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"Wer sich verändert, bleibt sich treu"

Interview mit "Der Stacheldraht" in der Ausgabe 5/2016

Herr Jahn, Sie haben in den letzten Monaten die Vorschläge der Expertenkommission zur Zukunft des BStU eher begrüßt als kritisiert. Halten Sie es wirklich für richtig, daß Ihre Behörde abgeschafft wird?

Jahn: So habe ich die Vorschläge nicht interpretiert. Vorrangig ist für mich: Es geht um Weiterentwicklung. Es geht um die Zukunft der Aufarbeitung. Es geht darum sicherzustellen, daß die Stasi- Akten weiter genutzt werden können und daß wir alles im Interesse der Opfer tun. Das ist für mich die Grundlage der Betrachtung dieser Vorschläge.

Was wäre denn in Ihrer Behörde nicht sichergestellt?

Jahn: Ich habe immer deutlich gemacht, daß wir großen Reformbedarf haben. Das klingt vielleicht etwas abstrakt, aber konkret bedeutet das: Wir haben keine einzige Außenstelle, in der die Akten archivgerecht gelagert werden können. Damit sind sie anfällig für Verfall. Wir brauchen also Investitionen, und die kommen nur, wenn Planungssicherheit da ist, also die Garantie, daß das Archiv unbegrenzt besteht. Dann können wir auch in Digitalisierung zur Sicherung und Nutzung der Unterlagen investieren. Wir brauchen eine freie Forschung, die die SED-Diktatur insgesamt in den Blick nimmt, nicht nur die Stasi. Das gilt ebenso für die Bildung. All das sind anstehende Herausforderungen. Deshalb ist es wichtig, offen zu sein für Veränderungen. Wer sich verändert, bleibt sich treu.

Niemand behauptet ernsthaft, im Behördenablauf gäbe es keine Mängel. Aber trauen Sie denn der Behörde und sich selbst nicht zu, mit den entsprechenden Mitteln, die man dem Bundesarchiv ja auch zur Verfügung stellen müßte, diese Mängel zu beheben?

Jahn: Das ist ein guter Punkt. Wer organisiert die zukünftige Sicherung der Stasi-Akten, den Zugang und die Unterrichtung der Öffentlichkeit über das Wirken der Stasi? Es geht hier schließlich um ein Symbol. Der Zugang zu den Akten und das Stasiunterlagen-Archiv sind das Symbol, das wir aufrechterhalten müssen. Es muß sichergestellt werden, daß die Menschen, in deren Leben von der Staatssicherheit und der SED-Diktatur insgesamt eingegriffen worden ist, bestmöglichen Zugang zu ihren Akten haben und daß Forschung und Bildung auf höchstem Niveau stattfinden, daß Journalisten und Medien umfassend über das Wirken der Stasi berichten können. Für diese Diskussion, so sehe ich das, sind die Vorschläge der Expertenkommission eine gute Grundlage. Das heißt ja nicht, daß man alle einzelnen Punkte befürworten muß oder daß alles sofort geschieht. Wichtig ist, die Weichen zu stellen, damit auch in fünfzig oder hundert Jahren die Akten noch für die Gesellschaft genutzt werden können. Vor allem aber ist wichtig, daß die Interessen der Opfer im Mittelpunkt stehen.

Ich habe in dem Bericht nach Veränderungen gesucht, die sich durch eine Überführung ins Bundesarchiv ergeben würden. Das Gesetz bleibt erstmal gleich, die Akten bleiben am selben Ort, das Personal bleibt aber auch da. Was ist denn dann der positive Effekt?

Jahn: Ich bin ja nicht die Expertenkommission! Und ich habe auch keine Veranlassung, den Bericht eins zu eins zu verteidigen. Aber ich will, daß wir ihn als Grundlage für eine umfassende Diskussion nehmen. Da steckt einiges an Substanz drin. Es ist mir wichtig, daß wir ganz genau hinschauen, was ist uns wichtig, wie soll es weitergehen und vor allem, was hilft den Opfern wirklich. Wir alle, die wir in der DDR Repressionen erlitten haben, wir alle, die wir im Gefängnis saßen oder von der Schule geworfen wurden, bringen schon auch Mißtrauen mit, wenn der Staat etwas beschließt. Das haben wir mit auf den Weg bekommen. Dieses Mißtrauen ist ein besonderes, das verschwindet nicht einfach, auch wenn ich selber in meiner Position Verantwortung für das Handeln in staatlicher Funktion trage. Es ist wichtig, daß wir die Vorschläge der Expertenkommission kritisch beäugen. Aber uns sollte auch klar werden, was an Veränderungen für eine bestmöglich organisierte Aufarbeitung notwendig ist. Die Devise heißt: Nichts darf schlechter, aber manches sollte besser werden. Mit dieser Richtschnur werden wir genau auseinander sortieren können, was von den Vorschlägen brauchbar ist und was nicht.

Zeitgeschichte, sagen die Historiker, ist Geschichte, die noch qualmt. In gewisser Weise qualmen auch diese Akten noch. Natürlich sind sie das Symbol, aber ich habe den Eindruck, für viele ehemalige Verfolgte ist auch die Behörde das Symbol. Wäre es da nicht vernünftiger, die Grundstruktur zu erhalten, solange die Betroffenen noch leben, und die Akten erst später ins Bundesarchiv zu geben?

Jahn: Für mich sind die Akten und ihre Zugänglichkeit ein Symbol der Revolution. Ich sehe es an den historischen Orten, die nicht mehr Stasi-Verwaltungen, sondern jetzt begehbare Archive oder Gedenkstätten sind. Ich sehe das Symbol allerdings nicht in einer Verwaltungseinheit. Jürgen Fuchs hat einmal im Zusammenhang mit der Behörde vom "bürokratischen Ausbremsen einer Revolution" gesprochen. Was nützt uns ein Symbol, das sich hauptsächlich am "Behördendasein" festmacht und dabei manchmal das eigentliche Ziel aus dem Blick verliert? Was nützt uns ein Archiv, in dem die Akten bald zerbröseln werden? Was nützen uns die neuen Möglichkeiten der Technik, wenn wir sie nicht finanzieren können? Wir müssen einen Weg finden, wie wir das Symbol bewahren und in die nächsten Generationen hineintragen können. Die Stasi-Akten sind ein Monument des Überwachungsstaates, Belege für erlebtes Unrecht. Sie stehen aber gleichzeitig auch für die Errungenschaft der Friedlichen Revolution, daß also ehemalige Verfolgte durch Akteneinsicht ein Stück ihres gestohlenen Lebens zurückbekommen. Die Nutzung der Akten ist eben nicht nur ein Verwaltungsakt. Sie steht für die Überwindung der Diktatur und deren Aufarbeitung. Gerade deshalb sollten wir offen sein für Veränderungen und dafür sorgen, daß sich dieses Symbol weiterentwickeln kann.

Bei der Diskussion um die Zukunft der Behörde bietet sich der Vergleich mit dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales an. Das ist vor einiger Zeit heftig und zu Recht in der Kritik gewesen. Inzwischen wurden Strukturveränderungen vorgenommen, und es scheint besser zu funktionieren. Aber keiner wäre doch auf die Idee gekommen, es abzuschaffen.

Jahn: Gut, Vergleiche sind immer schwierig. Ich werde dafür einstehen, daß nichts abgeschafft, aber etwas weiterentwickelt wird. Gerade, weil ich selber davon betroffen bin, im Gefängnis gesessen und hautnah das Wirken der SED-Diktatur gefühlt habe, geht es mir darum sicherzustellen, daß nichts abgeschafft wird. Aber, daß wir eine Chance haben, neue Impulse zu setzen. Unsere Aufgabe ist es jetzt, mit einer offenen Diskussion die Politik so zu begleiten, daß sie die richtigen Entscheidungen trifft. Mir geht es vor allem um die ganz konkreten Dinge, die für die Menschen spürbar sind.

Dieter Dombrowski, der Vorsitzende der UOKG, ist der Meinung, daß die Opfer unbedingt einen Bundesbeauftragten für ihre Belange brauchen, aber keinen Ombudsmann. Im Bericht der Expertenkommission steht nun ausdrücklich das Wort "Ombudsperson". Wie verstehen Sie die künftige Aufgabe eines neuen Bundesbeauftragten hinsichtlich der Opfer?

Jahn: Ich bin da ganz nah bei Dieter Dombrowski. Der Titel ist für uns zweitrangig. Entscheidend ist doch, daß umgesetzt wird, was es noch an offenen Punkten gibt. Wir brauchen endlich Verbesserungen bei der Anerkennung der Haftfolgeschäden, wir brauchen Verbesserungen für die Zwangsadoptierten, die ihre Fälle nicht richtig aufklären können, weil ihnen teilweise der Aktenzugang auf den Ämtern verwehrt wird. Wir brauchen Rentengerechtigkeit für die Flüchtlinge und freigekauften Häftlinge, und wir brauchen endlich eine Entfristung der Möglichkeit einer Antragstellung auf Rehabilitierung. All das muß durchgesetzt werden. Aufklärung und Aufarbeitung haben kein Verfallsdatum. Und deshalb sind Reformen wichtig, die Instrumente schaffen, um die Dinge im Sinne der Opfer wirklich voranzubringen. Dies ist mir ein großes Anliegen - auch aus eigener Erfahrung.

Ihre Schilderung reicht aber weit über die Aufgaben eines Ombudsmannes hinaus.

Jahn: Darum geht es jetzt. Wir sind in einem Klärungsprozeß mit der Politik, was da eigentlich gemeint ist. Hier brauchen wir dringend Klarheit darüber, welche Chancen bestehen, mit welchen Veränderungen wirklich auch Verbesserungen für die Opfer zu erreichen sind.

Welche Verbesserungen für die Opfer sehen Sie denn in diesem Konzept der Expertenkommission?

Jahn: Ich sehe darin durchaus Chancen, weil hier zum ersten Mal deutlich gesagt worden ist, daß die Stasi-Akten für die Aufarbeitung unverzichtbar sind. Es wurde ganz klar ausgedrückt, daß die Stasi-Akten dauerhaft zur Verfügung stehen sollen, daß der Zugang nach den bestehenden rechtsstaatlichen Regeln die Akteneinsicht sicherstellt. Und auch, daß die Angehörigen von Verstorbenen in ihre Akten schauen können, wenn sie das Familienschicksal aufklären wollen, daß Forschung und Bildung beste Voraussetzungen bekommen sollen, diese Akten zu nutzen. Dabei ist es mir ein Anliegen, das auch in den Vorschlägen aufgegriffen wurde, den Blick zu erweitern und die gesamte SED-Diktatur zu betrachten. Das ermöglicht es zudem, die Vielzahl der Opfer besser zu unterstützen: Dopingopfer, Zwangsadopierte, verfolgte Schüler und Studenten und viele mehr. Für die Zukunft muß vieles auf den Weg gebracht werden, und dafür weist der Kommissionsbericht eine Richtung. Aber da setzen natürlich auch meine Zweifel ein - als jemand, der gelernt hat zu zweifeln, gerade durch die Erfahrungen in der DDR. Denn alles, was dort steht, braucht einen gründlichen Praxistest. Und es kann nicht mit der Brechstange gemacht werden, sondern Schritt für Schritt. Vor allen Dingen so, daß die Menschen, wir alle, auch mitgenommen und überzeugt werden.

Sie hatten einmal die Vision eines Campus der Demokratie auf dem Gelände der ehemaligen Zentrale der Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg. Inwieweit entspricht der Kommissionsvorschlag einer „Stiftung Diktatur und Widerstand - Forum für Demokratie und Menschenrechte" Ihren Vorstellungen, und an welcher Stelle hätten Sie sich anderes gewünscht?

Jahn: Über Namen läßt sich streiten, aber es ist gut, daß betont worden ist, daß die historischen Orte auch in Zukunft und langfristig genutzt werden sollen. Ich wünsche mir, gerade in der ehemaligen Stasi-Zentrale, die Sicherstellung der Vielfalt der Akteure. Es arbeiten dort ja schon die Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft, die Astak mit dem Stasi-Museum, nun auch die Robert-Havemann-Gesellschaft mit ihrer Revolutions-Ausstellung und andere gesellschaftliche Akteure. Sie sind auf diesem Gelände aktiv und brauchen keinen Vormund, aber gute Bedingungen. Gelände und Gebäude müssen ordentlich verwaltet und effektiv vermarktet werden, damit die Menschen weltweit diesen besonderen Ort kennenlernen können. Es ist ja in der Welt wirklich besonders, daß an einem Ort gleichzeitig Repression, Revolution und Aufklärung dargestellt werden können.

Stacheldraht: Vielen Dank, Herr Jahn.