Direkt zum Seiteninhalt springen

"Fremdenfeindlichkeit kann man nicht einfach aus DDR-Erfahrungen herleiten"

Herr Jahn, 30 Jahre nach der Wende streiten ehemalige DDR-Bürgerrechtler sowie die Parteien in den ostdeutschen Landtagswahlkämpfen, wer sich wie auf die friedliche Revolution von 1989 berufen dürfe. Was sagt dies über unser Land aus?

Roland Jahn: Es sagt aus, dass die Demokratie funktioniert und dass es mit den DDR-Verhältnissen vorbei ist. Im öffentlichen Streit kann jeder seine Meinung sagen, ohne eingesperrt zu werden.
 

Wie beurteilen Sie den aktuellen Streit von Historikern und ehemaligen DDR-Bürgerrechtlern, ob 1989 die Ausreisewilligen, die oft kirchlichen Oppositionsgruppen oder aber irgendwelche Kräfte in der SED den Umsturz ermöglicht hätten?
 

Jahn: Nicht hilfreich ist es, wenn die eigene Meinung zum Maß aller Dinge erklärt wird. Aber wenn es ein Austausch über unterschiedliche Positionen ist, dann ist das doch lehrreich: Es gab damals nun einmal eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure, die sich keineswegs immer einig waren. Sie alle trieben - neben äußeren Einflüssen - die Dinge voran, bis die Verhältnisse kippten. Wenn nur einer dieser Faktoren oder Akteure gefehlt hätte, dann hätte es anders ausgehen können. Deshalb macht die aktuelle Debatte in ihrer Vielstimmigkeit klar, wie komplex das damalige Geschehen war – und dass alle, die die Entwicklung hin zur Demokratie vorangetrieben haben, Anerkennung verdienen.
 

Welchen Nerv trifft die AfD bei doch recht vielen Ostdeutschen, wenn sie mit Slogans wie „Vollende die Wende“ suggeriert, ein Kreuzchen für diese Partei wäre so etwas wie 1989 die Teilnahme an Demonstrationen gegen die SED-Diktatur?
 

Jahn: Offensichtlich geht es der AfD darum, Unzufriedene zu erreichen. Die Partei hat gemerkt, dass Menschen in jenen Bundesländern auch unzufrieden sind mit der Entwicklung seit 1989. Meine Frage wäre, ob Parteien Ängste schüren oder Lösungen für konkrete Probleme anbieten.
 

Einer Ihrer Projektleiter in der Stasi-Unterlagenbehörde, Ilko-Sascha Kowalczuk, deutete in der „Berliner Zeitung“ an, von der AfD-Kampagne könnten sich gerade ehemalige DDR-Mitläufer oder gar -Unterstützer angesprochen fühlen, die 1989 besonders viel verloren hätten. Die würden derzeit denken, dass sie heute etwa durch Zuwanderung abermals viel verlieren könnten, sodass sie jetzt die AfD wählen müssten.
 

Jahn: Grundsätzlich ist es legitim zu fragen, ob und wie DDR-Prägungen heutige Einschätzungen oder Wahlentscheidungen beeinflussen. Dazu gibt es viele Thesen. Zum Beispiel: Wer sich als DDR-Bürger beim Ungarn-Urlaub am Balaton als Deutscher zweiter Klasse fühlte – weil er keine Westmark hatte und in bestimmte Hotels nicht reinkam –, könnte Minderwertigkeitsgefühle entwickelt haben und fürchten, auch heutzutage zurückgesetzt zu werden. Daraus könnten dann neidische Aversionen gegenüber Zuwanderern entstehen. Aber es ist zu simpel, Parteipräferenzen permanent auf DDR- oder Nachwende-Erfahrungen zurückzuführen.
 

Sie halten also wenig von einer historischen Gruppenpsychologie, die alles aus früheren Mentalitätsformungen ableitet.
 

Jahn: Ich lehne es ab, zwischen Vergangenheit und Gegenwart direkte Kausalitäten zu konstruieren. Nehmen Sie mich als Beispiel: Auch ich habe mich zu DDR-Zeiten bei meinen Osteuropa-Reisen manchmal wie ein Deutscher zweiter Klasse gefühlt. Aber ich bin nicht fremdenfeindlich. Das heißt zum einen: Wenn es heute Fremdenfeindlichkeit gibt, kann man sie nicht einfach aus DDR-Erfahrungen herleiten. Zum andern: Man sollte es Leuten mit fremdenfeindlichen Einstellungen nicht erlauben, diese dadurch zu rechtfertigen, dass sie sich zu DDR-Zeiten als Deutsche zweiter Klasse fühlten.
 

Bezeichnet man es im Gespräch mit AfD-Politikern als Verharmlosung der SED-Diktatur, wenn die heutige Bundesrepublik als eine Art „DDR light“ dargestellt werde, dann entgegnen jene Politiker, dass viele Ostdeutsche das halt so empfinden würden und man dies ernstnehmen müsse. Muss man das?
 

Jahn: Was heißt denn „ernstnehmen“? Das heißt doch nicht, dass man etwas einfach glaubt und übernimmt. „Ernstnehmen“ heißt vielmehr, Aussagen inhaltlich zu prüfen und sich zu überlegen, warum wer etwas wie sagt. Also: Was genau meinen Menschen, die dies so sagen? Wo liegen die konkreten Probleme? Und wie können sie gelöst werden? Demokratie ist korrekturfähig. Aber das ist anstrengend. Es werden auch Fehler gemacht. Dies aber mit der Bevormundung in der SED-Diktatur gleichzusetzen, ist absurd.  
 

Sie verwalten hier die objektiven Hinterlassenschaften der Diktatur, die Stasi-Unterlagen...
 

Jahn: Nein. Die Stasi-Akten sind nicht „die“ DDR. Sie sind auf eine spezifisch interessengeleitete Weise entstanden und müssen genauso quellenkritisch betrachtet werden wie jede andere Hinterlassenschaft der DDR und wie jede heutige Äußerung über die DDR. Klar ist freilich auch, dass die Stasi-Akten viel über die Funktionsweise jener Diktatur verraten. Je genauer wir diese Funktionsweise begreifen, umso besser ist unsere Chance, vor dem Hintergrund dieser Vergangenheit, unsere Demokratie zu gestalten.
 

Ist aber hierbei der Blick nicht oft auf die Stasi verengt worden, während der ganze große Rest, zumal die Rolle der SED und das alltägliche Mitläufertum im Ungefähren blieb?
 

Jahn: Die Konzentration auf die Stasi hat dazu geführt, dass Schwarzweiß-Bilder von Tätern und Opfern entstanden sind und viele Leute ein Alibi erhielten, sich nicht mit der eigenen Rolle im Alltag der Diktatur beschäftigen zu müssen. Vielmehr fühlen sie sich ohne Verantwortung für das Geschehene. Die großen Graubereiche des Tolerierens, Mitmachens, Stillhaltens - etwa in den Betrieben - blieben unterbelichtet. Deshalb müssen wir uns endlich neue Fragen stellen: Warum passen sich Menschen in einer Diktatur so lange Zeit an? Warum machen sie mit, obwohl sie dagegen sind? Wie funktioniert ein System der Angst? Was ist mit denen, die aus Überzeugung mitmachen? Welche Verantwortung hat jeder Einzelne? Diese letzte Frage führt bis in die Gegenwart, weil individuelle Verantwortung die Schlüsselkategorie der Demokratie ist.
 

Was müsste jetzt zum 30. Jahrestag an staatlich Organisierbarem geschehen, damit man in den kommenden Jahren sagen könnte, dass dieses Jubiläumsjahr ein Erfolg war?
 

Jahn: Inhaltlich wünsche ich mir, dass gezeigt wird: Wir sind bei aller Kritik an manchen Entwicklungen stolz auf das, was seit 1989 erreicht wurde. Genauso deutlich muss aber auch endlich gemacht werden, dass sich während der gesamten DDR-Zeit immer wieder einige Menschen für Demokratie und Menschenrechte eingesetzt haben. Es wird dringend Zeit für eine große zentrale Ausstellung über Opposition und Widerstand in der DDR von 1949 bis 1989. Es kann doch nicht sein, dass wir all die vergessen, die in den Fünfziger-, Sechziger-, Siebzigerjahren unter größtem Risiko der Diktatur widerstanden haben. In Polen ist das etwas anders: Da hat sich der Staat das große Solidarnosc-Zentrum eine Menge kosten lassen.
 

Das es so etwas in Deutschland nicht gibt – woran liegt das?
 

Jahn: Es liegt daran, dass in der Politik viele Worte gemacht werden, ohne dass gehandelt wird oder werden kann. Aber jetzt zum 30-jährigen Jubiläum der Friedlichen Revolution, des Mauerfalls und dann der deutschen Einheit könnte man doch sagen: So, wir setzen dauerhaft ein Zeichen, dass wir auf diesen Widerstand in der DDR, auf dieses Stück deutsche Demokratie-Geschichte stolz sein können. Der beste Ort für eine große repräsentative Ausstellung über die DDR-Opposition wäre die ehemalige Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße. Die wurde 1990 gestürmt, so wie 1789 in Paris die Bastille gestürmt wurde. Für die Franzosen ist die Bastille seither ein Symbol ihres republikanischen Bewusstseins. Warum eignen wir Deutschen uns nicht auf solche Weise die 1990 gestürmte Stasi-Zentrale an?