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"Ein Funktionär der Machtsicherung"

Stasiakten-Beauftragter Roland Jahn über Erich Honecker, das Leben in der Diktatur und den Umgang mit der Vergangenheit

Sie waren 18 Jahre alt, als Walter Ulbricht 1971 gestürzt und Erich Honecker Parteichef wurde. Hatten Sie Hoffnung, dass sich in der DDR etwas ändern würde?

Roland Jahn: Ja, die Hoffnung hatte ich, denn es schien sich ein Generationswechsel anzubahnen. Ulbricht stand für das Alte, das Verkrustete, die Beschränkungen für die Jugend, die Ablehnung der "westlichen Beatmusik" zum Beispiel. Honecker, der ja lange Chef der Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) war, gab mir einen Funken Hoffnung auf einen Wandel.

Wurde die Hoffnung erfüllt?

Jahn: Zunächst scheinbar. Genährt wurde dies durch die Weltfestspiele der Jugend 1973 in Ostberlin, wo junge DDR-Bürger Gleichaltrige aus aller Herren Länder kennen lernten und mit ihnen diskutierten. Honecker präsentierte die DDR weltoffen - dass es sich um eine reine Showveranstaltung ohne konkreten Bezug zur DDR-Wirklichkeit handelte, wurde vielen erst nach den Festspielen bewusst, als wieder deutlich wurde, dass man die Menschen, die man in Ostberlin getroffen hatte, nie würde besuchen dürfen.

Als Honecker an die Macht kam, war die Reformbewegung des Prager Frühlings gerade drei Jahre zuvor niedergeschlagen worden. Gab es in der DDR 1971 noch Gruppen, die dieses Ziel eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz für möglich hielten?

Jahn: Bei denen, die in die DDR hineingeboren worden waren, die die DDR als ihre Heimat betrachteten, war der starke Wunsch nach einer gerechteren Gesellschaft, nach einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz wie in Prag noch eine starke Vision.
Wir hatten als Jugendliche nicht das Gefühl, dass dieser Traum sich nie erfüllen würde.

Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre saß Honecker immer fester im Sattel. Kann man sagen, dass sich spätestens da die DDR-Bürger mit dem Regime arrangierten?

Jahn: Sowohl als auch. Es gab beide Bewegungen. Nach meiner Wahrnehmung waren die 70er-Jahre ein Wechselbad zwischen Hoffnung und Resignation. Die einen richteten sich ein in der Nischengesellschaft DDR, haben das genutzt, was der Staat anbot, den Ehekredit etwa, den Arbeitsplatz auf Lebenszeit. Für viele gab es einen Rückzug in die Familie. Andere haben versucht, das zu nutzen, wozu sich die DDR 1976 bei der Abschluss-Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) bekannt hatte, das Menschenrecht auf Reisefreiheit etwa. Man stellte also Ausreiseanträge. Das Recht auf Versammlungsfreiheit. In dieser Zeit organisierten sich verstärkt Oppositionsgruppen.

Wie haben Sie persönlich diese Jahre als Oppositioneller empfunden, im Land in der Minderheit, ohne große Hoffnung auf Reformen?

Jahn: Meine Methode war, Honeckers Staat beim Wort zu nehmen und sich auf die Schlussakte von Helsinki zu berufen. Also nicht zu warten, bis Menschenrechte gewährt werden, sondern sich immer wieder ein Stück Freiheit auch zu nehmen. Das war eine Überlebensstrategie, um sich das Leben in der DDR akzeptabel, ja, schön zu machen mit der Familie, mit Freunden. Aber beim Versuch, diese kleinen Freiräume zu nutzen, mussten wir immer wieder Einschränkungen erleben, Festnahmen und Inhaftierungen. Da sind wir schnell an enge Grenzen gestoßen.

Honecker war intellektuell offenbar keine große Leuchte, er war ein grauer Apparatschik. Warum konnte er sich dennoch so lange an der Spitze des Politbüros und des Staates DDR halten?

Jahn: Das ist ja das große Rätsel gewesen, warum sich so viele Menschen von so einem drögen Parteifunktionär so lange führen ließen. Honeckers Stärken lagen in der Machtsicherung, jenseits der propagierten Parteiparolen. Und es ist bis heute erschreckend, dass viele intelligente Menschen in ihren Diplom- oder Doktorarbeiten ellenlange Honecker-Zitate verwandt haben. Gerade deshalb ist die Aufarbeitung der Vergangenheit ja so wichtig: Warum machten so viele mit, warum passten sie sich an? Das müssen wir weiter untersuchen und erforschen.

Was zeichnete Honeckers Regierungs- und Führungsstil aus?

Jahn: Der Machterhalt hatte Priorität, ihm wurde alles untergeordnet. Nach außen sich liberal gebend, international nach Anerkennung strebend, hat Honecker doch im Innern seine Politik der Machterhaltung stets knallhart durchgesetzt. Nicht von ungefähr war er der Organisator des Mauerbaus 1961, nicht von ungefähr war er es, der Grenzsoldaten für ihre Todesschüsse belobigen ließ. Wenn er die Politik der SED gefährdet sah, wurde mit Repression und oft auch Verhaftungen reagiert.

Muss man von einer Alleinherrschaft Honeckers sprechen?

Jahn: Es gab viele Honeckers auf allen Ebenen, Kreissekretäre, Kombinatsleiter, Schuldirektoren. Im Politbüro der SED war es ein Dreigespann: Generalsekretär Honecker, Stasi-Chef Erich Mielke und Wirtschaftschef Günter Mittag. Sie haben die politische Linie gemeinsam bestimmt.

Hat Honecker in diesen Jahren, wo die DDR ja zunehmend international anerkannt wurde, wo man Olympia-Medaillen scheffelte und wo es - so behauptete zumindest die Propaganda - wirtschaftlich bergauf ging, irgendeine Form von Popularität erreicht?

Jahn: Richtig populär war er nie. Aber es schmeichelte ihm und in gewisser Weise dem Staat, dass man international anerkannt wurde, dass die DDR UN-Mitglied wurde, dass man im Westen - schließlich auch in der Bundesrepublik - offiziell empfangen wurde.

Spätestens seit der Ostpolitik der Regierung von Willy Brandt und Walter Scheel rückte das Ziel der Wiedervereinigung in den Hintergrund, angestrebt wurden nun vor allem menschliche Erleichterungen. Haben die Oppositionellen in der DDR diese Entspannungspolitik als richtig angesehen oder fühlte man sich vom Westen im Stich gelassen?

Jahn: Wir haben uns oft allein gelassen gefühlt, wenn bei den zunehmenden Besuchen von Westpolitikern diese nicht den Kontakt mit der Opposition suchten. Das haben erst die Grünen durchbrochen. Petra Kelly etwa war zwar auch bei Honecker zu Besuch, hat aber immer auch Oppositionelle getroffen.

Nach der Niederschlagung der Solidarnosc-Bewegung in Polen, dem Einmarsch der Russen in Afghanistan und dem Ringen um die Nachrüstung betonten die Regierung von Helmut Schmidt und das Honecker-Regime mehrfach, man dürfe den deutschen Gesprächsfaden nicht abreißen lassen. War das auf Honeckers Seite tatsächlich so gemeint, oder spielte der Osten da mit verteilten Rollen?

Jahn: Es ist eine große Herausforderung für Historiker, dies anhand von Dokumenten noch einmal genau zu betrachten. Denn es war Honecker tatsächlich gelungen, dem Westen vorzugaukeln, die DDR betreibe Entspannungspolitik.

Im Juni 1983 wurden sie zwangsausgebürgert, gefesselt in den Interzonenzug gesetzt und abgeschoben. Wissen Sie heute, auf welcher Ebene diese Entscheidung getroffen wurde?

Jahn: Stasi-Chef Erich Mielke hat persönlich den Maßnahmeplan zur Ausbürgerung abgezeichnet. Persönlich habe ich nach der Abschiebung an Honecker geschrieben und ihn gebeten, meine Rückkehr zu ermöglichen. Ich habe aber keine Antwort erhalten.

Wie haben Sie - nun in Westberlin lebend und arbeitend - die westliche Haltung gegenüber Honecker empfunden? Hatte man sich nicht zunehmend über den wahren Charakter seines Regimes getäuscht oder täuschen lassen?

Jahn: Es war im Westen ein Alltag eingetreten, in dem man sich mit den politischen Verhältnissen drüben zunehmend abfand. Die Frage des DDR-Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze und die fehlenden Menschenrechte im Osten bewegten seltener die Gemüter. Westliche Politiker müssen sich bis heute vorhalten lassen, dass sie Honecker lange Zeit auch hofiert haben.

Auch die deutsche Einheit war - sehr zur Freude Honeckers - von der politischen Agenda verschwunden.

Jahn: Ja. Der 17. Juni, der Tag der deutschen Einheit, war zwar Feiertag, vor allem aber ein freier Tag. Über die deutsche Einheit wurde von vielen nicht mehr nachgedacht. Dies geschah erst wieder, als die friedliche Revolution im Osten gesiegt hatte.

Es gab Udo Lindenbergs Lied vom Sonderzug nach Pankow, wo er Honecker als Oberindianer bezeichnete, der eigentlich auch nur ‘n Rocker sei. Sind damit Honecker und sein Regime nicht verniedlicht worden?

Jahn: Ich sehe das etwas anders. Lindenberg hat vor allem vielen Rockfans in der DDR aus der Seele gesprochen. Er hat mit dem Song und dem jahrelangen Tauziehen um einen Auftritt im Ostberlin Honecker und sein Regime eher vorgeführt.

Mitte der 80er-Jahre begann Michail Gorbatschow in der Sowjetunion, mit Perestroika (Umgestaltung) und Glasnost (Offenheit) das Land zu reformieren. In Ostberlin stellte man sich teilweise sogar offen gegen den großen Bruder in Moskau. Wie war das möglich?

Jahn: Honecker litt zwar unter einem erheblichen Realitätsverlust, was die wirtschaftliche Lage im eigenen Land anging.Aber er konnte eben auch feststellen, dass ein Großteil der Menschen sich mit dem Staat arrangiert hatten und das SED-System damit stabilisierten. Er hat Perestroika und Glasnost als innersowjetische Probleme abgetan, aber für die kleine Opposition der DDR war das Rückwind.

War Ihnen bewusst, dass die Politik Gorbatschows das Ende Honeckers bedeuten könnte?

Jahn: Mitte der 80er-Jahre wurde mir klar, dass die DDR mittelfristig nicht mehr weiter bestehen wird. Dass sie wegen ihrer inneren Widersprüche in sich zusammenbrechen würde. Und 1989 wurde endgültig deutlich, dass die Menschen die Angst vor Honeckers System verloren und für Menschenrechte auf die Straße gingen. Wenn Menschen die Angst verlieren, ist eine Diktatur am Ende.

Da tönte Honecker aber noch davon, dass die Mauer noch 50 oder 100 Jahre stehen werde. Hat er das wirklich geglaubt?

Jahn: Vielleicht. Das hätte allerdings die Erhaltung der Macht durch die SED vorausgesetzt. Aber selbst viele Funktionäre hatten gesagt: Wenn es eine Demokratisierung der DDR nach westlichem Vorbild gibt, verliert die DDR ihre Existenzberechtigung. Und genau so ist es gekommen.

Nach der Wende kam heraus, das Honecker und die anderen DDR-Größen zwar sehr spießig, aber doch in einem gewissen Luxus lebten. Waren Sie überrascht?

Jahn: Nein. Vieles war bekannt, anderes ahnte man. Über die Privilegien der SED-Spitzen wurden Witze gemacht, es gab Empörung darüber, dass die Honeckers und Mielkes Wasser predigten und selbst Wein tranken. Zum Beispiel durch Fotos von Honecker auf der Jagd fühlten viele sich provoziert, weil die selbst ernannten Führer der Arbeiterklasse sich wie Bonzen aufführten. Und so wurden sie ja auch genannt.

Birgt die Persönlichkeit Honecker heute noch irgendwelche Geheimnisse?

Jahn: Über Honeckers Werdegang vom Chef der FDJ bis zum Generalsekretär der SED gibt es sicherlich noch vieles zu untersuchen. Besonders wichtig scheint mir eine Erforschung seines Bildes in der internationalen Wahrnehmung zu sein. Da wurde stets an vielen Legenden gestrickt, statt seine Rolle als Organisator des Mauerbaus und Verantwortlicher für die SED-Diktatur zu beleuchten.

Viele Menschen, vor allem Jugendliche, wissen heute - über 20 Jahre nach dem Mauerfall - wenig über Honecker und seinen Staat. Ist der Kampf gegen Legenden nicht bereits verloren?

Jahn: Nein. Wir alle sind herausgefordert, bei jungen Menschen Interesse für die deutsche Geschichte zu wecken. Je besser wir begreifen, wie Diktaturen funktionieren, desto besser können wir Demokratie gestalten.

Das Interview führte Wolfgang Blieffert