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Der lange Schatten der Mauer

Was fängt ein 15jähriger heute damit an, dass vor 50 Jahren eine Mauer durch Berlin gebaut wurde? Schlimm war es schon, dass Menschen an der Mauer erschossen wurden, weil sie von einem Stadtteil in den anderen wollten. Aber das ist ja Gott sei Dank vorbei. Olle Kamellen. Was hat das mit mir zu tun? Von Roland Jahn, Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen.

Cornelia B. war 15 Jahre alt, als die Mauer ihr Leben veränderte. Als ihr Vater im Todesstreifen erschossen wurde. Ich bin ihr vor ein paar Tagen im Bildungszentrum der Stasi-Unterlagenbehörde begegnet.

Mit einer kleinen Sonderausstellung dokumentieren wir die Perfidie, mit der die Staatssicherheit die wahren Umstände der Mauertoten vertuschte. Mit gefälschten Totenscheinen und mit erfundenen tödlichen Unfällen. Manchmal ließ sie die Toten einfach verschwinden, selbst einen West-Berliner wie Cornelias Vater, Gerald Thiem. An einem Freitagabend im August 1970 verschwand der Polier aus dem West-Berliner Neukölln spurlos.

Monatelange suchte ihre Mutter verzweifelt nach ihm. Schrieb Briefe, verteilte Suchanzeigen. Bis zur Fremdenlegion. Doch niemand wusste, wo Gerald Thiem ist. Erst elf Jahre später lässt die Mutter ihn für Tod erklären. Cornelia und ihre zwei Jahre jüngere Schwester erleben eine bedrückte Jugend. „Meine Mutter war eine gezeichnete Frau. Ihr war der Mann davon gelaufen. Nicht zu wissen, wo er war, hat uns fertig gemacht. Ich bin von der Schule und habe angefangen zu arbeiten. Wir hatten ja kein Geld.“

Gerald Thiem war an jenem Augustabend an einer unübersichtlichen Stelle in die Grenzanlagen gelaufen und dort von mehreren Grenzsoldaten erschossen worden. Warum er sich dorthin begab, weiß man nicht. Schnell erkannte die Stasi, dass niemand im Westen die Schüsse mit dem Verschwinden des Mannes in Einklang brachte und ließ die Leiche verschwinden. Die Asche wurde einfach auf dem Friedhof beim Krematorium am Baumschulenweg verstreut. Als die verzweifelte Ehefrau drei Monate nach dem Verschwinden in ihrer Not auch an die Staatsanwaltschaft Ost-Berlins schreibt, erhält sie nur ein kurzes ablehnendes Schreiben. „Wenn wir gewusst hätten, dass er tot ist, dann wäre wenigstens das klar gewesen. Aber so… Wir hatten immer das Gefühl, wir hätten unserem Vater nichts bedeutet. Er ist einfach weggegangen.“

1994, im Zuge der Ermittlungen zu den Mauerschützenprozessen, erfährt sie endlich, was mit ihrem Vater geschehen ist. Ihre Mutter ist da schon tot. Die Akten der Stasi-Unterlagenbehörde lieferten die Beweise. Wissen was war. Aufklärung schaffen. Das hat für Cornelia B. eine ganz eigene Bedeutung. Wie für Tausende anderer Opfer der Diktatur. Immer wieder bin ich erstaunt darüber, wie lange die Verletzungen andauern, dass die Eingriffe in das Leben von Menschen so gründlich wirken und zerstören. Eine Demokratie kann nicht auf Aufklärung über das, was war, verzichten. Auch wenn es unbequem ist. Gerade auch die, die in Verantwortung standen, für zum Beispiel die Vertuschung der Mauertoten, müssen sich der Vergangenheit stellen.

Nur, wenn alles auf dem Tisch liegt und wir über alles reden, können wir voranschreiten. Können auch die Jungen sehen, was falsch war und bessere Entscheidungen für die Gestaltung der Demokratie heute treffen. Wer einen Schlussstrich will, hat nicht begriffen, dass Aufarbeitung nicht Aufrechnung ist. Aufarbeitung ist eine Investition in die Zukunft unserer Demokratie.

Roland Jahn