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Einlieferungsanzeige von Paul Merker. Rechts befindet sich ein Passbild von Merker.

Vom Spitzenkader zum "imperialistischen Agenten"

Nach zweieinhalb Jahren Untersuchungshaft wurde der SED-Funktionär Paul Merker 1955 vom Obersten Gericht der DDR zu einer achtjährigen Zuchthausstrafe verurteilt, weil er angeblich staatsfeindliche Verbindungen unterhalten habe. Pläne, ihn zum Hauptangeklagten eines großen politischen Schauprozesses zu machen, waren bereits im Frühjahr 1953 gescheitert.

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Paul Merkers tiefer Fall

Das Urteil war gleichsam eine Verlegenheitslösung. Am 30. März 1955 erhielt das ehemalige Mitglied des SED-Politbüros Paul Merker in einem Geheimprozess eine Strafe von acht Jahren Zuchthaus. Der 1. Strafsenat des Obersten Gerichtes der DDR unter dem Vorsitz seines Vizepräsidenten Walter Ziegler warf Merker in der strafrechtlich substanzlosen Urteilsbegründung u. a. vor, er unterhalte Verbindungen, die "gegen den Bestand der Deutschen Demokratischen Republik" gerichtet seien. Diese und andere Beschuldigungen, die sich zum Teil auf Zeiten lange vor der DDR-Gründung bezogen, entbehrten jedoch jeglicher Grundlage.

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Merker hatte zu dem Zeitpunkt bereits 28 Monate im zentralen Untersuchungsgefängnis des MfS in Berlin-Hohenschönhausen hinter sich. Die Pläne, ihn zum Hauptangeklagten eines großen politischen Schauprozesses zu machen, waren jedoch bereits im Frühjahr 1953 gescheitert. Seine Verurteilung zwei Jahre später sollte nur noch die Tatsache legitimieren, dass man ihn so lange eingesperrt gehalten hatte.

Der Westemigrant im Politbüro fällt in Ungnade

Paul Merker war maßgeblich am Aufbau der SED-Herrschaft in Ostdeutschland beteiligt. Wie viele der Gründerväter der DDR war er schon in der Weimarer Zeit ein hochrangiger kommunistischer Politiker: Mitglied des Politbüros der KPD, Abgeordneter des Preußischen Landtages sowie Reichsleiter der sogenannten Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO). Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wirkte er ab 1936 zunächst in der Exil-Führung der KPD in Frankreich. 1942 floh er dann nach Mexiko, wo er als KPD-Politbüromitglied und Sekretär des Lateinamerikanischen Komitees der Bewegung "Freies Deutschland" die bestimmende Figur in der kommunistischen Emigration war. Nach Kriegsende wurde er 1946 ins Zentralsekretariat der SED berufen und blieb auch 1949 – nach dessen Umwandlung zum Politbüro – Mitglied im höchsten Parteigremium.

Im Gebäude der DKW (Deutsche Wirtschaftskommission) in der Leipziger Straße fand am 7.10.49 die 9. Tagung des Deutschen Volksrates statt, auf der das Manifest der Nationalen Front des demokratischen Deutschland verkündet wurde. Wilhelm Pieck verliest das Manifest. 1. Reihe von links nach rechts: Bernhard Koenen, Otto Grotewohl, Frau Stark-Wintersig, Ernst Goldenbaum, Hermann Kastner, Wilhelm Pieck, Otto Nuschke, Lothar Bolz. 2. Reihe v.l.n.r.: Paul Merker, Friedel Malter, Bernhard Göring, Prof. Brugsch, Prof. Friedrich.

Am 22. August 1950, nicht einmal ein Jahr nach der Staatsgründung der DDR, wurde Merker zusammen mit anderen SED-Funktionären aus der Partei ausgeschlossen. Dieser Vorgang stand im Zusammenhang mit dem Budapester Schauprozess gegen den ungarischen Außenminister Lázló Rajk und andere hohe Funktionäre. Bei diesem Prozess wurde Noel Field, der ehemalige Leiter der Flüchtlingshilfsorganisation "Unitarian Service Committee" zur Schlüsselfigur einer imaginären Spionageorganisation stilisiert, die hochrangige Funktionäre einschloss. Das Verschwörungskonstrukt hatte eine ausgeprägt antisemitische Tendenz und diente der politischen Säuberung sowie der Schaffung von Sündenböcken, nicht nur in Ungarn.

Auch Merker hatte im Exil Kontakt zu Field gehabt. Anders als andere "Belastete" wurde er aber zunächst nur aus der Partei ausgeschlossen und nicht verhaftet, wahrscheinlich weil der DDR-Staatspräsident Wilhelm Pieck seine Hand über ihn hielt. Zwei Jahre später aber, am 30. November 1952, nahm die Stasi auch Merker fest.

KODAK Capture Pro Stitched TIF File

Der Zeitpunkt, drei Tage nach dem Urteil im Prager Schauprozess gegen den Generalsekretär der tschechoslowakischen KP Rudolf Slánský und andere, in dem die konstruierte Verschwörung um Noel Field ebenfalls herangezogen wurde, war nicht zufällig. Sechs Wochen nach der Verhaftung dokumentiert ein Vernehmungsprotokoll die antisemitische Tendenz der Beschuldigungen auch im Fall Merker.

"Die Vernehmer vergeuden nur ihre Zeit mit mir"

Merker wusste genau, welche Rolle man ihm zugedacht hatte: die des Hauptangeklagten in einem ähnlichen Schauprozess wie in Budapest und Prag. Er war daher gut auf das vorbereitet, was ihn in der Untersuchungshaft erwartete. Die Stasi würde versuchen, ihn dahin zu bringen, sich selbst und andere kommunistische Kader als "imperialistische Agenten" zu beschuldigen. Die ersten Monate wurde Merker vom stellvertretenden Leiter des MfS-Untersuchungsorgans Kurt Richter und einem sowjetischen Offizier verhört. In dieser Zeit musste sich Merker die Zelle mit einem ehemaligen hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter teilen, der wegen Gefangenenmisshandlung inhaftiert und als "Kammeragent" geworben worden war. Merker ahnte, dass sein Zellengenosse für das MfS arbeitete. Trotzdem sprach er sehr offen mit ihm, wohl um auf diese Weise auf einer zweiten Ebene mit seinen Peinigern zu kommunizieren.

Die in den Stasi-Akten überlieferten Aufzeichnungen des Zellenspitzels sind aufschlussreiche Dokumente und scheinen Merkers Worte weitgehend authentisch wiederzugeben:

„Die Vernehmungen im Zimmer 28 werden von einem Deutschen und einem Sowjetbürger gleichzeitig durchgeführt. Dabei sind Schimpfworte an der Tagesordnung. Ich bin mit Erschießen, 15 Jahren Zuchthaus und allem Möglichen bedroht worden. Als ich zu beiden Vernehmern mehrmals sagte, dass der Tod für mich eine Erlösung ist und ich mich nicht fürchte, drohten sie mir meine Familie ebenfalls zu vernichten. Das geht nun schon sieben Wochen so und jeden Tag wiederholt sich das Gleiche.“

Paul Merker (laut Bericht eines Zellengenossen vom 18. Januar 1953)
BStU, MfS, AU, Nr. 192/56, Bd. 3, Bl. 206

Um ihn mürbe zu machen, wurde Merker nächtelang vernommen. Doch er blieb standhaft, weil er wusste, dass er sich sonst nur selbst verstricken und belasten würde.

"Wenn ich auch alle Ursache dazu habe, mit Personen abzurechnen, um deren Willen ich hier bin, mache ich es nicht. Denn dann werden immer neue Personen mit in den Kreis hineingezogen und ich bin dann das Zentrum dieser Gruppe. Erledigt bin ich so und so, darum werde ich auf meinem Standpunkt bleiben. […] Denn, wenn es nach dem Willen der Staatsorgane glatt gehen soll, wollen sie mir einen großen Prozess machen und alle Widersacher mit beseitigen. So aber wird nichts daraus."

Stalins Tod am 5. März 1953 war für Merker eine glückliche Fügung. Die neue sowjetische Führung wandte sich von den extremsten repressiven Exzessen nach und nach ab. Das spürte auch Merker in der Stasi-Haft. Allmählich ließ der Druck der Vernehmer nach. Schon im April 1953 tauchte der sowjetische Offizier bei den Verhören nicht mehr auf. Merker sagte zu seinem Zellenspitzel, er habe den Eindruck, seine Untersuchung ginge "Wasser saufen". "Die Vernehmer vergeuden nur ihre Zeit mit mir."

Ein Verlegenheitsurteil mit antisemitischen Untertönen

Tatsächlich stellte sich bei der Staatssicherheit Ratlosigkeit ein, wie man mit dem prominenten Häftling weiter verfahren sollte. Merker widerrief die wenigen selbstbelastenden Aussagen, die er in den ersten Wochen seiner Haft gemacht hatte. Ein Sachstandsbericht vom 19. Januar 1954 enthielt ein Sammelsurium strafrechtlich vollkommen irrelevanter Verdächtigungen, die bis in die Weimarer Zeit zurückreichten. Er vermerkte jedoch auch, dass Merker weiterhin "energisch" bestritt, "parteifeindlich oder verbrecherisch gehandelt zu haben".

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Am 31. Mai 1954 verfasste die Stasi trotzdem einen Schlussbericht und fünf Wochen später informierte die Oberste Staatsanwaltschaft die SED-Führung über den Sachstand und darüber, dass sie gegen Merker "unter Ausschluss der Öffentlichkeit" verhandeln und 15 Jahre Zuchthaus fordern wolle.

Als am 28. Oktober 1954 Noel Field in Ungarn aus der Haft entlassen wurde, war das Beschuldigungskonstrukt gegen Merker eigentlich Makulatur. Noch am selben Tag beauftragte die Sicherheitskommission des SED-Politbüros den damaligen Stasi-Chef Ernst Wollweber, "alle Vorgänge […] im Zusammenhang mit Field noch einmal überprüfen zu lassen". Doch letztendlich ließen sich die deutschen Genossen in ihrem Verfolgungseifer nicht beirren.

Am 4. März 1955 beschloss die Sicherheitskommission den Fall "der Justiz zur Aburteilung zu übergeben", Das Strafmaß dürfe "nicht unter 6 Jahren sein". Anklageschrift und Urteil enthielten den Namen Field nicht mehr, aber Merkers Verbindungen zu den Verurteilten des Prager Schauprozesses vom November 1952 blieben trotzdem der Hauptbelastungspunkt. Auch der antisemitische Charakter der Vorgänge – von seinen Vernehmern war Merker als "Judenknecht" beschimpft worden – zeigten sich noch in der Urteilsbegründung. Ihm wurde vorgeworfen, "die ausnahmslose Entschädigung aller aus Deutschland emigrierten Juden" gefordert und "zionistische Tendenzen" vertreten zu haben.

Die Verurteilung Merkers hatte nicht lange Bestand. Bereits im Januar 1956, noch vor dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, der die "Entstalinisierung" einleitete, wurde er begnadigt und aus der Haftanstalt Brandenburg-Görden entlassen. Dieselben Richter, die ihn im Auftrag der Partei verurteilt hatten, hoben am 13. Juli 1956 das Urteil im Auftrag der Partei wieder auf.

Literatur

  • Wolfgang Kießling: Partner im "Narrenparadies". Der Freundeskreis um Noel Field und Paul Merker, Berlin 1994.
  • Jeffrey Herf: Antisemitismus in der SED. Geheime Dokumente zum Fall Paul Merker aus SED- und MfS-Archiven. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42 (1994) 4, S. 635–667.
  • Bernd-Rainer Barth, Werner Schweizer (Hg.): Der Fall Noel Field. Schlüsselfigur der Schauprozesse in Osteuropa; Bd. 1: Gefängnisjahre 1949–1954, Berlin 2005; Bd. 2: Asyl in Ungarn 1954–1957, Berlin 2007.