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"Die Angst war allgegenwärtig"

Roland Jahn im Interview mit der "Hannoversche Allgemeine Zeitung", erschienen am 22. Februar 2012

Herr Jahn, seit bald einem Jahr sind Sie Beauftragter für die Stasi-Unterlagen. Wo möchten Sie besondere Akzente setzen?

Vor allem möchte ich, dass die nächsten Generationen erfahren, wie das Leben in der DDR gewesen ist. Schüler, die heute Abitur machen, kennen diese Geschichte nicht mehr aus eigenem Erleben. Die Probleme der deutschen Teilung sind ihnen fremd, der Alltag in einem totalitären System ebenso. Stasi-Akten, aber auch Zeitzeugen, können darüber aufklären. Das geschieht aber nicht gut genug?

An Schulen könnte deutlich mehr Wissen über die deutsche Teilung vermittelt werden. Es hängt fast immer vom Engagement einzelner Lehrer ab, ob und wie stark im Unterricht darauf eingegangen wird. Das ist mir insgesamt viel zu wenig. Ich möchte, dass die Auseinandersetzung mit der DDR und der SED Diktatur in den Schulen eine größere Rolle spielt.

Wie soll das gehen?

Zunächst biete ich an, mit den Kultusministern der Länder zu diskutieren. Wir brauchen Platz für die jüngere deutsche Geschichte in den Lehrplänen, und wir brauchen Freiräume im Unterricht, die zur Vertiefung dienen. Mit Lehrmaterialen können wir gemeinsam mit der Stiftung Aufarbeitung und der Bundeszentrale für politische Bildung helfen. Es geht nicht nur um die nüchterne Vermittlung von Fakten, sondern um die Lehren für das demokratische Gemeinwesen.

Welche Lehren sind das?

Wenn wir wissen, wie Widerspruchsgeist konsequent unterdrückt wurde, wie zu Anpassung erzogen wurde - dann können wir den Wert einer freien und offenen Diskussion noch besser schätzen. Im Spiegel der Diktatur schärfen wir die Sinne für Freiheit und Demokratie. Sich einmischen, seine Meinung frei äußern ist die Grundlage für eine lebendige Demokratie. Diesen Wert unseres demokratischen Staates kann man neu ermessen, wenn man das Gegenbild, die SED-Diktatur, vor Augen hat.

Sehen Sie Ihre Aufgabe auch als einen pädagogischen Auftrag?

Die Stasi-Unterlagen-Behörde ist kein Selbstzweck. Sie dient dazu, Transparenz über die Arbeitsweisen einer Geheimpolizei in der Diktatur zu schaffen. Das ist der gesetzliche Auftrag. Zuvorderst geht es darum, den Opfern Klarheit über den Eingriff in ihr Leben durch die Stasi zu geben. Zusätzlich geht es um die Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Methoden und Wirkungsweise der Stasi.

Hat das Leben in der Diktatur Verhaltensweisen begünstigt, wie wir sie heute bei Rechtsextremen feststellen?

Zunächst müssen wir erkennen. Es gab auch Rechtsextremisten in der DDR, über 1000 sogenannte Skinheads hat die Stasi 1988 in ihren Akten vermerkt. Einerseits wollte die Stasi das Problem vertuschen und als Aktion von einzelnen verharmlosen, andererseits wollte sie eine Steuerung aus dem Westen konstruieren. Die Ursachen in der eigenen Gesellschaft wurden nicht wirklich untersucht. Das Weltbild vieler Rechtsextremisten - Intoleranz, Führerfiguren, einfache Antworten auf schwierige Fragen - entspricht vielen Mustern, die in der DDR vermittelt wurden. Die DDR war eine geschlossene Gesellschaft, Freiheit und Toleranz konnten sich dort nicht entwickeln.

Wo wollen Sie sich von Ihren Vorgängern Joachim Gauck und Marianne Birthler absetzen?

Ich baue auf auf dem, was meine beiden Vorgänger geleistet haben. Mir ist es zudem wichtig, ein Bewusstsein für den Alltag in der Diktatur zu entwickeln. Auch wenn der Einzelne sie nicht immer gespürt hat, es gab eine allgegenwärtige Angst vor unberechenbaren Konsequenzen, wenn man nicht der Parteilinie folgte. Viele Eltern zum Beispiel haben ihre Kinder gebeten, in der Schule angepasst zu bleiben - damit der Beruf des Vaters oder der Mutter nicht gefährdet wird durch das aufmüpfige

Verhalten der Kinder. In diesen Situationen hat die Stasi gewirkt - auch dann, wenn sie gar nicht da war. Allein die Angst vor ihr reichte schon. Das sollten wir besser noch verstehen lernen, warum es 40 Jahre lang funktioniert hat.

Die Fragen stellte Klaus Wallbaum.