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In vielen Köpfen gibt es keine Mauer mehr

Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Roland Jahn im Interview mit ZDF heute.de vom 13. August 2011

Die deutsche Einheit ist 50 Jahre nach dem Mauerbau auf einem guten Weg, findet der Stasi-Unterlagen-Beauftragte, Roland Jahn. Die weitere Aufklärung der DDR-Zeit sei dennoch wichtig für ein Klima der Versöhnung, sagt er im heute.de-Interview.

heute.de: Herr Jahn, am Tag des Mauerbaus waren Sie acht Jahre alt und lebten in der DDR. Können Sie sich daran erinnern?

Roland Jahn: An den Tag kann ich mich nicht erinnern. Aber ich kann mich an die Zeit danach erinnern. Meine Eltern haben deutlich gemacht, dass das letzte Schlupfloch in der Mauer zu ist. Jetzt konnten sie nicht mehr frei entscheiden, ob sie bleiben oder gehen. Meine Eltern waren nicht in der Partei. Sie haben den Mauerbau als etwas hingenommen, mit dem sie sich abgefunden haben.

Sie wurden später aus der DDR ausgewiesen und haben gesagt, Sie seien "über die Mauer geworfen" worden. Rächen Sie als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen heute das Unrecht, das Ihnen und anderen widerfahren ist?

Jahn: Rache ist in keiner Weise mein Anliegen. Ich möchte Versöhnung. In dem Sinne sehe ich auch unsere Arbeit. Wir haben die große Gelegenheit, mit Hilfe der Stasi-Akten aufzuklären. Und je besser wir aufklären, desto besser kann ein Klima der Versöhnung entstehen. Dazu gehört ein altes Sprichwort: Barmherzigkeit führt über den bitteren Weg der Erkenntnis.

Der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Erwin Sellering (SPD), hat gesagt, dass die DDR kein totaler Unrechtsstaat war. Sie haben das kritisiert. Warum?

Jahn: Es ist wichtig, immer wieder zu betonen: Unrecht gibt es überall auf der Welt. Aber in der DDR, wie in anderen Diktaturen, wurde das Unrecht von Staats wegen begangen. Deswegen muss die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet werden.

Moralisch gesehen: Darf Sellering nach dieser Äußerung Ministerpräsident eines ostdeutschen Landes bleiben?

Jahn: Ich bin für eine funktionierende Demokratie. Wenn die Wähler entscheiden, dass jemand Ministerpräsident werden soll, dann soll er es auch werden. Wir haben Meinungsfreiheit. Herr Sellering kann sagen, was er will. Aber er muss sich auch gefallen lassen, dass das, was er sagt, kritisiert wird.

Klingt so, als würden Sie persönlich Sellering nicht wählen.

Jahn: Ich habe in Mecklenburg-Vorpommern nicht zu wählen. Ich wähle in Berlin. Die Mecklenburger sollen selber entscheiden, wen sie wählen. Was ich mir wünsche ist eine offene Diskussion, über das, was war in der DDR. Ich reduziere die DDR nicht auf Mauerbau und Stacheldraht.

Heißt das: Es war nicht alles schlecht in der DDR?

Jahn: Ich weiß, dass es auch ein schönes Leben in der DDR gab. Nicht wegen des Staates, sondern trotz des Staates. Menschen haben sich ein gutes Leben organisiert, haben viele schöne Erlebnisse gehabt mit Familie und Freunden - auch in einer schönen Landschaft. Darum geht es: Die DDR in ihrer Vielfältigkeit zu beschreiben. Sie war eine Diktatur auf der einen Seite - aber auch in der Diktatur hat die Sonne geschienen.

28 Prozent der Anhänger der Linskpartei sehen den Mauerbau als "nötig und gerechtfertigt" an. Wer innerhalb der Linken behindert Aufklärung?

Jahn: Ich will da nicht spekulieren. Aber eins muss ich sagen: Wenn Leute jetzt zum 50. Tag des Mauerbaus diese Mauer rechtfertigen, dann zeigt das, dass diese Menschen aus der Geschichte nichts gelernt haben. Die Mauer hat 28 Jahre lang dafür gesorgt, dass Menschen kaltblütig erschossen wurden, nur weil sie in Freiheit leben wollten.

Ist das Kritik an Linken-Chefin Gesine Lötzsch? Sie hat sich im ZDF-Sommerinterview nicht uneingeschränkt für die Teilnahme an einer Schweigeminute zum 50. Jahrestag des Mauerbaus ausgesprochen.

Jahn: Jeder muss selbst wissen, wie er mit der Vergangenheit umgeht. Ich jedenfalls akzeptiere nicht, dass dieser Mauerbau gerechtfertigt wird - aus was für Gründen auch immer.

Sollte sich die Linkspartei denn an einer Schweigeminute beteiligen?

Jahn: Auf diese Details möchte ich mich nicht einlassen. Das ist Sache der Politik. Hier können sich die Parteien gerne streiten. Die Demokratie lebt vom Parteienstreit.

Wenn Sie heute durch Berlin gehen, 50 Jahre nach dem Mauerbau. Woran erkennen Sie, dass es die Mauer zumindest in den Köpfen immer noch gibt?

Jahn: Ich finde, dass es in vielen Köpfen gar keine Mauer mehr gibt. In Berlin-Mitte sieht man, wie die deutsche Einheit auf einem guten Weg ist. Es ist nicht mehr wichtig, wer Ostler oder Westler ist. Man erkennt gar nicht mehr, wo man ist - ob im Osten oder Westen. Hier in Berlin ist eine Entwicklung im Gang, die uns stolz machen kann. Es ist möglich, so etwas wie diese Mauer zu überwinden.

Dennoch gibt es Westdeutsche, die kaum Freunde aus dem Osten haben - und andersrum. Was könnte die Politik dagegen tun?

Jahn: Das gehört zur Freiheit dazu, sich seine Freunde auszusuchen. Wichtig ist, dass man grundsätzlich offen ist für andere Menschen. Jenseits von Westlern und Ostlern. Neugier wecken, auf andere Lebensgeschichten, das kann auch die Politik befördern.

Wenn wir dieses Gespräch in 20 Jahren noch einmal führen, zum 70. Jahrestag des Mauerbaus. Welche Entwicklungen wünschen Sie sich bis dahin?

Jahn: Ich wünsche mir, dass wir gerade in Deutschland eine demokratische Kultur entwickeln, in dem das Wort Streit etwas positives ist. Mir wird zurzeit zu oft versucht, alles platt zu reden. Ich wünsche mir, dass offene Diskussionen stattfinden. Ich wünsche mir Transparenz in der Gesellschaft - und dazu gehört auch Transparenz in der Vergangenheit. Deshalb halten wir die Stasi-Akten weiter offen, damit Aufklärung stattfinden kann.

Das Gespräch führte Dominik Rzepka