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"Wir sind nicht das Amt für absolute Wahrheit"

Der Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde, Roland Jahn, über Akten, Anpassung und die Kraft der Achtundsechziger

Zwei Ostdeutsche, Angela Merkel und Joachim Gauck, stehen an der Spitze des Staates. Sind die Ossis in solchen Spitzenpositionen besser als die Wessis, Herr Jahn?

Roland Jahn: Ich stamme ja selbst aus Ostdeutschland, aber mein Bewusstsein ist gesamtdeutsch. Einen Vorteil haben wir ehemalige DDR-Bürger. Durch die Erfahrung der Diktatur können wir den Wert von Freiheit und Demokratie besonders schätzen.

Es gibt Politiker aus Ostdeutschland, die bedauern, dass von der Dynamik der Bürgerrechtsbewegung nichts mehr übrig geblieben ist, dass alles im parteipolitischen Kleinklein der alten bundesrepublikanischen Machart aufgegangen ist. Geht es Ihnen als ehemaligem Bürgerrechtler auch so?

Jahn: Nein. Es wäre falsch zu sagen, dass der Osten in dieser Hinsicht plattgemacht worden sei. Dennoch habe ich einen Wunsch: Der Geist der friedlichen Revolution, ein Geist des Widerspruchs, sollte im vereinigten Deutschland mehr hochgehalten werden. Widerspruch als das lebenswichtige Blut der Demokratie.

Wie meinen Sie das?

Jahn: Zum Beispiel: Im Bundestag werden viele wichtige Entscheidungen einfach durchgewinkt, nachdem die Abgeordneten in den Fraktionen auf Linie gebracht wurden. Da würde ich mir wünschen, dass noch öfter widersprochen wird.

Die Diktatur zwang die Menschen, stärker zusammenzuhalten. Manche Ostdeutsche wünschen sich das auch in der jetzigen Gesellschaft, sehnen sich sogar nach der DDR zurück. Können Sie das nachvollziehen?

Jahn: Den Zusammenhalt in der DDR gab es nicht wegen des Staates, sondern trotz des Staates. Ich war kürzlich in dem DDR-Gefängnis, in dem ich eingesperrt war. Ich bin in den Keller gegangen, in dem wir Häftlinge gemeinsam Kartoffeln schälen mussten. Die Erinnerung an diese Gemeinschaft, die irgendwie diese unmenschlichen Zustände überstehen musste, war positiv. Eine Erfahrung, die mir Kraft gibt.

Sie führen eine Behörde, die den hässlichen Teil der DDR, die Unterlagen der Stasi, beherbergt. Wie sehr prägt Sie diese tägliche Begegnung mit dem Bösen?

Jahn: Es ist nicht nur der hässliche Teil. Wir finden in den Akten nicht nur diejenigen, die ihre Familie, ihre Freunde und Nachbarn verraten haben, sondern viele, die das nicht getan, die standgehalten haben. Die Einsicht in ihre Akten kann auch für die einzelnen Menschen etwas Positives haben. Da hat zum Beispiel jemand lange geglaubt, er sei von der Schule verwiesen worden, weil seine Leistungen nicht ausgereicht hätten. Und dann stellt er fest, dass das nur auf Betreiben der Stasi geschah und mit mangelnder Leistung nichts zu tun hatte. Das ist befreiend.

Was haben Sie Neues über Ihr Leben aus den Unterlagen der Stasi erfahren?

Jahn: Ich habe sehr viel darüber erfahren, wie die Stasi meine Familie unter Druck gesetzt hat. Ich habe viel über meine Studienzeit lesen können, so zum Beispiel, dass mein Seminarleiter Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi war. Seine Mitschrift eines Seminars hat dazu geführt, dass ich von der Uni geflogen bin. Ich habe viel über die Umstände meiner Inhaftierung erfahren, habe lesen können, dass mein Rechtsanwalt, Wolfgang Schnur, Mitarbeiter der Stasi war. Das war alles zutiefst erschütternd - und trotzdem ein Gewinn.

Was war das Schlimmste?

Jahn: Am meisten beeindruckt hat mich der Maßnahmeplan für meine Ausbürgerung aus der DDR. Der war vom Stasi-Minister Erich Mielke persönlich abgezeichnet. Ich konnte lesen, dass mehr als hundert Stasi-Mitarbeiter im Einsatz waren, um mich aus der DDR wegzubringen.

Wie war das, nicht mehr in diesem System leben zu müssen?

Jahn: Es war ja nicht in erster Linie ein Wegbringen aus der DDR, aus einem Unrechtsstaat, sondern vielmehr ein Wegbringen aus der Heimat, weg von Freunden und Familie.

Aber auch weg von der Stasi.

Jahn: Na ja, die Stasi hat auch im Westen gewirkt. In meinen Akten konnte ich sehen, dass sie sogar wussten, wie in meiner Kreuzberger Wohnung die Möbel standen und welchen Schulweg meine achtjährige Tochter nahm.

Vor eineinhalb Jahren sind Sie der Leiter der Behörde geworden, in der all diese Akten zu finden sind. Sie haben Aufsehen erregt, weil sie 47 hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter, die noch immer in der Behörde tätig waren, aus ihr entfernen wollten. Wie viele haben das Haus verlassen?

Jahn: Neun haben das Haus verlassen. Drei davon haben den Arbeitsplatz gewechselt. Wir gehen einen Weg, der rechtsstaatlich korrekt und menschlich respektvoll ist. Wir haben inzwischen einige Angebote aus Ministerien oder anderen Behörden bekommen, wo die Betreffenden gleichwertig beschäftigt werden können. Jeder Einzelfall wird geprüft.

Wieso sind es nur so wenige?

Jahn: Ich hätte mir auch gewünscht, dass mehr von sich aus sagen, sie könnten die Empfindungen der Opfer nachvollziehen. Das ist leider nicht der Fall. Das Anliegen bleibt, alle zu versetzen

Wie viele ehemalige Stasi-Mitarbeiter werden in einem Jahr noch hier arbeiten?

Jahn: Da lege ich mich nicht fest. Dafür ist der Vorgang zu schwierig.

Ein Mitarbeiter Ihres Hauses, Helmut Müller-Enbergs, wird derzeit von einem Ehepaar aus Bonn verklagt. In einer Publikation hat er die beiden mit Inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi in Verbindung gebracht, die damals die SPD in Bonn ausspionierten. Die Behörde gewährt ihm keinen Rechtsschutz. Wieso lassen Sie den Mann im Regen stehen?

Jahn: Wir lassen keinen Mitarbeiter im Regen stehen. Wer dienstlich tätig ist, bekommt Rechtsschutz. Mir ist es wichtig, dass wir über die West-Arbeit der Staatssicherheit aufklären. Im Fall einzelner Personen geht es aber immer auch um die Frage: Was können wir anhand der Akten als Tatsachenbehauptung aufstellen? Im genannten Fall hat das Oberlandesgericht Hamburg zu einer vorangegangenen Veröffentlichung in letzter Instanz schon festgestellt, dass die Aktenlage nicht ausreicht, um eine Tatsachenbehauptung aufzustellen. Da aber die Veröffentlichung von Helmut Müller-Enbergs so formuliert ist, dass sie vom Gericht ebenfalls als Tatsachenbehauptung gewertet wird, haben wir aufgrund der geltenden Rechtsprechung entschieden, der Aufforderung zur Unterlassung nachzukommen.

Im Januar hatten Sie es noch abgelehnt, eine solche Unterlassungserklärung abzugeben, im April haben Sie es getan. Wie kam es denn zu diesem Sinneswandel?

Jahn: Da gab es keinen Sinneswandel. Mir war es wichtig, nicht gleich einzuknicken, sondern eine sachliche Entscheidung zu treffen, die nach gründlicher Prüfung fundiert ist.

Sie sind also doch eingeknickt.

Jahn: Nein. Es geht schlicht darum, nicht in einen Rechtsstreit zu ziehen vor einem Gericht, das sich zu dem genannten Fall schon eindeutig geäußert hat. Wir haben auch eine Verantwortung für die Verwendung von Steuergeldern und dafür, dass wir unsere Arbeitskapazitäten sinnvoll einsetzen.

Sehen Sie nicht die Gefahr, dass Forschung unmöglich gemacht wird, wenn solche Urteile Schule machen?

Jahn: Man sollte vorsichtig sein mit Gerichtsschelte. Wir können uns nicht loslösen vom Stasi-Unterlagen-Gesetz und vom Presserecht. Sie sind Grundlagen unseres Handelns. Wir sollten aber dafür sorgen, dass solche Urteile die Aufklärung nicht mindern. Mir ist wichtig: Die Freiheit der Wissenschaft gilt auch für das Thema Staatssicherheit.

Das bedeutet doch auch, Namen zu nennen.

Jahn: Ja. Ich werde mich nicht davon abhalten lassen, Namen zu nennen, wo es möglich ist. Denn Täter haben einen Namen. Und ihn zu nennen ist wichtig, wenn wir aufarbeiten wollen. Nur so können wir eine Auseinandersetzung anregen und Menschen herausfordern, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Wichtig ist es aber auch, den Kontext darzustellen, in dem gehandelt wurde. Und die Akten zu prüfen mit dem Wissen, dort ist die Sicht der Staatssicherheit festgehalten. Die Darstellung der Aktenlage ist immer möglich, und im Zweifelsfall müssen wir darauf verzichten, Tatsachenbehauptungen aufzustellen. Wir sind nicht das Amt für absolute Wahrheit.

Wie lange wird es die Stasi-Unterlagenbehörde noch geben?

Jahn: Die Behörde wird es so lange geben, wie sie gebraucht wird. Wir haben zur Zeit jeden Monat 8000 Anträge zur persönlichen Akteneinsicht. Wann und ob diese ausbleiben, wissen wir nicht. Wir haben den Auftrag, das Wirken der Stasi darzustellen und die Aufgabe, für Wissenschaft und Medien Akten bereitzustellen. Diese Aufgaben enden nicht einfach. Der Name auf dem Türschild ist nicht so wichtig. Die Politik muss sich darüber verständigen, ob und in welcher Form diese Aufgaben erfüllt werden.

Das hat die Politik doch schon getan. Die Fachpolitiker von CDU und SPD haben sich zur Zeit der großen Koalition auf das Jahr 2019 geeinigt, also 30 Jahre nach dem Mauerfall. Dann soll die Behörde ihre Eigenständigkeit verlieren.

Jahn: Es gibt keine Einigung, dass die Behörde 2019 aufgelöst wird. Es gibt ein Gedenkstättenkonzept, auf das sich die große Koalition 2008 geeinigt hat. Darin steht, dass es eine Expertenkommission geben soll, die über die Zukunft der Behörde entscheiden wird. Das Jahr 2019 ist insofern von Bedeutung, weil im Gesetz steht, dass Informationen zur Überprüfung auf Stasitätigkeit von Leuten im öffentlichen Dienst bis dahin zur Verfügung gestellt werden können. Andere Termine sind nicht festgelegt.

Das Ende der DDR liegt nun gut zwanzig Jahre zurück. Zwanzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus begannen in der Bundesrepublik die Söhne und Töchter zu fragen, was ihre Väter und Mütter zur Zeit der braunen Diktatur gemacht haben. Wird es so eine Bewegung in Bezug auf die DDR geben?

Jahn: Eine derart kraftvolle Bewegung wie Achtundsechzig wird es wohl nicht geben. Der Schrecken der Nazi-Zeit war doch ein ganz anderer. Allerdings wächst eine Generation heran, die fragt: Was hast du damals in der DDR gemacht, und wie standst du zum System? Es ist spannend zu erleben, wie darüber diskutiert wird, etwa wenn ich in Schulen bin. Neulich fragte mich eine Sechzehnjährige, ob es moralisch verwerflich gewesen sei, dass der Großvater immer die DDR-Fahne an Feiertagen heraushängte, weil er Angst hatte, dass andernfalls seine Tochter den Studienplatz verlieren würde.

Was haben Sie ihr geantwortet?

Jahn: Ich habe gesagt, dass die Frage nach der Anpassung eine ist, die sehr individuell beantwortet werden muss. Da kann ich mit mir selbst anfangen: Auch ich bin anfangs in den Bahnen der DDR gelaufen. Ich habe Rücksicht auf meine Eltern genommen, besonders auf meinen Vater, der in einer herausragenden Position bei Zeiss in Jena war. Irgendwann bin ich mutiger geworden. Als dann die Nachteile für meine Eltern eintraten, habe ich genau gespürt, was Diktatur heißt.

Was denken Sie heute: Hätten Sie sich besser anders verhalten?

Jahn: Bis heute komme ich gelegentlich ins Zweifeln, ob mein Weg der richtige war. Denn das Leid, das meine Eltern ertragen mussten, war so groß, dass ich nicht weiß, ob ich nicht mehr Rücksicht hätte nehmen sollen. Viele mussten diese schwierigen Entscheidungen treffen. Mit dem Maßstab von heute Urteile darüber zu treffen, wie man sich damals hätte verhalten sollen, das ist anmaßend.

Das Gespräch mit dem Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen führten Eckart Lohse und Markus Wehner