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BStU, MfS, BV Suhl, AIM, Nr. 235/94, Teil II, Bd. 1, Bl.153

Simson unter Kontrolle

Das auf Waffen- und Fahrzeugproduktion spezialisierte Unternehmen Simson im Thüringer Wald war während seines Bestehens vielfältigen Brüchen ausgesetzt. In der DDR wurde der Fokus vor allem auf Jagdwaffen gelegt.

Auf dem ehemaligen Simson-Werksgelände in Suhl-Heinrichs sprach die Berliner Historikerin Dr. Ulrike Schulz über den Einfluss der DDR-Geheimpolizei auf das einstige Traditionsunternehmen. Sie präsentierte Forschungsergebnisse aus ihrer Studie "Simson. Vom unwahrscheinlichen Überleben eines Unternehmens 1856-1993".

Das auf Waffen- und Fahrzeugproduktion spezialisierte Unternehmen Simson im Thüringer Wald war während seines Bestehens vielfältigen Brüchen ausgesetzt. Das Suhler Unternehmen durchlebte das Kaiserreich, die Weimarer Republik, den NS-Staat, die Sowjetische Besatzungszone und die DDR. Mit jedem dieser gesellschaftlichen Umbrüche veränderten sich auch die Simson-Werke technisch wie organisatorisch.

Viele Jahrzehnte leitete die jüdische Kaufmannsfamilie Simson das Unternehmen, bis sie 1935 durch die Nazis entschädigungslos enteignet wurde. Nach 1945 verengte sich die breite Produktpalette, denn die sowjetischen Besatzungsbehörden strengten die Herstellung von Motorrädern an.

In der DDR wurde der Fokus vor allem wieder auf Jagdwaffen gelegt. Außerdem wurden Mopeds entwickelt und produziert, die mit ihren lyrischen Namen zu gefragten Kultobjekten avancierten, zum Beispiel die Modelle "Spatz", "Star", "Sperber", "Habicht" und am bekanntesten die "Schwalbe". Den konfliktreichen Transformationsprozess von einer staatlichen Planökonomie hin zur Marktwirtschaft zu Beginn der 1990er Jahre überlebte Simson nicht.

 

Der ehemalige Sitz der in der DDR zuletzt "VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk Ernst Thälmann“ genannten Simson-Fabrik in Suhl.

Die Stasi in der Wirtschaft

Im Saal des ehemaligen Simson-Kulturhauses referierte Dr. Ulrike Schulz vor rund 100 Anwesenden über einen besonderen Aspekt der Unternehmensgeschichte. Sie beleuchtete die Tätigkeit, Organisation und Wirkungsweise der Stasi in den Simson-Werken. Die Wissenschaftlerin legte zunächst dar, dass von Beginn an die "Sicherung" der DDR-Wirtschaft einen Schwerpunkt der Tätigkeit des MfS darstellte. Denn Betriebe in der DDR wurden besonders dicht und mit viel Personal überwacht. Ferner richtete die Stasi in besonders sicherheitsrelevanten Wirtschaftsobjekten sogenannte Objektdienststellen ein oder sicherte wichtige Betriebe mit Operativgruppen ab.

Obwohl die Stasi zu keiner Zeit eine Objektdienststelle bei Simson unterhielt, leitete die ostdeutsche Geheimpolizei bereits zu Beginn der 1950er Jahre eine Vielzahl von inoffiziellen Zuträgern an. 1951 legte das MfS einen Gruppenvorgang "Simson" an. Darin ging es um 120 Betriebsangehörige, die für zwei Stunden die Arbeit niedergelegt hatten. Dadurch, so stellte die Stasi akribisch fest, konnten 36 Jagdgewehre nicht produziert werden.

Bis zur Friedlichen Revolution 1989 waren mehrere Stasi-Diensteinheiten für die Suhler Werke zuständig, die jeweils auf ein umfassendes Netz von Inoffiziellen Mitarbeitern zurückgreifen konnten.

Stasi-Zuträger in allen Betriebsbereichen

Die Inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi fanden sich in allen Betriebsbereichen: In den Werkskantinen, im Betriebsschutz, der Buchhaltung, der Kaderabteilung, der Planung, der Forschung oder der Produktion. Ein besonderer Fokus der jahrelangen Recherchen im Suhler Stasi-Unterlagen-Archiv lag auf den Leitungsebenen, also bei den General-, Betriebs und Kombinatsdirektoren. Wie hoch war die IM-Dichte dort? Inwieweit zeigen sich in den Spitzel-Berichten Stimmungen, Entwicklungen oder Konflikte, die sich nicht in den offiziösen Verlautbarungen finden lassen? Dr. Schulz arbeitete  heraus, dass sich unter den Generaldirektoren keinerlei Inoffizielle Mitarbeiter des MfS nachweisen ließen. Stattdessen warb die Stasi inoffizielle Zuträger vorzugsweise im Umfeld der Generaldirektoren sowie unter den Kombinatsdirektoren an.

Ein besonders fleißiger Spitzel war "Heinz Weber". Er wurde 1975 zunächst für die Kreisdienststelle Suhl und später für die Abteilung XVIII ("Sicherung" der Volkswirtschaft) der Suhler MfS-Bezirksverwaltung angeworben. Der gelernte Werkzeugmacher war seit 1957 im VEB Simson tätig, bildete sich zum Diplomingenieur fort und stieg schlussendlich bis zum "Leiter der Inspektion des Generaldirektors" auf. Unter dem Decknamen "Heinz Weber" schrieb er seitenlange Berichte an seinen Führungsoffizier. Zehn dicke Berichtsbände zeugen von seinem emsigen Wirken. Die Stasi legte in einem Auskunftsbericht fest, wie sich der Führungsoffizier für einen Treff anzukündigen hatte. Dieser sollte telefonisch oder mündlich fragen: "Ich komme von Heinz Weber. Was soll mit der Lieferung für Chile geschehen?"

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In seiner Funktion als "Sicherheitsbeauftragter" hatte "Heinz Weber" Einsicht in nahezu alle Betriebsbereiche. Der IM führte Inspektionen durch und war bei diversen Leitungssitzungen anwesend. Anhand seiner zehn IM-Berichtsbände lässt sich nachvollziehen, dass sich die Stasi für die unterschiedlichsten innerbetrieblichen Aspekte interessierte. Der IM informierte das MfS über Planerfüllungszahlen, Geheimnisschutz, ausschweifende Betriebsfeiern, Werkshavarien, Neuentwicklungen, Absatzkrisen oder Produktionsausfälle. Durch seinen Führungsoffizier bekam er zudem Aufträge, um Informationen über Betriebsangehörige zusammenzutragen. Diese, durch "Heinz Weber" gesammelten "Erkenntnisse", flossen dann in Operative Personenkotrollen (OPK) der Stasi ein.

Der Führungsoffizier der Abteilung XVIII der Suhler MfS-Bezirksverwaltung schätzte die Arbeit seines inoffiziellen Zuträgers. Er stellte zufrieden fest: "In der bisherigen Zusammenarbeit hat der IM seine unbedingte Treue, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit zum MfS unter Beweis gestellt. Er ist stets einsatzbereit und informationswillig."

Viele Nachfragen ehemaliger Betriebsangehöriger

Nach dem Vortrag gab es aus dem Auditorium viele Nachfragen und Wortmeldungen. Ein Bürger wollte wissen: "In meinen Unterlagen taucht das Kürzel FIM auf. Was bedeutet diese Abkürzung?" Die Leiterin des Suhler Stasi-Unterlagen-Archivs, Monika Aschenbach, erklärte, dass es sich um einen "Führungs-IM" handelte, der mehrere Inoffizielle Mitarbeiter im Werk anleitete und die gesammelten Informationen an das MfS weitergab. Zudem sollte er nach neuen Spitzel-Kandidaten Ausschau halten.

Ein ehemaliger Betriebsangehöriger interessierte sich dafür, ob die Stasi auch auf die Betriebssportabteilung Einfluss nahm. Dr. Schulz wies darauf hin, dass sie sich mit derartigen Facetten nicht beschäftigt habe, sie sich dies aber sehr gut vorstellen könne. Sie fügte gleichzeitig hinzu, dass sich das MfS massiv in Personalentscheidungen einmischte. So z.B. bei der Bestätigung der Reise- oder Messekader, der Auswahl der Betriebsschutzwachen oder bei der Besetzung einer Direktorenstelle. Ein Besucher stellte die Frage, ob und wie die Stasi in wirtschaftliche Abläufe eingegriffen habe. Frau Dr. Schulz erläuterte, dass die Stasi Einsicht in die Export- und die Importbilanzen nahm und "auffällige" Aspekte den zuständigen SED-Gremien mitteilte. Ferner wurde das MfS in der Materialwirtschaft aktiv und untersuchte Diebstähle sowie Versorgungsengpässe.

Auch Teile für die Kalaschnikow produziert

Ein ehemaliger Simson-Mitarbeiter führte aus, dass unter der Belegschaft Gerüchte kursierten, wonach die Stasi bei Simson bzw. im späteren "VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk" spezielle Produktionsbereiche für Waffen unterhielt. Dies, so der ehemalige Simson-Mitarbeiter, soll weit über das zivile Maß an Sport- und Jagdwaffen hinausgegangen sein. Im Suhler Werk war es ein "offenes Geheimnis", dass diverse Komponenten für das Standardgewehr des Warschauer Pakts, die "Kalaschnikow", produziert wurden.

Ferner unterhielt das MfS mit ihrer Abteilung "Bewaffnung und chemischer Dienst" einen konspirativen Bau auf dem Werksgelände. Die Suhler Einrichtung, legendiert als "NVA-Dienststelle", war teilweise an der Entwicklung, Produktion und Erprobung von geheimen Stasi-Waffen beteiligt. Exemplarisch sei hier das "Scharfschützengewehr 82" erwähnt, welches nach seiner Indienststellung diversen "operativen" MfS-Diensteinheiten zur Verfügung gestellt wurde.