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"Auch in der Diktatur scheint die Sonne - aber nicht für jeden"

Roland Jahn im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung vom 2. August 2014

Seit drei Jahren leitet Roland Jahn die Stasi-Unterlagen-Behörde. Wie es mit den Papieren des DDR-Geheimdienstes weitergehen soll und was die NSA-Affäre von damaligen Spitzeleien unterscheidet, erklärt er im Interview.

2014 jährt sich der Mauerfall zum 25. Mal. Was bedeutet Ihnen dieser Tag?

Jahn: Er hat eine ganz persönliche Bedeutung. Mit dem Fall der Mauer war es mir möglich, wieder nach Hause zu fahren, nach Jena. Sechs Jahre zuvor war ich gewaltsam aus der DDR herausgebracht worden. Insgesamt aber wird mit dem Mauerfall deutlich, dass Menschen es geschafft haben, Gesellschaft zu verändern. Sie haben erreicht, was viele nicht für möglich hielten, nämlich dass die Mauer als Ausdruck einer Diktatur in der DDR gefallen ist.

Sie waren als politischer Häftling im DDR-Gefängnis. Kennen Sie Ihre Akte?

Jahn: Ja. Das war schon sehr beeindruckend, schwarz auf weiß zu lesen, in welcher Weise hier die Staatssicherheit in mein Leben eingegriffen hat. Gerade das Ereignis meiner Ausbürgerung war sehr gut dokumentiert. Über 100 Leute der Staatssicherheit waren im Einsatz, um mich mit Gewalt außer Landes zu bringen. Dieser Maßnahmeplan war persönlich von Stasi-Minister Mielke abgezeichnet.

Sind Sie noch wütend?

Jahn: Ich bin kein Mensch, der nachtragend ist, das hilft ja nicht. Ich versuche immer, das Lachen zu bewahren. Ich gehe mit der Vergangenheit um, indem ich versuche aufzuklären. Aufzuklären über die Mechanismen des Staates und warum Menschen dort wie gehandelt haben. Ich möchte dazu beitragen, dass auch die nächsten Generationen daraus lernen können.

Die Anträge auf Akteneinsicht gehen stetig zurück. Können Sie Ihre Behörde bald schließen?

Jahn: Wir sind kein Bäcker, der Brötchen verkauft und für den die Nachfrage für das Geschäft entscheidend ist. Wir stellen Akten bereit für Menschen, in deren Leben die Staatssicherheit eingegriffen hat. Und wir stellen Akten bereit für Forschung und Medien, auch für öffentliche Stellen. Bisher sind über drei Millionen Anträge auf persönliche Akteneinsicht eingegangen. Mit dem Abstand zum Ende der DDR ist es logisch, dass die Anfragen weniger werden. Aber gerade was Forschung und Medien betrifft, was Bildungsarbeit betrifft, da weiten sich die Optionen, es gibt immer wieder neue Aspekte. Es sind ja nicht nur Akten, die die Arbeit der Geheimpolizei dokumentieren, sondern sie sind auch Zeugnisse des Freiheitswillens von Menschen. Diese Akten zeigen uns das ganze System, die Herrschaftsmechanismen der SED-Diktatur insgesamt. Mir ist es wichtig, dass wir uns hier nicht nur auf Stasi beziehen, sondern dass wir begreifen, wie Diktaturen funktionieren, um Demokratie am Ende besser gestalten zu können. In diesem Zusammenhang freue ich mich, dass der Bundestag eine Expertenkommission eingesetzt hat, die über zukünftige Strukturen unserer Arbeit beraten soll. Das Signal war eindeutig: Es gibt keinen Schlussstrich zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Die Akten bleiben offen.

Es kursieren immer wieder nostalgische Sprüche à la: "Es war ja nicht alles schlecht..." Wie stehen Sie zu Verklärungsansätzen?

Jahn: Wichtig ist, die Menschen bei ihren Erlebnissen abzuholen. Ich sage für mich: Ich hatte ein schönes Leben in der DDR, nicht wegen des Staates, sondern trotz des Staates. Weil meine Freunde und ich es uns schön gemacht haben, weil wir auch gegen den Staat ein Lebensgefühl entwickelt haben, was das Leben lebenswert gemacht hat. Wenn ich an die Partys denke, die wir gefeiert haben als junge Leute, wenn ich an die Wanderungen denke in den Thüringer Bergen. Dann sind das Erlebnisse, an die ich gerne zurückdenke. Nichtsdestotrotz vergesse ich auch nicht, was man Menschen angetan hat. Dass es den Schießbefehl gab, dass Menschen erschossen worden sind, weil sie von einem Teil Deutschlands in den anderen wollten. Es gilt, das gesamte Bild zu betrachten. Auch in der Diktatur scheint die Sonne - aber nicht jederzeit für jeden. Wenn wir aufarbeiten, gilt es also die verschiedenen Blickwinkel einzubeziehen und darüber zu diskutieren, wie es gewesen ist.

Schon wieder werden Deutsche ausgespäht, Stichwort NSA-Affäre. Wo liegen die Unterschiede, wo Ähnlichkeiten?

Jahn: Gerade die Diskussion zu NSA und Ausspähung zeigt, wie wichtig es ist, sich mit Vergangenheit zu beschäftigen. Sie zeigt, dass es gut ist, wenn wir unsere Sinne schärfen mit dem Blick in die Diktatur. So können wir besser erkennen, wo Freiheit hier und heute in Gefahr ist. Es geht darum, genau hinzuschauen: Wo werden Grundwerte verletzt? Ich kann nur ermuntern, dass man heute mit dem Wissen darum, wie es früher in der Diktatur war, die Stopp-Zeichen setzt. Vergleichen kann man alles. Dabei gilt es, nicht einfach gleichzusetzen. Das würde die Opfer der SED-Diktatur verhöhnen und auch den Blick in die Gegenwart vernebeln. Methoden etwa sind oft gleich, Abhören ist Abhören. Aber es gibt einen Unterschied im System. In der Diktatur war die Geheimpolizei dazu da, Menschenrechte zu unterdrücken und die Macht einer Partei zu sichern. In der Demokratie ist der Geheimdienst dazu da, Freiheit und Menschenrechte zu sichern. Wenn das schiefgeht, wenn ein Geheimdienst außer Kontrolle gerät, ist die Demokratie herausgefordert, Kontrolle herzustellen und Stoppzeichen zu setzen im Handeln der Geheimdienste. Im Extrem kann sie das Parlament sogar abschaffen.

Wenn man den Diensten keinen Riegel vorschieben kann, sollte man sie abschaffen?

Jahn: Da ist in erster Linie das Parlament gefragt, das derzeit die Geheimdienste kontrolliert. Auf alle Fälle ist der Umgang mit dem, was es jetzt an Vorwürfen gibt gegen die Geheimdienste, durchaus ein Prüfstein für unsere Demokratie. Die gilt es zu schützen, weil wir Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen schützen wollen.

Das Gespräch führte Melanie Heike Schmidt