im MfS konstatierte, dass die vom Ausschlussverfahren aus der FDJ betroffenen Schüler keine ausführliche Stellung nehmen konnten und ihre Einwände abgetan wurden.

Die Bestrafung der als "Rädelsführer" kriminalisierten Schüler war damit nicht zu Ende. Am 30. September 1988 inszenierte die Schulleitung die Relegierung der Schüler in der Aula der Carl-von-Ossietzky-Schule. Der Schulleiter ließ die Betroffenen nacheinander vortreten und verkündete, dass nun Relegierungsverfahren eingeleitet würden. Nacheinander mussten die Relegierten die Aula verlassen. Ein Schüler stand auf und erklärte, dass er mit der Zustimmung zum FDJ-Ausschluss keinen Schulausschluss für die Betroffenen gewollt habe. Viele der Schülerinnen und Schüler stimmten seinen Worten zu und spendeten Beifall.

Solidaritätswelle für die Betroffenen

Eine Welle der Solidarität mit den Betroffenen veränderte die Situation nach der Relegierung. Die Stimmung an der Schule und im Umfeld der Relegierten entspannte sich nicht. Am 3. November 1988 suchte die herbeigerufene Volkspolizei den Verursacher einer Parole an der Hauswand der Schule. Die an das Schulgebäude gemalte Aufforderung "Weiterfragen!!" und ein Fragezeichen an der Eingangstür rechtfertigten für sie den Einsatz eines Spürhundes. Die Meldung ging an die Dienststelle der Stasi.

Nun setzte das MfS alles daran, die Situation unter Kontrolle zu halten und weitere Solidaritätsbekundungen mit den Schülern zu verhindern. Nach einem Maßnahmeplan der Hauptabteilung XX sollten die relegierten Jugendlichen und ihre Eltern in Gesprächen eingeschüchtert werden. Vor allem wollte die Staatssicherheit weitere öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen zur Ossietzky-Affäre in den evangelischen Kirchen verhindern.

Vom FDJ-Zentralrat kam politische Hilfestellung für die FDJ-Sekretäre. Der Erste Sekretär des FDJ-Zentralrats, Eberhard Aurich, verteilte in allen Bezirksleitungen der FDJ des Landes eine Argumentationshilfe für die befürchteten politischen Diskussionen zum Geschehen an der Carl-von-Ossietzky-Schule.

Solidarische Unterstützung fanden die Schüler hauptsächlich in der evangelischen Kirche. Die Jugendreferentin des Stadtjugendpfarramts Marianne Birthler etwa rief in einem offenen Brief an die Berliner Gemeinden dazu auf, die Vorgänge in der Ossietzky-Schule öffentlich zu diskutieren. In vielen Gemeinden fanden Fürbittgottesdienste und Veranstaltungen statt. Die Bespitzelung durch das MfS war deshalb hier besonders groß.

Eingangstür der Carl-von-Ossietzky-Schule mit aufgemaltem Fragezeichen.
Hauswand der Carl-von-Ossietzky-Schule mit der aufgemalten Losung "Weiterfragen!!"

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Plakat mit der Ankündigung einer Solidaritätsveranstaltung am 27. November 1988 der Bekenntniskirche Berlin-Treptow

Der politische Druck auf die Kirchenleitung der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg wuchs und Stasi-Chef Erich Mielke persönlich unterschrieb Vorschläge zur Beeinflussung von Kirchenvertretern, um weitere Veranstaltungen zu verhindern.

Auch die politische Öffentlichkeit der Bundesrepublik versuchte, den relegierten Schülern zu helfen. So boten namhafte bundesdeutsche Vertreter der Internationalen Vereinigung Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW) nach einem Informationsgottesdienst in der Erlöserkirche Berlin-Lichtenberg ihre Hilfe an. Sie wollten gegenüber den Vertretern in ihrer Organisation die Maßnahmen der DDR-Regierung in einem Brief verurteilen und den Vorfall in einer Zeitschrift des IPPNW bekannt machen.

Die Stasi sammelte alle Beiträge zum Thema aus den westlichen Medien. Täglich kontrollierte sie Zeitungen, Radiosendungen und das Fernsehen. Auch die wörtliche Wiedergabe eines Interviews mit dem bundesrepublikanischen Fernsehen in der Sendung "Kennzeichen D" mit einem Schüler ist in den Akten abgeheftet.

Selbst ein Jahr nach der Ossietzky-Affäre befürchtete das MfS weitere Aktionen der Schülerinnen und Schüler anlässlich des Gründungstages der DDR im Oktober 1989. So stand die Carl-von-Ossietzky-Schule etliche Nachtstunden unter besonderer Beobachtung. Unter dem Decknamen "Geburtstag" überwachte die Staatssicherheit vom 3. bis 5. Oktober den Bereich rund um das Schulgebäude. Sie konnte jedoch keine besonderen Aktivitäten feststellen.

Weitere Informationen

Ilko-Sascha Kowalczuk: Ossietzky-Affäre 1988 (PDF, 210 KB, Datei ist barrierefrei ⁄ barrierearm), in: Hans-Joachim Veen, Bernd Eisenfeld, Hans Michael Kloth, Hubertus Knabe, Peter Maser, Ehrhart Neubert, Manfred Wilke (Hrsg.): Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur, Propyläen-Verlag, Berlin 2000, S. 274-275.

Quellen für die Schule 6: Von der Schule verwiesen - Schülerprotest an der Berliner Carl-von-Ossietzky-Schule 1988

Dokumente zur Ossietzky-Affäre auf einer Themenseite in der Stasi-Mediathek