Direkt zum Seiteninhalt springen

"Vergeben, ohne zu vergessen"

Zeitzeuge Roland Jahn: "Wer die Freiheit im Interesse der Sicherheit aufgibt, wird am Ende beides nicht mehr haben"

Die DDR hat Roland Jahn als Staatsfeind verfolgt: der Bundestag hat ihn gut 20 Jahre nach dem Fall der Mauer zum Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen-Behörde gewählt. Als Chefaufklärer sinnt der ehemalige politische Häftling allerdings nicht auf Rache, wie er in einem Gespräch mit SÜDWEST PRESSE-Redakteur Andreas Ellinger betont hat: Er strebt Versöhnung an, welche allerdings die Reue der Täter voraussetzt. Bei der Aufarbeitung der Vergangenheit hat Jahn die Zukunft im Blick: "Je besser wir begreifen, wie die Diktatur in der DDR im Alltag funktioniert hat, desto besser können wir Demokratie gestalten."

Die Überwachung der DDR-Bürger durch den Staat gilt heute als Unrecht - die Überwachung von Bundesbürgern als sicherheitspolitische Notwendigkeit. Im Gespräch mit dem Zeitzugen Roland Jahn werden Schüler dafür sensibilisiert, wie es um den Schutz ihrer Privatsphäre bestellt ist - beispielsweise bei "Facebook" im Internet. Auch über den Bundestrojaner diskutieren sie mit Roland Jahn. Das ist ein Programm, mit dem der Staat in private Computer eindringen kann.

In der DDR war es Programm, mit Spitzeln zu arbeiten: Gegen Jahn hat der Staatssicherheitsdienst einst Freunde als Trojaner eingesetzt.

Roland Jahn: "Es ist hochspannend, wenn ich Diskussionen mit Jugendlichen führe, wie kürzlich an einem Gymnasium. Wir haben plötzlich darüber diskutiert, wie das mit dem Abhören in der Bundesrepublik ist. Wann darf abgehört werden, wie ist das geregelt? In der Folge stellte sich die Frage: Wie viel Freiheit darf man beschränken, um Freiheit zu schützen? Und dabei muss man feststellen: Was nützt uns Sicherheit, wenn die Freiheit nicht mehr da ist? Wer die Freiheit im Interesse der Sicherheit aufgibt, wird am Ende beides nicht mehr haben. Und umgekehrt: Was nützt uns Freiheit ohne Sicherheit? Das richtige Maß zu finden, das ist eine spannende Aufgabe. Da kann man die Erfahrungen aus der Diktatur nutzen, um seine Sinne zu schärfen - um zu entscheiden, wie wir unsere Gesellschaft organisieren, wie wir Freiheit schützen können."

Der CDU-Bundestagsabgeordnete und Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel hat sich die Frage gestellt: "Wer kommt mit dem richtigen Schlüssel, um die Menschen zu öffnen, damit sie so gründlich nachdenken?" Dabei ist ihm Roland Jahn eingefallen und deshalb hat er ihn zu einem Vortrag nach Nagold eingeladen. Mehr als 100 Leute sind gekommen - unter anderem Auszubildende der Tumlinger Firma Fischer.

Roland Jahn: "Ich finde es toll, dass so viele junge Leute hier sind. Denn es geht nicht nur darum, sich zu erinnern und von alten Zeiten zu reden, sondern es geht darum, dass wir aus dem lernen, was Diktatur war. Mein Leitsatz für unsere Arbeit in der Stasi-Unterlagen-Behörde lautet: Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten."

Hans-Joachim Fuchtel merkte an: "Es wird ja immer wieder gefordert, dass man mehr tun soll, zur Information der jungen Menschen. Da sehe ich zum Beispiel die Firma Fischer auf einem exzellenten Weg."

Roland Jahn: "Es geht um Werte in der Gesellschaft. Und jede Firma, die diesbezüglich in die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter investiert, hat einen Vorteil - weil damit auch die Persönlichkeitsentwicklung gefördert wird. Wer sich mit der Gesellschaft in der DDR, mit einem Unrechtsstaat auseinandersetzt, der wird mehr und mehr befähigt, den Rechtsstaat zu gestalten. Das ist der Gewinn. [...] Die Demokratie ist immer so lebendig, wie wir selbst. [...] Und da kann man extrem viel lernen, wenn man in die Vergangenheit zurückblickt und erkennt, dass die Aufbereitung der SED-Diktatur eine gesamtdeutsche Angelegenheit ist. Wenn man sieht, wie westliche Firmen mit der DDR Geschäfte gemacht und ihre Profite herausgezogen haben. Man denke nur an die Häftlingsarbeit und die Pharma-Tests in Krankenhäusern - und die Patienten wussten es zum teil nicht. Das muss jetzt genau untersucht werden. Auch da helfen die Stasi-Akten."

Roland Jahn appellierte, "genau hinzusehen", was die Täter betrifft:
"Wie kommt es dazu, dass ein Arzt in der DDR bei Medikamenten-Versuchen mitgemacht hat? Da gibt es keine einfache Wahrheit. Der Arzt wollte vielleicht seinem Patienten helfen, weil kein Medikament da war, und er sah die Chance, aus dem Westen ein Medikament zu bekommen, das seinen Patienten hilft. Daher kann man nicht sagen, der Arzt habe nur verwerflich gehandelt."

Roland Jahn: nannte ein weiteres Beispiel:
"Was ist mit der jungen Frau, die bei einer Party mit Oppositionellen war und die Stasi hat eine Razzia gemacht und sie festgenommen? Dann hieß es: ,Dass Sie mit der Opposition gemeinsame Sache machen, das hätten wir nicht gedacht. Sie sind also auch eine Staatsfeindin. Ob da Ihr Job in der Universitäts-Bibliothek noch angebracht ist, das müssen wir uns erst noch überlegen. Sie könnten allerdings beweisen, dass Sie gar nicht so staatsfeindlich sind \u2013 indem Sie uns erzählen, wann solche Partys sind ...". Wenn sie abgelehnt hat, dann sagte der Stasi-Offizier: ,Aber Sie wissen doch ganz genau, dass Ihr Babysitter nachts nicht so lange da ist. Was werden Ihre Kinder sagen, wenn Sie nicht nach Hause kommen?' Da möchte ich die junge Frau sehen, die sich gegen ihre Kinder entscheidet und nicht mit der Stasi zusammenarbeitet. Daher muss man genau hinschauen, wie jemand in die Fänge der Stasi geraten ist."

SÜDWEST PRESSE: "Sie schildern, wie Angst und Anpassung in der SED-Diktatur gewirkt haben - sehen Sie in der Bundesrepublik Bereiche, in denen Angst und Anpassung für die Demokratie gefährlich werden könnten?"

Roland Jahn: "Das betrifft die Politik, die Wirtschaft, die Gesellschaft insgesamt. Es geht darum, dass Menschen den Widerspruch wagen\u2026 Für jeden gibt es im Alltag Situationen, in denen er sich genau überlegt, ob er einen Widerspruch riskiert oder ob er lieber den Mund hält. Das fängt in der Familie an und geht im Berufsalltag oder im Schulalltag weiter. Es ist wichtig, dass wir in allen Bereichen angstfrei sind - dass durch die Wahrnehmung von Meinungsfreiheit keine Nachteile entstehen können. Und deswegen muss gerade in der Entwicklung von jungen Menschen sichergestellt sein, dass sie in Schule und Beruf keine Nachteile bekommen, wenn sie ein offenes Wort wagen. Das gilt natürlich auch für andere Rechte wie die Pressefreiheit und die Versammlungsfreiheit."

SÜDWEST PRESSE: "Wie betrachten Sie vor diesem Hintergrund den Wandel in der Wirtschaftswelt? Manche sagen, an vielen Werkstoren ende die demokratische Grundordnung..."

Roland Jahn: "Es gilt darauf zu achten, dass es keine demokratiefreie Zone in der Bundesrepublik gibt. Die Menschenrechte müssen gewahrt sein - über alles andere kann man streiten. Und dabei darf man nicht an einer Grenze Halt machen. In den internationalen Beziehungen der Staaten Europas, in den wirtschaftlichen Beziehungen mit Griechenland, Zypern und so weiter - da geht es um Partnerschaft und um Fairness. Es kommt letztlich auf jeden Verbraucher an: Jeder, der ein billiges Produkt kauft, sollte sich fragen, wo ist das unter welchen Bedingungen produziert worden? Und jeder sollte sich dessen bewusst sein, dass es seinen Preis hat, wenn die Menschenrechte gewahrt werden. Das muss sich auch jede Firma klar machen, wenn sie Handelsbeziehungen mit China eingeht. China ist kein demokratischer Staat. Wie kann garantiert werden, dass dort Menschen nicht ausgebeutet werden? Wie kann heutzutage garantiert werden, dass bei Pharma-Tests, wenn sie im Ausland gemacht werden, wirklich internationale Standards eingehalten werden? In diesen Fragen können wir aus den Erfahrungen mit der DDR lernen. Auch da gab es diese Handelsbeziehungen. Und wir wissen, man hat sich auf das Wort der DDR-Verantwortlichen verlassen - und am Ende war man verlassen. Die Dokumente in der Stasi-Unterlagen-Behörde zeigen, dass man Leuten vertraut hat, denen es nur um den Machterhalt ging, um devisenträchtige Geschäfte. Auf Kosten der eigenen Bevölkerung."

Der Mühlener Pfarrer Johannes Unz sagte in Nagold zu Roland Jahn: "Mich würde interessieren, inwiefern Sie den Eindruck haben, dass die Verantwortlichen für das Unrecht auch zur Rechenschaft gezogen worden sind?"

Roland Jahn: "Am Anfang stand natürlich auch die Frage des Strafrechts. Da ist es wichtig, den Rechtsstaat hochzuhalten. Denn wir saßen für den Rechtsstaat im Gefängnis und dann kann man ihn nicht beiseiteschieben, wenn es darum geht, die Täter des Unrechtsstaates zu bestrafen. Deswegen ist es ganz wichtig gewesen, dass man da ganz streng rechtsstaatlich vorgeht. Das heißt, nur das, was in der DDR strafbar war, kann zu einer Verurteilung führen. Deshalb sind viele davongekommen. Gerade wenn man so ein Thema wie die Rechtsbeugung nimmt. Das Strafgesetz der DDR hat vieles möglich gemacht und dadurch konnte kaum ein Richter wegen Rechtsbeugung verurteilt werden. Auch die Tätigkeit für die Staatssicherheit war keine Straftat nach DDR-Recht, und so konnten nur diejenigen, die Bundesbürger waren und im Westen spioniert haben, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden - wegen nachrichtendienstlicher Tätigkeit. Der Spitzel aus Westdeutschland, der von einem Führungsoffizier aus der DDR angeworben worden war, hat eine Strafe bekommen, aber der Führungsoffizier, der ihn angeworben hat, nicht. Das muss man erstmal verstehen ... [...] Es gibt einige hundert Strafverfahren, die zu Ende geführt worden sind. Es sind nur ganz wenige ins Gefängnis gekommen. Zum Beispiel in Folge der Mauerschützenprozesse, bei denen man vom Soldaten an der Grenze bis zum Mitglied des Politbüros alle angeklagt hat. Egon Krenz und Günther Schabowski sind die Prominentesten, die ins Gefängnis gekommen sind. Daran sieht man, dass die Justiz einiges versucht hat."

Roland Jahn strebt eine Aufarbeitung über das Strafrecht hinaus an:

Roland Jahn: "Es gibt eine Chance, dass Täter mehr und mehr bereit sind, auch zu bereuen und sich zu ihrer Schuld zu bekennen - das ist ein Weg, der Versöhnung und Vergebung möglich macht. Und das ist das Wichtige: Dass wir die Stasi-Akten nutzen, um aufzuarbeiten, die eigene Geschichte zu reflektieren. Wir müssen versuchen, in der Gesellschaft ein Klima zu schaffen, dass man wieder miteinander auskommt. Es geht nicht um Abrechnung, sondern es geht um Aufklärung - um Aufklärung der individuellen Verantwortung."

Roland Jahn hat kürzlich in dem Gerichtssaal, in dem er vor 30 Jahren verurteilt worden ist, mit dem ehemaligen Stasi-Offizier Bernd Roth diskutiert. Roth wurde danach wie folgt zitiert: "Ich sage Ihnen ganz offen: Ich habe Sie damals gehasst." Doch er hat bereut. Hinterher schrieb er Roland Jahn: "Die Schmach und das Leid, dass Sie und Ihre Freunde ertragen mussten, bedaure ich zutiefst." Und Jahn sagte in Nagold: "Mein Wunsch ist es: Vergeben, ohne zu vergessen." Im Stasi-Archiv lagern, wenn sie aneinandergereiht würden, 111 Kilometer Akten.

Roland Jahn: "Es ist erstmalig in der Welt, dass die Akten einer Geheimpolizei aus einer Diktatur gesichert worden sind und von den Menschen benutzt werden können, die bespitzelt worden sind von dieser Geheimpolizei. [...] Das ist ein Vorbild geworden, in ganz Osteuropa. Und neuerdings kommen Politiker und Menschenrechtsaktivisten aus den Staaten der arabischen Länder und wollen wissen: ,Wie habt Ihr das in Deutschland gemacht, wie nutzt Ihr diese Akten'. [...] Der Anblick dieser Akten ist ein Monument der Überwachung, ein Monument, das die Repression in der Diktatur deutlich macht. Aber es ist auch ein Ausdruck des Freiheitswillens der Menschen. Wir haben es geschafft, wir haben am Ende eine friedliche Revolution gemacht und das ist einmalig gewesen in der deutschen Geschichte: Eine erfolgreiche Revolution, die zum Mauerfall und zur deutschen Einheit geführt hat. Die Deutsche Einheit haben die Menschen geschaffen, insbesondere die Menschen in Ostdeutschland."

Welche persönliche Bilanz zieht der Bürgerrechtler? Eutingens Pfarrer Beda Hammer erkundigte sich, wie das Leben für Roland Jahn, seine Lebensgefährtin und ihre gemeinsame Tochter weiterging - nach der Freilassung aus dem Gefängnis 1983.

Roland Jahn: "Meine Lebenspartnerin hat gesagt: 'Ich will nicht länger von der Großzügigkeit der Staatssicherheit abhängig sein. Ich geh in den Westen.' Und ich hab gesagt: 'Nein, jetzt muss man durchhalten.' Das hat zum Zerwürfnis geführt. Wir haben uns getrennt, obwohl wir gute Freunde sind. Da sehen Sie mal, was das damals für ein Spannungsverhältnis war. Ich hatte meine Eltern in Jena und das war meine Heimat - das war damals ein Punkt für mich. Aber gerade die politische Vision, jetzt noch einmal dagegenzuhalten, die hat mich getrieben. Meine Lebenspartnerin wollte einen anderen Weg gehen. Und es war nicht möglich, einen Weg zu gehen, der beides möglich macht. Das war entweder-oder.... Und das wirkt bis heute bei mir nach. Meine Tochter hat mich nach über 20 Jahren gefragt: 'Papa, dass Du geblieben bist, damals, das war doch eigentlich auch eine Entscheidung gegen mich?' Ich konnte ihr keine Antwort geben. Es rollten genauso die Tränen wie damals im Gefängnis, als die Stasi-Leute mir Fotos von ihr gezeigt haben."

Das Gespräch führte Andreas Ellinger