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"Investition in die Demokratie"

Roland Jahn im Interview mit der Neuen Westfälischen, erschienen am 19. November 2016

Die A2, Claas, Bertelsmann, der Nato-Flugplatz, das Kreishaus, Gütersloher Privatpersonen: Die Akten belegen eine hohe Beobachtungsdichte der Stasi im Kreis Gütersloh. Wundert Sie das?

Roland Jahn: Nein, das wundert mich nicht. Es war immer ein Bestreben der DDR-Staatssicherheit, so viele Informationen wie möglich zu sammeln. Minister Erich Mielke hatte die Devise ausgegeben "Genossen, wir müssen alles wissen!". In diesem Sinne ist auch im Kreis Gütersloh sehr zielgerichtet gearbeitet worden, um an Informationen zu gelangen, die für das Wirken der Stasi und der Politik der SED wichtig waren.

Die Auslandsspionage hatte also eine großen Anteil am Machterhalt der SED?

Jahn: Genau dafür war die Auslandsspionage eines der Instrumente der DDR-Geheimpolizei. Denn die Stasi hatte ja den klaren Auftrag, als Schild und Schwert der Partei zu fungieren – und dazu gehörte die Informationsbeschaffung aus dem Westen.

Welche Bereiche in der Bundesrepublik waren für die Stasi besonders wichtig?

Jahn: Besonders im Fokus standen militärische Anlagen, um für den möglichen Kriegsfall vorbereitet zu sein. Die Stasi hat sich aber auch ganz intensiv für die Wirtschaft interessiert, um im Wettlauf der Systeme Nachteile des Sozialismus auszugleichen. Da wurden Patente gestohlen oder Sabotage betrieben. Im Einsatz war die Staatssicherheit auch überall dort, wo es darum ging, bundesdeutsche Politik zu beeinflussen. Der Arm der Geheimpolizei reichte dafür manchmal vom kleinen Ortsverein einer Partei bis hoch zu Bundeskanzler Willy Brandt.

Für diese Informationsbeschaffung spitzelten im Kreis Gütersloh Dutzende Spione. Gibt es aus Ihrer Sicht einen moralischen Unterschied zwischen Spitzeln westlicher Geheimdienste und Auslandsagenten der Stasi?

Jahn: Natürlich kann man die Geheimdienstarbeit aller Staaten kritisch sehen. Nur sollte man klar zwischen einer Geheimpolizei einer Diktatur und dem Geheimdienst einer Demokratie unterscheiden. Die Agenten der Stasi-Auslandsspionage (HVA) zum Beispiel waren eingebunden in das Gesamtsystem der Staatssicherheit. Der Chef der HVA war gleichzeitig einer der Stellvertreter von Stasi-Chef Mielke. Auch die Inoffiziellen Mitarbeiter im Westen haben dabei geholfen, eine Diktatur zu unterstützen und alles dafür getan, dem Machterhalt der SED zu dienen.

Sie treten ja dafür ein, dass Täternamen genannt werden. Demnach gilt das auch für die West-IM?

Jahn: Selbstverständlich. Täter haben einen Namen. Es geht hier um das staatliche Handeln einer Geheimpolizei, bei der Menschen in individueller Verantwortung gearbeitet haben. Ohne ihre Namen zu nennen, ist eine Aufarbeitung nicht möglich. Aber man sollte differenzieren und Tätern die Möglichkeit geben, ihre eigene Sicht der Dinge darzulegen. Manche wurden zur Mitarbeit gezwungen, andere haben sich der Staatssicherheit nahezu aufgedrängt. Gerade die Offenlegung der Agenten der Stasi im Westen ist wichtig, um deutlich zu machen, dass es sich hier um eine gesamtdeutsche Angelegenheit handelt. Die Auseinandersetzung mit den Aktivitäten von Bundesbürgern für die Stasi ist genauso wichtig wie die Aufklärung im Osten.

Wenn die HV A für die Aufarbeitung des Unrechtsregimes der SED doch so eine große Rolle spielt, wieso durfte sich dann gerade diese Abteilung nach dem Mauerfall selbst auflösen?

Jahn: Da haben sich die Bürgerrechtler über den "Runden Tisch" ziehen lassen. Sie sind 1990 der Argumentation gefolgt, dass hier eine Gefahr für Leib und Leben von Menschen besteht, wenn Agentennamen und die Vorgehensweise der DDR-Auslandsspionage öffentlich werden. Deshalb wurde die Vereinbarung der Selbstauflösung der HVA getroffen. Aber genau das war ein großer Fehler, weil es dadurch zur Vernichtung von fast allen HVA-Akten gekommen ist.

Man schätzt, dass mittlerweile rund zehn Prozent der Akten rekonstruiert werden konnten. Wie funktioniert das?

Jahn: Zum Glück gibt es noch Parallelüberlieferungen in den 15 Stasi-Bezirksverwaltungen. Dort war auch die HVA vertreten. Manche Unterlagen sind erhalten geblieben. Diese Akten werden genutzt, um Aufarbeitung zu betreiben. Dazu kommen Informationen aus der sogenannten Rosenholz-Datei, die Namen von Personen enthält, an der die Stasi Interesse hatte, darunter auch ihre Agenten. 1990 war diese verfilmte Kartei auf bis heute ungeklärte Weise in die Hände der Amerikaner gelangt. 2003 erhielt Deutschland eine Kopie der Karteikarten mit deutschen Personen, die der Forschung heute zur Verfügung zu steht.

Und doch ist der größte Teil der Akten unwiederbringlich verloren. Ist das der Grund, weshalb wir – anders als bei Bertelsmann und Claas – über das Weltunternehmen Miele keine Unterlagen gefunden haben?

Jahn: Die Aktenlage zur HVA ist dünn. Forscher und Medien haben es sehr schwer, hier ein geschlossenes Bild zu zeichnen. Welche Operationen es über das vorhandene Material hinaus - vielleicht auch im Kreis Gütersloh - noch gegeben haben mag, wissen wir deshalb leider nicht.

Bei unseren Recherchen trafen wir bei den Güterslohern häufig auf verdutzte Gesichter. Warum ist es noch heute vielen Bundesbürgern gar nicht bewusst, dass ihnen der Kalte Krieg so nah war?

Jahn: Wir sind ja mit unserer Wanderausstellung über das Wirken der Stasi in den westlichen Bundesländern unterwegs, auch um deutlich zu machen, dass die DDR-Geheimpolizei eben nicht nur im Osten, sondern auch hier direkt vor der Haustür der Bundesbürger tätig war. Da gibt es immer großes Erstaunen darüber, wo die Stasi alles aktiv war.

In den Kellern Ihrer Behörde schlummern 16.000 Säcke voller zerrissener Akten. Wie lange wird es dauern, bis der Nachlass der Stasi wiederhergestellt worden ist?

Jahn: Diese Frage lässt sich nicht beantworten. Wir haben in den vergangenen Jahren mehr als 500 Säcke rekonstruieren können und versuchen, weitere zerrissene Dokumente für das Stasi-Unterlagen-Archiv zu erschließen. Die Stasi darf nicht noch im Nachhinein bestimmen, was die Menschen heute lesen dürfen.

Erwarten Sie aus diesen Säcken noch spektakuläre Enthüllungen über die HV A – dann vielleicht auch zum Kreis Gütersloh?

Jahn: Alles ist möglich, aber das wäre reine Spekulation.

Das Gespräch führte Jens Ostrowski