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Ein Ort, an dem Freiheit beginnen - aber auch das Leben enden konnte

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrte Abgeordnete des Landtages,
sehr geehrte Damen und Herren,

Wie geht es Ihnen eigentlich, wenn Sie hier in Marienborn über die Autobahn rauschen und die Landesgrenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen passieren? Denken Sie da an die Zeiten im geteilten Deutschland, an den Eisernen Vorhang zwischen Ost und West, an die Grenzübergangsstelle Marienborn? Die letzten Jahre habe ich mich ganz bewusst an dieser Stelle erinnert an die vielen Geschichten, die das Leben im geteilten Deutschland schrieb.

Doch neulich war ich über mich selbst erschrocken. Getrieben vom Ziel und der Fahrt im Hier und Jetzt raste ich vorbei am ehemaligen Grenzübergang Marienborn. Ich versäumte es, mich zu erinnern an die vergangenen Zeiten. Das ist der Zahn der Zeit. Und eigentlich ist das doch ganz normal könnte man meinen.

Wozu erinnern, wie lange noch? Und wofür steht Marienborn eigentlich?

Wenn Sie jemanden in der DDR gefragt hätten, was ihm zu Marienborn einfällt – die meisten Menschen hätten wahrscheinlich verständnislos mit den Schultern gezuckt. Oder sie hätten erschrocken den Finger auf den Mund gelegt. Marienborn, das war für DDR-Bürger ein Nicht-Ort. Eine Grenzübergangsstelle in einem Land, in dem nur ausgewählte Menschen gen Westen reisen durften.

Und für die Westler war Marienborn damals der Beginn oder das Ende des „Transit“ durch die DDR. Der Ort einer merkwürdigen, absurden Prozedur von Grenzkontrolle. Ein Hauch Sozialismus in Uniform der kurz wehte auf dem Weg zwischen Niedersachsen und West-Berlin.

Diese grobe Erinnerung, das ist die Oberfläche. Marienborn das war ein besonderer Ort, ein Ort an dem sich das Schicksal von Menschen entscheiden konnte. Es war ein Ort zwischen Hoffen und Bangen. Es war ein Ort, an dem die Freiheit beginnen – aber auch das Leben enden konnte.

Ja, Freiheit beginnt, denn hier in Marienborn haben es viele Menschen geschafft, den Zwängen des sozialistischen Systems in der DDR zu entfliehen. An einer ausgesuchten Stelle am Rande der Autobahn, zur verabredeten Uhrzeit standen sie, die Fluchtwilligen, und warteten auf das bestimmte Auto mit dem Fahrer im Transit von West-Berlin nach Westdeutschland. Ihr Leben in der DDR, es war ihnen so unerträglich geworden, dass sie das Wagnis einer Flucht auf sich nahmen. Sie sehnten sich ganz einfach nach Freiheit und Selbstbestimmung.

Mit großem Aufwand, nicht selten auch mit Geld, hatten sich die Flüchtlinge an diesen Moment herangewagt. Versteckt im Kofferraum gelang es ihnen, die Grenzkontrolle in Marienborn heimlich zu passieren und unbemerkt durch das Loch im Eisernen Vorhang zu schlüpfen. So wurde Marienborn für diese Menschen das Tor zur Freiheit. Doch die geglückten Fluchten sind nur die eine Seite der Geschichte.

Denn Marienborn war Teil des menschenverachtenden Grenzsystems der DDR und das Schlupfloch der Grenzübergangsstelle führte meist nicht in die Freiheit sondern direkt ins Gefängnis. Für Gisela Mauritz war Marienborn der Beginn des schrecklichsten Kapitels ihres Lebens. 1974 wollte die alleinerziehende Mutter von einem 3-jährigen Sohn nur noch raus aus der DDR. Sie nahm Kontakt zu einer Fluchthilfeorganisation auf. Die Ausreise im Kofferraum über Marienborn war der Plan. Zweimal stand sie an der Transitstrecke, erst beim dritten Versuch kam ein LKW, der sie und ihren kleinen Sohn in einer elektromagnetisch gesicherten Klappe versteckte.

Doch ihr Fluchtplan war zu diesem Zeitpunkt schon an die Stasi verraten. Genau hier, am Grenzübergang Marienborn endete ihre Flucht. Sie landete im Gefängnis, verurteilt zu 4-einhalb Jahren Zuchthaus. Ihr Sohn verschwand in den Mühlen des sozialistischen Fürsorgebetriebes und wurde zur Adoption frei gegeben. Sie sollte ihn erst 15 Jahre später wiedersehen. Marienborn - für Gisela Mauritz steht dieser Name dafür wie in der DDR die Menschenrechte missachtet wurden.

Nicht zuletzt haben die Akten im Stasi-Unterlagen-Archiv Marienborn, diesem so flüchtigen Ort, eine dauerhafte Dokumentation verschafft. Vieles von dem, was am Grenzübergang geschah, wurde durch das Ministerium für Staatssicherheit organisiert. Die Stasi-Unterlagen geben heute beredtes Zeugnis davon ab, wie dieser deutsch-deutsche Ort aus Sicht der Geheimpolizei funktionierte. Und immer wieder erzählen diese Dokumente auch von dem Freiheitswillen der Menschen, die sich der SED-Diktatur und ihrem Grenzregime nicht beugen wollten.

In der Nacht zum 21. April 1974 näherten sich drei Freunde, alle Anfang 20, den Grenzanlagen in Marienborn. Sie waren bei der Straßenmeisterei in Eisenhüttenstadt beschäftigt und fuhren mit einem LKW aus dem Fuhrpark der Stadt. Ihr Ziel war die Bundesrepublik. Der Fluchtplan begleitete sie schon einige Monate. An jenem Frühlingsabend war es soweit. Sie montierten ein Schneeschild an den LKW und kleideten das Führerhaus mit Decken aus – als Schutz gegen Einschüsse. Dass der Grenzdurchbruch lebensgefährlich sein konnte, war ihnen bewusst.

Als sie nach Mitternacht durch die Grenzanlagen von Marienborn rasten, wurde der Grenzort zur Falle. Zwei Schlagbäume hatten sie bereits durchbrochen, doch an der heruntergefahrenen Rollsperre scheiterte die Flucht. Der LKW überschlug sich und blieb auf dem Dach liegen. Die drei Flüchtlinge wurden schwer verletzt. Einer von ihnen, Fred Woitke, versuchte mit letzter Kraft Richtung Westen zu kriechen. Doch mehrere Grenzer schossen auf ihn bis er sich nicht mehr rührte. Fred Woitke, sein Tod ist verbunden mit dem Namen Marienborn.

Wozu erinnern? Wie lange noch?
Es sind die Geschichten von Menschen und ihren Schicksalen die mich bewegen, wenn ich an Marienborn vorbeifahre und mich erinnere. Und jedes Mal wird mir klar, wie gut wir es haben, dass wir in einem demokratischen Rechtsstaat leben. Mir wird bewusst, welch hohe Güter Freiheit und Selbstbestimmung sind und was Menschen dafür riskierten sie zu erlangen. Dass Menschen dafür sogar gestorben sind.

Freiheit und Menschenrechte sind keine Selbstverständlichkeit. Es gilt sie zu schätzen, zu schützen. Mit der Erinnerung, mit dem Blick in die Vergangenheit haben wir die Chance unsere Sinne für die Gegenwart und Zukunft zu schärfen.

Wozu erinnern, wie lange noch? Und wofür steht Marienborn eigentlich?
Diese eingangs gestellten Fragen sollte jeder für sich selbst beantworten.

Erinnerung als Pflicht, das funktioniert nicht. Und ein staatlich verordnetes Geschichtsbild ist nicht angebracht. Aber eines ist wichtig. Die Menschen, und dabei besonders die nachgeborenen Generationen, sollten die Gelegenheit haben, sich das entsprechende Wissen zu verschaffen, um für sich eine Antwort auf ihre Fragen zu finden. Das dies möglich ist, dazu leistet die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn seit 20 Jahren hier am historischen Ort einen gewichtigen Beitrag. Meinen herzlichsten Glückwunsch zum 20 jährigen Jubiläum, meinen Respekt für die erbrachten Leistungen und meinen Dank an die Förderer und Geldgeber.

Ich wünsche Ihnen für die weitere Arbeit viel Erfolg. Wir alle, die Gesellschaft, brauchen die Gedenkstätte Deutsche Teilung. Wir brauchen sie und ihre Arbeit und manchmal brauchen auch wir auch einen Anstoß, damit wir das Erinnern nicht vergessen. So wie mir es neulich auf der Autobahn erging als ich einfach an Marienborn vorbeifuhr.