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Schwarzweißbild vom Schloss Seeburg am Süßen See.

"Vorbereitung auf den Tag X"

Mit einem speziellen Codewort an alle 211 Kreisdienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sollte im Ernstfall eine ungeheuerliche Maschinerie in Gang gesetzt werden: Innerhalb von 24 Stunden sollten über 2.900 Personen festgenommen und über 10.000 in Isolierungslager verschleppt werden. Weitere 72.000 Bürgerinnen und Bürger sollten unter verstärkte Überwachung gestellt werden. So sah es die streng geheime „Direktive 1/67“ vor.

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Seit über 25 Jahren war es geplant. Schlagartig, konspirativ und vorbeugend sollte es geschehen. Fast 86000 Bürger der DDR hätte es getroffen. Sie alle waren vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) im so genannten "Vorbeugekomplex" erfasst und im Falle einer inneren Krise, einer Spannungsperiode oder im Verteidigungszustand zur Festnahme (2.955 Personen), Isolierung (10.726 Personen) beziehungsweise verstärkten operativen Kontrolle und Überwachung vorgesehen (72.258 Personen). In X + 24 Stunden sollten geeignete und konspirativ aufgeklärte Objekte mit Stacheldraht und Wachtürmen umgeben und das ganze Land mit Isolierungslagern überzogen werden.

Hunderte von MfS-Mitarbeitern bereiteten diese Aktion seit Jahrzehnten vor und arbeiteten die entsprechenden Planungen ständig "tagfertig" auf. In den Panzerschränken der weit über 200 MfS-Kreisdienststellen lagen bis zum Ende der DDR versiegelte Briefumschläge mit der Aufschrift "Kz 4.1.3." mit penibel ausgefüllten Personalunterlagen griffbereit. Diese Papiere, zu öffnen auf ein zentrales Codewort hin, würden den bewaffneten Verhaftungskommandos der Stasi den Weg zu DDR-Bürgern weisen, die, weil sie dem Staatssicherheitsdienst irgendwann unliebsam aufgefallen waren, zu Tausenden in Vorbeugehaft und Arbeitslager wandern sollten.

Am 26. Januar 1967 fand unter der Leitung von Walter Ulbricht die 28. Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) statt. Aufgrund einer Anweisung des NVR entstand bis Ende Juli 1967 die Direktive 1/67 des Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke.

Die im "Vorbeugekomplex" geplanten Isolierungslager waren nach einem Kennziffernsystem in die gesamtstaatliche "Mobilmachungsarbeit" eingebettet, mit der sich das SED-Regime auf den Ernstfall vorbereitete. Die letztendliche Befehlsgewalt lag beim Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, das heisst seit 1971 bei Erich Honecker.

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Einsatzleitungen

Entstanden waren die Einsatzleitungen aus den Erfahrungen, welche die Partei- und Staatsführung der DDR während des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 machen musste. Im Januar 1954 benannte Willi Stoph, zu jener Zeit noch Innenminister, als eine wichtige Aufgabe der Einsatzleitungen: "Niederschlagung von feindlichen Provokationen wie Streiks, Demonstrationen, Aufruhr und Revolten." Im gleichen Jahr wurde eine zentrale Einsatzleitung der DDR und die Sicherheitskommission des Politbüros der SED gebildet. Diese Sicherheitskommission war der Vorläufer des Nationalen Verteidigungsrates.

Die Planung, Realisierung und Kontrolle der "Mobilmachungsarbeit", also auch der "spezifisch-operativen Maßnahmen" zur Einrichtung der Isolierungslager, war in den 15 Bezirken der DDR Aufgabe der Bezirkseinsatzleitungen und der nachgeordneten Kreiseinsatzleitungen.

Führung im Bezirk Anlage Nr.: [handschriftliche Ergänzung: 4 1 Blatt]  [Das Organigramm zeigt die Führung im Bezirk nach dem Prinzip eines Liniensystems: Vorsitzender Nationaler Verteidigungsrat Vorsitzender Bezirkseinsatzleitg. Vorsitzender Kreiseinsatzltg. Minister f. Staatssicherheit; Minister des Innern; Minister f. Nationale Verteidig.; Vorsitzender des Ministerrates Leiter der BV des Mfs; Chef der BdVP; Stellv.d.Vors.d.BEL und Chef d. WBK, Stab der BEL; Vorsitzender d. Rates d. Bez.; Vorsitzender d. Bezirkswirtsch.v. BV des MfS; BdVP; WBK; Rad d. Bez.; Bezirkswirtschf.t. Bewaffnete Kräfte des Bezirkes] [Stempel: Geheime Kommandosache (per[unleserlich]önlich!) [handschriftliche Ergänzung: 1/66] (4)]

Die Verantwortlichen

Für die Anleitung und Kontrolle zur Durchsetzung der Direktive 1/67 war der Leiter der Arbeitsgruppe des Ministers für Staatssicherheit (AGM) verantwortlich. Arbeitsgruppenleiter waren die MfS-Generäle Scholz (1958 - 1978), Geißler (1978 - 1987) und Rümmler (1987 - 1989).

Nach einer am 3. Oktober 1989 vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) herausgegebenen "Studie zur weiteren Vervollkommnung und Effektivierung der spezifisch-operativen Vorbeugungsmaßnahmen" trugen aber auch die Leiter der operativen Diensteinheiten (Bezirks- und Kreisdienststellen) Verantwortung: "Sie gewährleisten vor allem: die Wahrung der Geheimhaltung und Konspiration im Gesamtprozess, die Aufnahme von Personen in die Planung auf der Grundlage der Prüfungsergebnisse der zuständigen Leiter der operativen Abteilungen/Kreis- und Objektdienststellen sowie entsprechend den vorgegebenen Kriterien, die effektive Realisierung der spezifisch-operativen Vorbeugemaßnahmen auf Befehl des Genossen Minister."

Ausländer-Internierung

Mielkes Direktive 1/67 differenziert bei den Vorbeugemaßnahmen zwischen den Begriffen "Internierung" (Kennziffer 4.1.2.) und "Isolierung" (Kennziffer 4.1.3.). Zur Internierung waren Ausländer und Transitreisende vorgesehen, die sich in Spannungsperioden und im Verteidigungszustand auf dem Gebiet der DDR aufhielten. Verantwortlich für die Verhaftung dieses Personenkreises zeichnete das Ministerium des Innern (MdI) und die Deutsche Volkspolizei (DVP). Im Ernstfall sollten in der DDR insgesamt 35 Internierungslager mit einer Kapazität von 21.000 Personen und einer Maximalkapazität von 26.000 Personen eingerichtet werden.

Auch an diesen Planungen war das MfS beteiligt. So sollten "Operativgruppen" des Staatssicherheitsdienstes in den Internierungslagern als Verhörspezialisten und Führungsoffiziere von Inoffiziellen Mitarbeitern tätig werden. Ein Internierungslager für 855 Diplomaten und Korrespondenten in Berlin wäre ebenfalls statt durch das MdI von der Hauptabteilung II (Spionageabwehr) des MfS errichtet und betrieben worden.

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Isolierung

Von der Internierung strikt zu unterscheiden sind die im so genannten Vorbeugekomplex geplanten Isolierungsmaßnahmen. Sie richteten sich ausschließlich gegen die eigene Bevölkerung, gegen Bürger, die dem SED-Regime - aus welchen Gründen auch immer - missliebig aufgefallen waren und deshalb im Ernstfall ausgeschaltet werden sollten.

Mit Stand vom Dezember 1988 hatte das MfS 85.939 Personen im Vorbeugekomplex erfasst. Davon waren 2.955 Personen zur Inhaftierung in den MfS-Untersuchungshaftanstalten vorgesehen (Kennziffer 4.1.1.). 10.726 Personen sollten in Isolierungslager verbracht werden (Kennziffer 4. 1.3.). 937 "unzuverlässige" Leiter waren für eine verstärkte Überwachung mit dem Ziel ihrer späteren Ablösung vorgesehen (Kennziffer 4.1.4.). Weitere 71.321 DDR-Bürger hatte das MfS als so genannte "feindlich-negative Personen" registriert (Kennziffer 4.1.5.). Es ist zu vermuten, dass dieser Personenkreis bei der geringsten Auffälligkeit ebenfalls in die geplanten Isolierungslager verbracht worden wäre.

Im Vorbeugekomplex erfaßte Personen

Kennziffer

November 1986

Dezember 1988

4.1.1. Festnahme 3.510 Personen 2.901 Personen
4.1.3. Isolierung 15.780 Personen 10.539 Personen
4.1.4. Überwachung unzuverlässiger staatlicher Leiter 1.237 Personen 887 Personen
4.1.5. Erfassung feindlich-negativer Personen 51.135 Personen 70.245 Personen
Gesamt 71.662 Personen 84.572 Personen

 

Die Opfer

Das Feindbild, das den Planungen des Vorbeugekomplexes zugrunde lag, ging weit über die Ausschaltung der im engeren Begriffssinn politisch motivierten Opposition hinaus; ins Visier des MfS konnte vielmehr jeder Bürger geraten, der in irgendeiner Weise den Sicherheitsorganen negativ aufgefallen war.

Die Maßnahmen des Vorbeugekomplexes waren praktisch eine Kriegserklärung an das eigene Volk. Abzulesen ist dies u. a. in Unterlagen für die "Präzisierung und Komplettierung der Dokumentation der spezifisch-operativen Vorbeugungsmaßnahmen". In der "1. Ergänzung" vom 20. Januar 1986 finden sich die "anhalte für die Aufnahme von Personen", also die Kriterien für die Verbringung in ein Isolierungslager. Hier wird mit peinlicher Akribie jedes nur mögliche oppositionelle und widerständige Verhalten aufgelistet.

In die Isolierungslager sollten verbracht werden: "Personen von denen aufgrund ihrer verfestigten feindlich-negativen Grundhaltung gegenüber der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung und unter Berücksichtigung ihres bisherigen Auftretens, ihrer offiziell und inoffiziell bekannt gewordenen Äußerungen, ihrer Kontakte und Verbindungen sowie bestimmter Lebens- und Verhaltensweisen mit Wahrscheinlichkeit im Verteidigungszustand eine akute Gefährdung der staatlichen Sicherheit und Ordnung ausgehen kann oder die solche Handlungen dulden oder unterstützen."

Beispiele für zu isolierende Personen

  • "Personen, die Träger der politisch-ideologischen Diversion sind und bestimmte Bevölkerungskreise massiv beeinflussen und zu Handlungen gegen den Staat aufwiegeln können."
  • "Personen, die Ersuche auf Übersiedlung gestellt haben und mit Einrichtungen und Kräften im Operationsgebiet (gemeint ist die Bundesrepublik und Westberlin) in Verbindung stehen, derartige Kontaktaufnahmen oder Demonstrativhandlungen angedroht haben bzw. zu spontane und unkontrollierbaren Reaktionen neigen."
  • "Personen, die zu reaktionären klerikalen Kräften und anderen inneren Feinden in der DDR bzw. zu feindlich-negativen Einrichtungen und Kräften im Operationsgebiet und dem übrigen Ausland enge, operativ-bedeutsame Kontakte unterhalten."
  • "Personen, bei denen durch die Deutsche Volkspolizei, Abteilung K, Arbeitsrichtung I, der begründete Verdacht erarbeitet wurde, dass sie im Verteidigungszustand die Durchsetzung einer hohen öffentlichen Ordnung und Sicherheit erheblich beeinträchtigen."

Festnahmepläne

Für den "Tag X" in der DDR war alles genauestens geplant. Nichts hatte die Stasi dem Zufall überlassen. Mit deutscher Gründlichkeit wurden über die festzunehmenden Personen Formblätter mit Name, Adresse, Foto, Hinweisen auf Verbindungen zu anderen Personen etc. angelegt und stets aktuell gehalten. Es wurde sogar vermerkt, ob sich die "Klingel an der Haustür" oder "… an der Wohnungstür" des Opfers befand und ob das Haus "weitere Ausgänge" hatte. Um alle Zufälle auszuschließen lag eine Lageskizze des Hauses samt Foto bei. Stärke und Ausrüstung der Festnahmegruppen waren festgelegt; sie verfügten über einen PKW, 1 UKW-Sprechfunkgerät, 2 Maschinenpistolen, Knebelketten, Handschellen und Schlagstöcke sowie Taschenlampen und Schreibgerät.

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Nach der Verhaftung sollten die für die Isolierung vorgesehenen Personen zunächst in "zeitweilige Isolierungsstützpunkte" transportiert werden. Deren genaue Zahl ist nicht bekannt. Man wird aber davon ausgehen können, dass 1989 alle 211 Kreisdienststellen des MfS einen solchen Stützpunkt vorgesehen hatten. Diese konspirativ aufgeklärten und vorbereiteten Stützpunkte (in Ferienlagern, Lehrlingsheimen, Gaststätten, Messehallen u. ä.) sollten innerhalb kürzester Zeit (X + 8 bis 12 Stunden) volle Aufnahmebereitschaft aufweisen. Wo die Möglichkeit bestand, wollte man die Isolierungsstützpunkte direkt in den Gebäuden der MfS-Dienststellen einrichten.

Nach etwa sechs Tagen war dann in der Regel der Abtransport in die zwischenzeitlich hergerichteten "zentralen Isolierungsobjekte" geplant.

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Beispiel Kreisdienststelle Seelow

Die Kreisdienststelle Seelow, nahe der polnischen Grenze bei Frankfurt/Oder gelegen, hatte als zeitweiliges Isolierungsobjekt zwei Garagen für 25 bzw. 10 Personen vorgesehen. Diese sollten mit einem 2 Meter hohen Eisengitter und Wachhunden gesichert und mit einer 10 Quadratmeter Liegefläche mit Stroh, einem transportablen "WC-Kübel" sowie Sitzbänken "ausgestaltet" werden. Wer länger als 12 Stunden "zugeführt" war, durfte entsprechend der "Verpflegungsnorm" (pro Person 0,50 Mark) auf 300 Gramm Brot und 2 Liter warme oder kalte Getränke hoffen."

Isolierungslager

Als zentrale Isolierungslager hatte die Stasi in vielen Bezirken Burg- und Festungsbauten vorgesehen; so etwa im Bezirk Karl-Marx-Stadt die Festung Augustusburg unter dem Decknamen "Gitter 1". Dort sollten 6000 Personen eingesperrt werden. Ein weiteres Lager (Deckname "Gitter 2"), dessen geplanter Standort bis heute nicht bekannt ist, war für die Inhaftierung von weiteren 5000 Personen konzipiert.

Detailliert schreiben die "Grundsätze zur Vorbereitung und Durchführung der Isolierung sowie der Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit der Isolierungsobjekte der Arbeitsgruppe des Ministers" vom 14. November 1983 Einrichtung, Sicherung und Betrieb der zentralen Isolierungslager vor. Diese sollten z.B. "mindestens 60 km von der Staatsgrenze zur BRD entfernt" außerhalb geschlossener Ortschaften "aber in vertretbarer Entfernung zum Arbeitseinsatzbetrieb" liegen; denn "Isolierte können zu gesellschaftlich notwendigen Arbeiten eingesetzt werden" heißt es unter Punkt 3.5 der Vorschrift. Im Klartext: Die Isolierungslager waren - wenn möglich - als Zwangsarbeitslager konzipiert.

Auch sonst hatte man an alles gedacht: an "Fingerabdruckbogen", "Kurzbeurteilungsblatt" und die "Kennzeichnung der Bekleidung". Danach hatte der "Stuben- bzw. Unterkunftsälteste" … "1 Ärmelstreifen grün 2 Zentimeter breit" zu tragen, der "Objektälteste" hatte "3 Ärmelstreifen grün 2 Zentimeter breit", der "Schichtleiter" eine "gelbe Armbinde - SL - Buchstaben schwarz - am linken Oberärmel der Oberbekleidung" zu tragen, während "die Ärmelstreifen… in einer Länge von 10 Zentimeter auf ein Stoffstück in der Farbe der Oberbekleidung aufzunähen und dieses auf den linken Unterärmel der Oberbekleidung - 13 Zentimeter vom unteren Rand entfernt - quer anzubringen" waren.

Schwarzweißbild vom Schloss Seeburg am Süßen See.

Schlimme Tradition

Die Verhaftung missliebiger Bürger und ihre Überstellung in gesonderte Lager ist für Diktaturen charakteristisch und stellt, zumal in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, kein Novum dar. Zum Einen dürften die Planungen des MfS Entsprechungen im sowjetischen Gulag-System finden.

Geradezu erschreckend ist jedoch die Ähnlichkeit des Vorbeugekomplexes mit analogen Aktivitäten des Nazi-Regimes. Am 7. Juli 1938 richtete der damalige Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD), SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich, an alle Gestapo-Leitstellen ein Schreiben, welches die Erstellung einer so genannten A-Kartei über potentielle Staatsfeinde verfügte. Sie sollten im Spannungsperioden und im Fall der Mobilmachung festgenommen werden. Die Kartei war nach einem Kennziffernsystem in drei Gruppen (A1, A2 und A3) gegliedert.

  • Die Gruppe A1 umfasste "alle diejenigen Staatsfeinde, die ob ihrer besonderen Bedeutung und Gefährlichkeit schon bei der Einleitung der getarnten Vorausmaßnahmen für die allgemeine Mobilmachung festgenommen werden müssen."
  • Die unter der Kennziffer A2 erfassten Personen sollten bei der öffentlichen Anordnung der Mobilmachung verhaftet werden.
  • In die Gruppe A3 waren Personen eingegliedert, die zwar die staatliche Sicherheit nicht unmittelbar gefährdeten, "die aber in Zeiten schwerer Belastungsproben und der durch sie verursachten innerpolitischen Spannungen als politisch so gefährlich angesehen werden müssen, dass ihre Festnahme oder ihre besondere Überwachung ins Auge gefaßt werden muß."

In seiner Anordnung bestimmte Heydrich auch, wer in der A-Kartei zu erfassen sei. Dies waren vor allem Kommunisten, Sozialdemokraten, bürgerlich-konservative Kräfte, Vertreter des politischen Katholizismus, so genannte Wirtschaftsschädlinge bis hin zu einfachen Querulanten. Eine weitere Anordnung des Leiters der Sicherheitspolizei, SS-Brigadeführer Werner Best, an die Gestapo-Leitstellen vom 28. September 1938 verfügte, was mit den Festgenommenen zu geschehen habe. Sie sollten zunächst in Polizei- oder Gerichtsgefängnissen eingesperrt und baldmöglichst in die Konzentrationslager Buchenwald, Sachsenhausen und in ein neu zu errichtendes Lager in Ostpreußen verbracht werden.

Insofern befand sich das MfS mit dem Vorbeugekomplex in schlimmster deutscher Tradition. Neuartig war allerdings die bürokratische Perfektion und Akribie, welche die Eventualplanungen des SED-Regimes kennzeichneten.

Polen 1981

Dass es sich bei den konspirativen Machenschaften des MfS nicht um Planspiele eines unterbeschäftigten Sicherheitsapparates handelte, zeigt das polnische Beispiel. Als in der Nacht vom 12. zum 13. Dezember 1981 in Polen der "Militärrat der Nationalen Errettung" (WRON) den Kriegszustand verkündete, befanden sich auch "Operativgruppen" des MfS vor Ort, die das Geschehen aufmerksam verfolgten. Sie dürften dabei wichtige Erkenntnisse für ihre eigenen Planungen gewonnen haben. Die polnische Miliz und der Sicherheitsdienst nahmen in jenen Tagen rund 6500 Oppositionelle und Aktivisten der verbotenen Gewerkschaft Solidarnocz fest und transportierten sie in eilig eingerichtete Lager.

Anfang März 1982 befanden sich nach offiziellen polnischen Angaben noch etwa 4000 Personen in den Lagern. Manchen von ihnen blieben jahrelang in Haft. Ein Bericht der MfS-Späher aus Danzig vom 15. März 1982 gibt Ausführungen des dortigen Wojewodschaftskommandanten der Miliz, Oberst Andrezejewski, zum Kriegszustand wieder. Danach wurden in der Wojewodschaft Danzig noch 289 Personen in Internierungshaft festgehalten. Weitere 164 Personen seien wegen "Verletzung der Festlegungen über den Kriegszustand" verhaftet, 44 davon bisher abgeurteilt worden. Weiterhin seien 5.051 Personen von gesellschaftlichen Gerichten, den so genannten Kollegien, wegen desselben Delikts mit anderen Strafen, zumeist Geldbußen, belegt worden.

Parteichef Jaruzelski rechtfertigte im Dezember 1985 das Vorgehen der polnischen Sicherheitsorgane: "Die Isolierung einer Gruppe von Menschen, die notorisch das Recht verletzen und die seinerzeit Organisatoren des Streikterrors waren - von daher kann man von Terroristen sprechen, [stellen] - im breiteren konventionellen Sinne des Wortes - auch eine Form der Selbstverteidigung des Staates" dar.

Wie in der DDR waren auch in Polen die Lagerplanungen lange vor Verkündung des Kriegszustandes erarbeitet worden.

Revolution 1989

Am 8. Oktober 1989 schienen Honecker und Mielke noch entschlossen, Stärke zu demonstrieren. In einem Fernschreiben an die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen der SED ordnete der Staats- und Parteichef die sofortige Zusammenkunft der Bezirkseinsatzleitungen an. Sie sollten die nötigen Schritte beschließen, um die Lage in den Bezirken in den Griff zu bekommen. Am gleichen Tag schickte auch Mielke ein Fernschreiben der höchsten Dringlichkeitsstufe an die Leiter sämtlicher Diensteinheiten. Er befahl die "volle Dienstbereitschaft" und das ständige Tragen von Waffen (siehe Blatt 1). Der Befehl zur sofortigen "Einschätzung und Neubewertung" der laufenden operativen Überwachungsvorgänge bedeutete nichts anderes als die erste Stufe für das Anlaufen des Vorbeugekomplexes (Blatt 3).

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Beispiel Rostock

Der Chef der Bezirksverwaltung Rostock, Generalleutnant Mittag, befahl am 9. Oktober 1989 den Leitern der Kreisdienststellen in seinem Bezirk: "In Durchsetzung der angewiesenen Maßnahmen haben Sie unverzüglich eine differenzierte Neubewertung der laut Kennziffer 4.1. (Vorbeugemaßnahmen) sowie der in OV/OPK (Operativer Vorgang bzw. Operative Personenkontrolle - waren personenbezogene Akten, die das MfS führte, um Menschen strafrechtlich zu verfolgen und überwachen zu können) und anderen operativen Materialien erfassten bzw. bearbeiteten Personen vorzunehmen. Es geht darum, alle Personen von denen gegenwärtig eine besondere Gefährdung der staatlichen Sicherheit und Ordnung ausgehen könnte, herauszuarbeiten."

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Beispiel Leipzig

Aus der MfS-Kreisdienststelle Leipzig ist eine Aufstellung an den Chef der Arbeitsgruppe des Leiters der Bezirksverwaltung vom 9. Oktober 1989 überliefert. Sie trägt den bürokratisch korrekten Titel - "Im Rahmen des Vorbeugekomplexes zuzuführende Personen, die dem politischen Untergrund zuzuordnen sind" - und umfasst 122 Personen mit Wohnanschrift und anderen Angaben. Als Gründe für die Erfassung werden z.B. angegeben: "Exponent der PUT" (politische Untergrundtätigkeit), "Verbindung westliche Massenmedien", "Träger Aufnäher ‚Schwerter zu Pflugscharen'", "Verteiler von Hetzblättern ‚Neues Forum'", "ständiger Nichtwähler", "negativer Wortführer", "ständiger Teilnehmer Nicolaikirche", "Beschimpfung MfS als "Nazis", Demo beantragt".

Spätestens Mitte Oktober 1989 dürfte den politisch Verantwortlichen klar geworden sein, dass die Revolution durch Maßnahmen wie den Vorbeugekomplex nicht mehr zu stoppen war. Dennoch bemerkte Mielke am 21. Oktober in einem Referat vor der Generalität des MfS im Hinblick auf die täglichen Demonstrationen auch vor MfS-Dienstobjekten: "Das hinterlässt doch bestimmte Wirkungen, zumal wir aus den bekannten Gründen zurückhaltend darauf reagieren, nicht so antworten, wie es diese Kräfte eigentlich verdienen. Deshalb ist es so wichtig, daß alles unternommen wird, alle mit solchen Handlungen auftretenden Personen zu erkennen, sie sorgfältig zu erfassen und das zugriffsbereit zu halten". Auch wenn die "kurzfristige Realisierung von Zuführungen und Festnahmen" nicht mehr auf der Agenda stand, so hegte wohl Mielke immer noch die Hoffnung, irgendwann losschlagen zu können.

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Beispiel Rudolstadt und Eberswalde

Die Kreisdienststelle Rudolstadt im Bezirk Gera legte noch am 27. Oktober 1989 Auskunftsberichte zum Vorbeugekomplex an.Die Kreisdienststelle Eberswalde im Bezirk Frankfurt/Oder erstellte sogar noch nach dem Fall der Mauer zwischen dem 10. und 13. November 1989 Listen, in denen die dortigen Aktivisten der Opposition für den Vorbeugekomplex erfasst waren.