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"Stell Dir vor, es ist Wahl, und keiner geht hin!"

Am 7. Mai 1989 fanden in der DDR Kommunalwahlen statt. Die Bürgerinnen und Bürger waren aufgerufen, den Kandidatinnen und Kandidaten der Nationalen Front ihre Stimme zu geben. Doch bereits im Vorfeld brachte die Bevölkerung verstärkt ihren Unmut über die SED-Regierung zum Ausdruck. Auch nach der Wahl regte sich Protest angesichts der offensichtlichen Wahlfälschung. Die Staatssicherheit dokumentierte die Reaktionen und leitete Maßnahmen ein, wie das Beispiel Dresden zeigt.

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"In Vorbereitung der Kommunalwahlen am 7.5.1989 forcieren feindlich-negative Kräfte ihre Aktivitäten und Versuche, die ordnungsgemäße Durchführung der Wahlen zu stören, deren demokratischen Charakter zu diffamieren und den Bürgern die Forderung nach mehr 'Demokratie und Offenheit' zur Durchsetzung feindlicher Zielstellungen zu suggerieren."

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Diese auf den ersten Blick recht nüchterne Lageeinschätzung für den Bezirk Dresden ließ die Bezirksverwaltung (BV) der Staatssicherheit Dresden hinter den Kulissen ordentlich rotieren. Alle Hebel waren in Bewegung zu setzen, um die "Pläne und Absichten" der – wie die Stasi es nannte – "Gegner" und "feindlich-negativen Kräfte" im Bezirk Dresden rechtzeitig "aufzuklären". Und – was aus Sicht der Staatsführung noch viel wichtiger war – die geplanten Aktionen "durch Einleitung der erforderlichen Maßnahmen […] vorbeugend zu verhindern."

Proteste in nicht gekanntem Ausmaß

Letzteres gelang allerdings nur bedingt. Der Leiter der BV Dresden, Horst Böhm, musste im Nachgang der Wahl ernüchtert konstatieren, dass im Zusammenhang mit der Kommunalwahl 1989 "in einem bisher nicht gekannten Ausmaß […] Hetzzettel angefertigt, vervielfältigt und verbreitet" wurden. Der Bezirk Dresden bildete dabei keineswegs eine Ausnahme.

In der gesamten DDR war es im Vorfeld der Wahlen zu verschiedenen "Vorkommnissen" gekommen, wobei die Stasi regionale Schwerpunkte ausmachte. Zu den meisten Vorfällen kam es in der Hauptstadt Berlin, den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Dresden, Leipzig, Halle und Magdeburg. Die Art und Weise der "Vorkommnisse" glich sich dabei: Bei den Wahlkommissionen, Amtsträgerinnen und Amtsträgern gingen zum Teil anonyme Schreiben und Anrufe ein, zahlreiche "Hetzlosungen" und "Hetzzettel" wurden verbreitet.

Ziel der Kritik waren das Wahlsystem und die Missstände in der DDR. Der Stasi war dabei durchaus bewusst, dass derartige Proteste nur die Spitze des Eisbergs waren. Unter der Oberfläche wurden zahlreiche weniger deutlich artikulierte "Wahlvorbehalte" sichtbar, die beispielsweise in Form der Verweigerung der Annahme der Wahlbenachrichtigungen oder der Ankündigung der Wahlverweigerung zum Ausdruck kamen. Die Stasi beobachtete daher sehr genau die Stimmung im Vorfeld der Wahlen und versuchte mit Hilfe von Inoffiziellen Mitarbeitern den Ursachen der "Wahlvorbehalte" auf den Grund zu gehen.

Ursachenforschung im Ministerium für Staatssicherheit

In den entsprechenden Informationsberichten, die der Leiter der BV Dresden Horst Böhm in regelmäßigen Abständen für den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden Hans Modrow erstellte, wird die Bandbreite der Ursachen deutlich. Unzufriedenheit herrschte demnach vor allem in Bezug auf die Wohnungspolitik, die Infrastruktur, die Versorgung mit "Waren des täglichen Bedarfs und Konsumgütern", die medizinische Betreuung, den Umweltschutz und die Müllentsorgung. Hinzu kam politisch motivierte Kritik, z.B. an den existierenden Reisebeschränkungen oder dem Wahlsystems mit seinen starren Wahllisten. Nicht zuletzt spielten auch religiöse Gründe eine Rolle.

All dies ließ eine nicht unbeträchtliche Zahl an Wahlverweigerungen und ungültigen Stimmen erwarten, welche die üblichen Wahlergebnisse von über 95 Prozent in unerreichbare Ferne rücken ließen. Dem war mit der üblichen Wahlfälschung auch nicht beizukommen, da eben diese zunehmend in den Fokus der Kritik am Wahlsystem der DDR geriet. So forderten verschiedene Einzelpersonen, Initiativgruppen und kirchliche Kreise eine bessere Informationspolitik im Vorfeld der Wahlen um "demokratische Rechte auf Mitgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse" auch richtig wahrnehmen zu können. Sie wollten den "gesamten Wahlvorgang durchschaubar" machen und so den "Verdacht einer Manipulierung" der Wahlergebnisse ausräumen.

Die Akteurinnen und Akteure nahmen die in der Bevölkerung hinlänglich bekannte Wahlfälschung nun also nicht mehr stillschweigend hin, sondern erhoben sie zum Hauptaktionsfeld politisch motivierter Wahlkritik. Das ging erstmals so weit, dass die Bürgerinnen und Bürger direkt aufgefordert wurden, sich an der Stimmenauszählung zu beteiligen und die Wahlergebnisse damit quasi zu kontrollieren. Vor allem die Landessynode Sachsens, eine Art Kirchenparlament, wies darauf hin, dass das "Wahlgesetz jedem das Recht" gebe, "an der Auszählung der Stimmen teilzunehmen".

Bürgerinnen und Bürger zählen mit

Dieser Aufforderung kamen im Bezirk Dresden zahlreiche Bürgerinnen und Bürger nach. Sie verfolgten in über 200 Wahllokalen der Stadt die Auszählung und überprüften damit etwa 26 Prozent der insgesamt im Stadtgebiet Dresden abgegebenen Stimmen. Dabei stellten sie eine deutliche Diskrepanz zwischen den amtlichen und den von ihnen vor Ort selbst erhobenen Zahlen fest.

Die Wahlkommissionen hatten deutlich mehr Ja-Stimmen und weniger Gegenstimmen als ausgezählt gemeldet. Auch die Wahlbeteiligung war durch die Streichung potentieller Nichtwählerinnen und Nichtwähler von den Wählerlisten geschönt worden. Die Stasi nahm dabei keine aktive, sondern eher eine beobachtende Rolle ein. Angesichts dieser offensichtlichen Wahlfälschung sahen sich verschiedene kirchliche Kreise, aber auch Einzelpersonen dazu veranlasst, zu handeln. Sie richteten sich mit entsprechenden Eingaben an den Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission, das Zentrale Wahlbüro der DDR, den Generalsekretär des ZK der SED oder regionale Staatsorgane.

So forderte beispielsweise die evangelisch-lutherische Kirchgemeinde in Zittau in ihrer Eingabe an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR die "Prüfung der Gültigkeit der Wahl in der Stadt Zittau". Der Dresdner Superintendent Christof Ziemer forderte in einem Schreiben an den Oberbürgermeister der Stadt die "Überprüfung und Richtigstellung des Gesamtergebnisses für den Bereich der Stadt Dresden". Selbst einige am Wahltag in Dresden und den Kreisen Kamenz und Sebnitz "als Funktionäre eingesetzte Personen" äußerten "Zweifel an der richtigen Aufbereitung des Wahlergebnisses". Darüber hinaus wurde Strafanzeige wegen des Verdachts der Wahlfälschung erstattet.

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Die Stasi reagierte auf derartige Eingaben mit der Einleitung von Ermittlungsverfahren wegen öffentlicher Herabwürdigung. Die Einsprüche sollten von den Stellen, bei denen sie eingegangen waren, als unbegründet zurückgewiesen werden. Angeblich sei das "zugrundeliegende Zahlenmaterial", also das unabhängige Auszählungsergebnis, "rechtswidrig" erhoben worden. Zudem hätten "ausländischen Medien" die Zahlen mit "verleumderischen", "gegen die DDR gerichteten" Absichten lanciert.

Weder das eine noch das andere entsprach der Realität. Die Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter handelten absolut gesetzeskonform. Denn das Wahlgesetz der DDR sah eine öffentliche Auszählung der Stimmen vor.

Stasi ohne Macht

Letztlich stand die Stasi den Eingaben und den Protesten mehr oder weniger machtlos gegenüber. Ihr blieb nur die Registrierung, Beobachtung und Vernehmung der Akteurinnen und Akteure. Verhindern konnte sie die sich im Nachgang der Wahl mehrenden Proteste, die schließlich in die Ereignisse des Herbstes 1989 mündeten, nicht. Dem mit der offensichtlichen Wahlmanipulation noch verstärkten Legitimationsverlust der DDR-Regierung war mit den Mitteln der Stasi nicht mehr beizukommen. Die im Zuge der Wahlen immer sichtbarer werdenden Risse in der Gesellschaft konnten nicht mehr kaschiert werden.

Nach der Friedlichen Revolution rückten die an den Kommunalwahlen vom Mai 1989 beteiligten Funktionäre nochmals in den Blick der Öffentlichkeit. Sie mussten sich vor Gericht verantworten. So mussten beispielsweise Hans Modrow und der Dresdner Bürgermeister Wolfgang Berghofer auf der Anklagebank Platz nehmen. Die von den Bürgerinnen und Bürgern der DDR angeprangerte und durch unabhängige Auszählungsergebnisse untermauerte Wahlfälschung wurde somit auf juristischem Weg auch im Nachhinein nochmals bestätigt.

Es war nicht zuletzt der Mut der Bürgerinnen und Bürger, die sich 1989 für das Recht auf freie Wahlen und demokratische Mitbestimmung einsetzten und die Wahlmanipulation nicht mehr schweigend hinnahmen. Sie ebneten den Weg für die ersten freien Wahlen im Jahr 1990.