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"Wahrheit schafft Klarheit"

Ein Interview von Evelyn Finger mit Roland Jahn in der Wochenzeitung "Die Zeit", erschienen am 29. März 2012

Herr Jahn, gibt es eigentlich noch etwas zu tun für Sie?

Roland Jahn: Aber ja. Immer noch stellen Tausende jeden Monat Antrag auf Akteneinsicht. Menschen wollen ihr Schicksal ordnen. Wir helfen ihnen dabei. Außerdem geht es um einen Dialog mit der nächsten Generation. Meine Tage sind voll.

Viele nennen die Stasi-Unterlagen-Behörde immer noch Gauck-Behörde. Aber nur wenige erinnern sich, dass Joachim Gauck als erster Herr über die Akten einer der unbeliebtesten, meistgefürchteten Männer der Republik war. Jetzt ist er Präsident. Könnte man da nicht sagen: Auftrag erfüllt? Mission accomplished?

Jahn: Seine Präsidentschaft ist eine ungeheuere Wertschätzung seiner Arbeit. Aber die Arbeit der Behörde ist deshalb nicht zu Ende. Viele sehen heute klarer als vor zwanzig Jahren, dass die Aufarbeitung der Diktatur ein Gewinn für unsere Demokratie ist.

Inwiefern?

Jahn: Weil wir aus den Akten lernen, wie wichtig Widerspruch ist und wie schwer es uns Menschen manchmal fällt, zu widersprechen, aber wie leicht, dem Anpassungsdruck nachzugeben.

Hätten Sie sich damals, als der Streit um die Öffnung der Akten tobte, vorstellen können, dass einer wie Gauck eines Tages an der Spitze der Bundesrepublik steht?

Jahn: Ich habe unmögliche Dinge schon immer für möglich gehalten. Auch dass irgendwann die Mauer fällt. Ich glaube, dass eine Gesellschaft sich immer verändern kann.

Wo waren Sie, als die Behörde für die Stasi-Unterlagen gegründet wurde?

Jahn: Daran erinnere ich mich noch genau. Ich habe als Journalist den ganzen Streit um die Akten erlebt und den Prozess bis zur Gründung der Behörde begleitet - von der Stürmung der Stasi-Zentralen bis zur ersten Akteneinsicht IM Januar 1992. Die Gauck-Behörde war ja kein Geschenk der Bundesregierung, sondern das Verdienst der Bürgerrechtler, die die Gebäude besetzten und für die Aktenöffnung in den Hungerstreik traten.

Helmut Kohl und sein Innenminister Wolfgang Schäuble lehnten die Aktenöffnung ab.

Jahn: Sagen wir so: Die Bundesregierung wollte die Öffnung nicht, und viele Altkader in der DDR wollten sie auch nicht. Es war eine kleine aktive Minderheit, die die Chance zur Aufklärung erkannte. Da haben die Ostdeutschen etwas eingebracht in die bundesdeutsche Gesellschaft.

Einige Ostdeutsche.

Jahn: Einige, ja. Sie wollten Transparenz herstellen über staatliches Handeln. Und dieser Gedanke wurde weitergetragen. Schauen Sie sich die Entwicklung an: Wir haben mittlerweile ein Informationsfreiheitsgesetz, wir haben eine Bürgerschaft, die den Staat kontrollieren will, wir haben eine sehr aktive Presse, die Akten über staatliches Handeln einfordert. Auch die Partei der Piraten ist ein Ausdruck des neuen Bedürfnisses nach Offenheit.

Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist gerade novelliert worden. Dabei wurde ein Passus eingefügt, der verlangt, die MfS-Mitarbeiter, die vor zwanzig Jahren von der Behörde angestellt wurden, zu entlassen.

Jahn: Versetzen, nicht entlassen.

Ihre Kritiker nennen das Rechtsbruch.

Jahn: Man kann mich gern kritisieren. Aber das Gesetz haben Bundestag und Bundesrat gemacht, geprüft und verabschiedet. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist übrigens schon achtmal novelliert worden. Mal ging es um Überprüfungsmöglichkeiten in den Parlamenten, mal um bessere Akteneinsicht. Und seit dem 1. Januar 2012 ist es nun für die Angehörigen von Verstorbenen leichter geworden, in die Akten zu schauen.

Warum interessieren Hinterbliebene sich überhaupt für die Akten?

Jahn: Letzte Woche kam eine Frau zu mir und schilderte ganz aufgeregt, ihre Mutter sei verstorben und habe einen Brief aus DDR-Zeiten hinterlassen. Darin distanziert die Mutter sich von der Tochter, weil die einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Die Frau fragte mich: Wie ist das möglich? Wurde meine Familie von der Stasi unter Druck gesetzt? Jetzt hat sie Akteneinsicht beantragt, weil sie mit sich und der Mutter ins Reine kommen will.

Finden Sie den ewigen Streit, wie lange die Akten zugänglich sein 1 / 10 sollen, deprimierend?

Jahn: Nein, ich finde es wichtig, dass alles hinterfragt wird. Streit gehört zur Demokratie, auch der Streit um das Maß an Wahrheit, das wir uns zumuten wollen. Deprimierende Momente gab es natürlich. Ich ärgere mich bis heute darüber, dass ich die Vernichtung der elektronischen Datenträger der Stasi nur gefilmt habe, anstatt sie nachts zu klauen, um sie zu sichern.

Gehörten Sie immer zu den Wahrheitsmaximalisten, die alles ans Licht bringen wollen?

Jahn: Ich finde, was unter der Decke ist, gehört aufgeklärt. Man sollte nicht freiwillig auf die Möglichkeit verzichten, etwas zu wissen.

Auch wenn die Wahrheit weh tut?

Jahn: Ja. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Meine Akteneinsicht hat mir gezeigt, dass mein Rausschmiss aus der Uni mit dem Spitzelbericht des Seminarleiters begann; und dass mein Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, als ich im Gefängnis saß, IM der Staatssicherheit war und nicht einfach mein Seelsorger und Freund. Die Stasi hatte mein Leben gesteuert, mir die Selbstbestimmung genommen. Zu wissen, dass es so war, half mir, das gestohlene Leben zurückzuholen.

Wäre es nicht angenehmer gewesen, sich ein paar Illusionen zu bewahren?

Jahn: Nein. Ich war zwar enttäuscht, aber ich lebte nicht länger in Täuschung. Ich wurde ent-täuscht. So geht es vielen Bespitzelten, dass die Akten sie erschrecken, aber auch befreien.

Man kann also mit der Wahrheit leben, egal, wie hart sie ist?

Jahn: Das ist meine persönliche Erfahrung. Wahrheit schafft Klarheit. Und ich kenne keinen, der es bereut hat, in die Akten zu schauen.

Auch nicht Vera Lengsfeld, die jahrelang von ihrem Ehemann bespitzelt wurde?

Jahn: Sie hat das schmerzvoll zur Kenntnis genommen, aber durch dieses Wissen konnte sie sich mit ihrem Mann am Ende versöhnen. Die Kenntnis der Akten machte Versöhnung erst möglich.

Na ja, ohne die Akten hätte es gar keinen Konflikt gegeben.

Jahn: Doch, der Konflikt war da. Er war bloß nicht sichtbar. Ich kann nur das vergeben, wovon ich auch weiß. Ich kann nur dem vergeben, den ich auch kenne.

Manche wollen ihre Akten trotzdem nicht sehen. Weil man manche Dinge schwer vergibt?

Jahn: Mag sein. Aber was ist das für ein Leben? Ein Leben in Lüge! Das macht uns nicht frei. Der Dissident und Schriftsteller Jürgen Fuchs hat von den "Landschaften der Lüge" gesprochen. Das heißt, dass man irgendwann unfähig wird, offen und ehrlich zu reden. Wer etwas zu verbergen hat, legt in vielen Lebenssituationen keine Offenheit mehr an den Tag. Ich sehe bei ehemaligen Stasi-Spitzeln, die nicht zu den Fehlern ihrer Vergangenheit stehen, dass sie auch heute vor Konflikten versagen. Das hat dann nicht nur mit DDR zu tun, sondern auch mit der Gesellschaft, in der wir leben. Sind wir bereit, Verantwortung für unsere Fehler zu übernehmen?

Und? Sind wir es?

Jahn: Nur wenn wir uns nicht mehr hinter anderen verstecken. In den Akten sehen wir, dass die Stasi kein bloßer Apparat war, sondern dass Menschen gehandelt haben, jeder in seiner Verantwortung. Mein Freund Matthias Domaschk wurde von einem Spitzel verraten, kam in U-Haft, und 48 Stunden später war er tot. Ein junger Mann von 23 Jahren. Spitzel, Führungsoffizier, Vernehmer, Gefängniswärter.Viele waren dabei, aber keiner wollte es gewesen sein. Wenn ich das übersetze ins Hier und Heute, muss jeder sich prüfen: Was bewirke ich mit dem, was ich täglich tue und unterlasse?

Sie sind viel unterwegs an Schulen. Wie reagieren Jugendliche auf die alten Geschichten?

Jahn: Es geht nicht um alte Geschichten. Es geht um das, was uns Menschen ausmacht. Um Feigheit und Mut, um Anpassen und Widersprechen. Die Jugendlichen sehen so grundsätzliche Fragestellungen sehr schnell. Sie führen immer gleich die Auseinandersetzung darüber: Wie verhalte ich mich in dieser Gesellschaft? Halte ich den Mund, wenn es mir nützt? Oder bin ich frei von Angst?

So ähnlich hat Joachim Gauck es auch in seiner Antrittsrede gesagt: Fürchtet euch nicht!

Jahn: Ja, wir sind als Gesellschaft oft noch viel zu konfliktscheu.

Aber was nützt uns die offene Debatte über die Verbrechen der Stasi, wenn die Verbrecher nicht bestraft werden? Versöhnung ist schwierig.

Jahn: Versöhnung hat nichts mit Strafe zu tun, sondern mit Erkenntnis. Es gibt überhaupt nur eine Chance, den Konflikt zu bereinigen: wenn wir ein Klima der Versöhnung schaffen, indem wir ehrlich zueinander sind. Ich wünsche mir, dass mein Vernehmer erzählt, was er getan hat. Ich werfe ihm nicht vor, was war, sondern dass er so tut, als sei nichts gewesen.

Ist Versöhnung nicht eine Zumutung für die Opfer?

Jahn: Die Opfer sind aber keineswegs unversöhnlich. Ich erlebe in den Bürgersprechstunden immer wieder Menschen, die lange Jahre in Haft saßen und hauptsächlich darunter leiden, dass die Täter Unrecht nicht eingestehen. Es befreit die Opfer aus ihrer Rolle, wenn ein Eingeständnis da ist.

Hier hat Ihre Behörde als Wahrheitsagentur eine symbolische Aufgabe.

Jahn: Es wäre auch schön, wenn die Rehabilitierungen nicht so bürokratisch abliefen, indem ehemalige politische Häftlinge nur ein Papier zugeschickt bekommen. Warum überreichen die Ministerpräsidenten der Länder oder der Bundespräsident nicht diese Urkunde in einem feierlichen Rahmen? Es sind oft kleine symbolische Dinge, die den Menschen ungeheuer helfen.

Die Stasi-Unterlagen-Behörde ist nicht zuständig für Rehabilitierungen.

Jahn: Aber ich bin auch zuständig für die Opfer. Der Gesetzesauftrag lautet in Paragraf 1, Akteneinsicht für die Betroffenen zu ermöglichen, ihnen ihre Würde zurückzugeben. Was wir dabei in 20 Jahren geschaffen haben, hat weltweite Wirkung. Es kommen nun Besucher aus den arabischen Ländern in unser Archiv und fragen: Wie habt ihr das gemacht, dass das Aussprechen der Wahrheit nicht zu Rachsucht führt? Wir haben mit einem rechtsstaatlichen Verfahren einerseits Transparenz und andererseits Datenschutz geschaffen. Wichtig ist auch, dass wir den Tätern heute ermöglichen, Fehler einzugestehen. Wir unterstützen daher Projekte wie den Film Feindberührung, in dem ein Spitzel
und der Bespitzelte gemeinsam Akten lesen. Da findet Begegnung statt, keine Abrechnung.

Alle paar Jahre heißt es, wir brauchen die Stasi-Unterlagen-Behörde bald nicht mehr. Wann wird das Ihrer Meinung nach sein?

Jahn: Das muss die Gesellschaft entscheiden. Die Akten helfen Menschen, denen übel mitgespielt wurde. Soll man darauf verzichten? Ist das dann sozialer Frieden? Es wäre ein fauler Frieden! Es geht auch nicht um damals, sondern um das, was wir heute daraus lernen. Der Leitsatz meiner Arbeit heißt: Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser 2 / 10 können wir Demokratie gestalten. Wir sind eine Schule der Demokratie.

Und was sagen Sie zu der Debatte, ob unser Bundespräsident in der Diktatur mutig genug war?

Jahn: Was heißt mutig genug? Joachim Gauck hat Haltung gezeigt. Er hat seine Kritik am Staat DDR klar formuliert und gelebt und seiner Gemeinde einen Schutzraum gegeben. Wer will Mut messen? Dafür beschäftigt man sich ja mit der Diktatur, um zu begreifen,
wie Menschen sich in ihr verhalten. Ich habe mich auch erst in den Bahnen dieser DDR bewegt. Ich war bei den Jungen Pionieren, bei der Freien Deutschen Jugend, ging zum Grundwehrdienst. Selbst wenn jemand jetzt sagt: Der Jahn war schon immer ein Querulant - eigentlich lief ich viele Jahre in vorgeschriebenen Bahnen.

Aber irgendwann zogen Sie dann durch Jena und sangen: "Wir sind geboren, um frei zu sein".

Jahn: Das war ein Song von Ton, Steine, Scherben und ist bis heute mein Lebensmotto. Aber dieses Freisein von Angst ist nicht einfach. Als ich von der Universität geschmissen werden sollte, da musste meine eigene Seminargruppe abstimmen. Am Vorabend saßen wir noch zusammen, und alle sagten: Roland, wir stehen zu dir. Dann stimmten sie 13 zu 1 gegen mich. Das war ein Schock. Und dann kamen die Kommilitonen einzeln zu mir, um sich zu entschuldigen: Einer wollte zum Beispiel seinen Vater nicht gefährden, der in einer führenden Position war. Ich habe das verstanden. Ich hatte ja selber oft meinen Mund gehalten, weil mein Vater sagte: Junge, Hände weg von der Politik, das bringt nur Ärger. Ich bin bis heute im Konflikt mit mir, ob es gut war, dass ich durch mein aufmüpfiges Verhalten dafür gesorgt habe, dass mein Vater Nachteile hatte.

Haben Sie Schuldgefühle ihm gegenüber?

Jahn: Ja, klar. Ich habe jeden verstanden, der aus Rücksicht auf seine Familie seine Meinung nicht offen sagte.

Es wird Ihnen manchmal vorgeworfen, dass Sie es allen recht machen wollen.

Jahn: Ich möchte allen gerecht werden. Ich will, dass wir gemeinsam einen Weg finden. Mit Moral, Anstand und Gewissen. Wozu brauchen wir sonst Aufklärung, wenn wir Konflikte nicht lösen wollen?

Das Gespräch führte Evelyn Finger.