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MfS-Lexikon

Jugend

Zahlreiche MfS-Dokumente belegen, dass die Jugend der DDR zu keiner Zeit flächendeckend überwacht wurde und die Stasi auf aktuelle Entwicklungen häufig nur reagieren konnte. Jugendliche haben sich dem DDR-System vielfach konsequenter verweigert und ihm als Erwachsene widerstanden.

Seit seiner Gründung 1950 setzte sich das MfS mit unangepassten Jugendlichen auseinander. Hierbei ging es sowohl um die Absicherung von Großveranstaltungen der Staatsjugendorganisation "Freie Deutsche Jugend" (FDJ) als auch um die Bekämpfung jugendlicher Widerstandsgruppen. 1952/53 beteiligte sich das MfS an der von SED und FDJ initiierten Verfolgung junger Christen, besonders der evangelischen Jungen Gemeinden.

Junge Menschen in blauen FDJ-Hemden. Viele von ihnen winken mit roten Tüchern, einige tragen Schilder.

Das MfS nahm das nonkonforme Auftreten von größeren Gruppen unter den DDR-Jugendlichen allerdings erst ab Mitte der 50er Jahre als ein politisches und soziales Problem wahr. So registrierten die Teilnehmer einer Kollegiumssitzung des MfS (siehe auch Kollegium des MfS) am 01.02.1956 im Zusammenhang mit der Gründung der Nationalen Volksarmee pazifistische Tendenzen unter den Jugendlichen der DDR und überlegten, wie dem zu begegnen sei.

Gestützt auf die Zuarbeit der nachgeordneten Diensteinheiten, erließ Mielke am 04.07.1963 erstmals für das gesamte MfS verbindliche "Arbeitshinweise für die politisch-operative Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion und Untergrundtätigkeit unter jugendlichen Personenkreisen in der DDR". Damit reagierte das MfS auf das Jugendkommuniqué des Politbüros der SED vom 21.03.1963. Die beispielhafte Schilderung "feindlicher" Handlungen von "Meuten, Rowdygruppen, Klubs, Banden" und sonstigen "negativen Gruppierungen und Konzentrationen" nahmen in den Arbeitshinweisen einen breiten Raum ein. Erich Mielke legte u.a. fest, dass die inoffizielle Tätigkeit des MfS stärker auf die Arbeit unter Jugendlichen bis 25 Jahren zu konzentrieren sei.

Am 11.10.1965 fasste das Sekretariat des ZK der SED einen Beschluss zu Fragen der Jugendarbeit und des Auftretens von sog. "Rowdygruppen unter der Jugend". Darin wurden die FDJ und die Medien angewiesen, dem Eindringen westlicher "Dekadenz" keinen Vorschub zu leisten und ihm in "überzeugender Weise entschieden entgegenzuwirken". Dieser Beschluss war für das MfS Anlass zu hektischer Betriebsamkeit. Die für die "Bearbeitung" der Jugend zuständige Hauptabteilung XX/2 registrierte akribisch sämtliche Vorkommnisse bei der nun einsetzenden Disziplinierungskampagne.

Die wichtigste Reaktion des MfS auf den Beschluss des ZK-Sekretariats jedoch war der Befehl 11/66 Mielkes zur "Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion und Untergrundtätigkeit unter jugendlichen Personenkreisen" vom 15.05.1966. Diesen Befehl ergänzte die Dienstanweisung 4/66 gleichen Datums und Titels und führte ihn genauer aus. Beide Dokumente behielten bis 1989 ihre Gültigkeit.

Die Dienstanweisung 4/66 regelte grundsätzlich die Vorgehensweise, Mittel und Methoden, Zuständigkeiten und Zielrichtung des MfS bei der "Bearbeitung" Jugendlicher. Sowohl der Befehl als auch die Dienstanweisung wurden bereits Ende der 60er Jahre in Bezug auf aktuelle Ereignisse wie den Prager Frühling und den 20. Jahrestag der DDR durch Durchführungsbestimmungen ergänzt und verschärft.

Zu Anfang der 70er Jahre entstand unter der Jugend der DDR die "Tramperbewegung", die dem MfS wegen ihrer geistigen und körperlichen Mobilität und dem damit einhergehenden Kontrollverlust durch das "Organ" außerordentlich suspekt war. Besonderer Zielpunkt des MfS war deshalb ab Anfang der 70er Jahre die Offene Jugendarbeit der Ev. Kirche, in der sich diese Jugendlichen sammelten. Mit dieser Entwicklung ging eine Politisierung einher, welche Anfang der 80er Jahre in die Bildung von Friedens-, Menschenrechts- und Umweltgruppen mündete. Jetzt sah sich das MfS auch mit einer weitaus radikaleren Form von Jugendprotest konfrontiert als bisher.

Konsequenter als die "Tramper" der 70er Jahre verweigerten sich nun die Punks dem allumfassenden Zugriff von Partei und Staat. Dem MfS wurde diese Entwicklung besonders deutlich bei den Bemühungen um jugendliche IM.

Eine Analyse der Hauptabteilung XX (HA XX) zur Lage unter jugendlichen Personenkreisen aus dem Jahr 1980 schilderte die wachsenden Schwierigkeiten: Trotz erheblicher Anstrengungen aller Bezirksverwaltungen (BV), die Qualität und Quantität der inoffiziellen Basis unter Jugendlichen zu erhöhen, seien die gestellten Ziele nicht erreicht worden. Zu verzeichnen sei vielmehr eine hohe "Abschreibungsquote" bei jugendlichen IM infolge bewusster Dekonspiration, von Desinteresse, mangelhafter Treffdisziplin, unbefriedigender Arbeitsergebnisse, Perspektivlosigkeit in der Zusammenarbeit und wegen des Einflusses "feindlich-negativer" Personen auf die jugendlichen IM. So betrug beispielsweise der Anteil Jugendlicher am Gesamtbestand von IM in den Bezirksverwaltungen 1982 nur 10 Prozent.

Es ist auffällig, dass in den Monatsberichten, Arbeitsplänen und Analysen der HA XX ab 1987 den Aktivitäten rechtsgerichteter, neonazistischer Jugendlicher große Aufmerksamkeit zuteil wurde, während bis dahin fast ausschließlich die linksgerichteten Punks im Visier der HA XX waren. Offensichtlich wurden die Sicherheitsorgane durch die gewalttätigen Ausschreitungen von Skinheads auf einer Punkveranstaltung in der Berliner Zionskirche am 17.10.1987 so aufgeschreckt, dass Mielke sich sogar genötigt sah, in einer Anweisung an die Leiter der Diensteinheiten im Zusammenhang mit möglichen neonazistischen Ausschreitungen am 30.01.1988 bei "ernsthaften Gefährdungen" der Sicherheit, den Gebrauch der Schusswaffe anzuordnen.

Es bleibt zu fragen, warum das MfS den Rechtsradikalismus unter Jugendlichen erst so spät wahrnahm. Eine mögliche Antwort gibt eine Anweisung des stellv. Ministers für Staatssicherheit Generaloberst Mittig an die Bezirksverwaltungen des MfS vom 02.02.1988. Nachdem dort zunächst das äußere Erscheinungsbild der Skinheads (Glatze, Bomberjacke, Röhrenjeans, Springerstiefel) beschrieben wurde, lieferte Mittig eine Einschätzung der Ideologie der Skinheads. Sie gingen einer Arbeit nach und zeigten im Gegensatz zu anderen "negativ-dekadenten" Jugendlichen eine gute Arbeitsdisziplin. Militärische Ausbildung gehöre für sie zum "Deutschtum", deshalb hätten sie eine positive Einstellung zum Wehrdienst. Dies waren schätzenswerte Eigenschaften in einer Gesellschaft, in der Disziplin, Ordnung, Sicherheit und Wehrwille zu den obersten Geboten zählten. 1989 war dem MfS die Kontrolle der Jugendszene weitgehend entglitten.

[anonymisiert] PM 1 vom 21.03.1964 u. PM 1 vom Februar 1966  [Zwei schwarzweiß Paßbilder; links mit kurzen Haaren, rechts mit längeren Haaren.]  [anonymisiert] PM 1 vom 18.03.1964 u. PM 1 vom 02.03.1966  [Zwei schwarzweiß Paßbilder; links mit kurzen Haaren, rechts mit längeren Haaren.]  [anonymisiert] PM 1 vom 18.03.1964 u. PM 1 vom 11.02.1966  [Zwei schwarzweiß Paßbilder; links mit kurzen Haaren, rechts mit längeren Haaren.]  [anonymisiert] PM 1 vom 15.09.1964 u. PM 1 vom 11.02.1966  [Zwei schwarzweiß Paßbilder; links mit kurzen Haaren, rechts mit längeren Haaren.]

Literatur

  • Mothes, Jörn u.a. (Hg.): Beschädigte Seelen. DDR-Jugend und Staatssicherheit. Rostock 1996.
  • Behnke, Klaus; Wolf, Jürgen (Hg.): Stasi auf dem Schulhof. Der Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen durch das MfS. Berlin 1998.
  • Süß, Walter: Zu Wahrnehmung und Interpretation des Rechtsextremismus in der DDR durch das MfS. Berlin 1993.

Thomas Auerbach