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"Der 17. Juni ist als Gedenktag wichtiger als der 3. Oktober"

Herr Jahn, heute jährt sich der Volksaufstand in der DDR vom 17. Juni 1953. Das historische Ereignis droht in Vergessenheit zu geraten. In der Bundesrepublik war dies der Nationalfeiertag und bis 1990 der Tag der deutschen Einheit. Welche Bedeutung hat dieser Gedenktag heute noch?

Jahn: Für mich ist der 17. Juni 1953 immer noch einer der wichtigsten Gedenktage in Deutschland. Gerade im dreißigsten Jahr der Deutschen Einheit ist er von besonderer Bedeutung. Die Ereignisse dieses Tages, die Niederschlagung des Volksaufstandes, machen deutlich, dass Freiheit und Demokratie keine Selbstverständlichkeiten sind. Wir sollten auch heute immer noch neu daran erinnern.
Menschen haben das errungen, dass wir heute in einem freien und geeinten Deutschland leben. 1953 wurde der Ruf nach Freiheit und Selbstbestimmung laut. Diese Bewegung führte dann zum Volksaufstand. Damals am 17. Juni 1953 hat begonnen, was 1989 mit der Friedlichen Revolution vollendet worden ist. Die Friedliche Revolution steht in der Tradition des 17. Juni. Das macht Hoffnung, dass Unrecht und Unfreiheit überwunden werden können, wenn es auch manchmal sehr lange dauert. In Deutschland könnten wir uns auch stärker auf die positiven Momente der deutschen Demokratiegeschichte besinnen.

Daran wird aber kaum noch erinnert…

Jahn: Ich würde mir wünschen, dass wir aus diesem Tag heute und in Zukunft mehr machen. Der 17. Juni sollte ein Tag der lebendigen Demokratie werden. Er sollte genutzt werden, um offene Debatten über unsere Demokratie zu führen. Man könnte ihn auch wieder zu einem Feiertag machen. Der 3. Oktober ist ein Tag, an dem ein Vertrag in Kraft getreten ist. Der 17. Juni ist der wirkliche Feiertag und als Gedenktag wichtiger als der 3. Oktober. Er darf nicht in Vergessenheit geraten. Der 17. Juni ist der Tag, an dem Menschen aufgestanden sind und für ihre Freiheitsrechte gekämpft haben. Das sollten wir gerade in Deutschland würdigen. Am Ende sind die Forderungen der Menschen, die beim Volksaufstand 1953 auf die Straße gegangen sind, verwirklicht worden.

Im Kampf gegen die Corona-Pandemie sind Grundrechte und Freiheit eingeschränkt, die Grenzen geschlossen worden. Für Sie als DDR-Bürgerrechtler besonders schmerzhaft?

Jahn: Es ist wichtig, darüber zu debattieren und zu streiten, wie wir mit dieser Pandemie umgehen. Keiner kann dabei für sich in Anspruch nehmen, er hätte die Wahrheit gepachtet. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Respekt vor der Meinung des anderen zählt. Solche Einschränkungen der Grundrechte müssen gut begründet sein und die absolute Ausnahme bleiben. Da zählt auch das Vertrauen in die demokratischen Institutionen, die von den Bürgerinnen und Bürgern aber immer wieder auch kritisch hinterfragt werden sollten.

30 Jahre nach der Einheit wird der Ruf nach einem Schlussstrich unter die Geschichte der Staatssicherheit gefordert. Wie geht es weiter mit den Stasi-Unterlagen. Wird Ihre Behörde jetzt abgewickelt?

Jahn: Aufklärung kennt kein Ende und kein Verfallsdatum. Die Akten bleiben offen und werden genutzt. Auch kommende Generationen werden Gelegenheit haben, sich mit diesem Teil der deutschen Geschichte zu beschäftigen. Das stärkt die Identität einer Gesellschaft. Diese Hinterlassenschaft der Geheimpolizei der DDR hat einen ganz besonderen Charakter. Unsere Aufgabe ist es, den Opfern der Stasi gerecht zu werden und gleichzeitig eine Brücke in die nächste Generation zu schlagen. Ich bin dankbar, dass der Deutsche Bundestag im vergangenen Jahr einen Beschluss gefasst hat, der die dauerhafte Sicherung der Stasi-Unterlagen vorsieht und sie zu einem Teil des Gedächtnisses der Nation macht.. Die Akten sind eine Trophäe der Friedlichen Revolution. Aber es geht nicht nur um Akten, es geht vor allem um Menschen. Aus dem Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagenwird nun der Opferbeauftragte für die Menschen. Ich werde im nächsten Jahr 68 Jahre alt. Dann ist eine andere Generation dran, die Dinge voranzubringen und nach vorne zu schauen.

Die Bilder aus Hongkong von den Massenprotesten auf den Straßen - erinnern diese Sie an 1989 und die Friedliche Revolution in Deutschland?

Jahn: Ja schon. Dabei ist es wichtig, eine Haltung zum Umgang mit diktatorischen Staaten zu finden. Deutschland tut sich schwer im Verhältnis zu China klare Positionen zu Menschenrechtsverletzungen zu beziehen und ein klares Bekenntnis zu den Menschen in Hongkong abzugeben. Das würde Deutschland gut zu Gesicht stehen. Aktuell ist in vielen Regionen der Welt die Freiheit in Gefahr wie damals 1953 in der DDR. Umso wichtiger ist es, dass deutsche Außenpolitik werteorientiert ist und deutlich macht, dass vor allem die Achtung der Menschenrechte zählt. Es gilt weltweit darauf zu achten, wo werden Menschenrechte verletzt? Das sind keine inneren Angelegenheiten von Staaten. Menschenrechte sind universell und unteilbar.

Das Interview führte Andreas Herholz.