Direkt zum Seiteninhalt springen

"Es ist unsere gemeinsame Geschichte"

Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin Lieberknecht
Sehr geehrte Gäste des Festaktes,

Als ich meiner Nachbarin erzählte, dass ich hier heute sprechen werde, hat sie gesagt: "Sie Ärmster, da müssen Sie ja an einem freien Tag arbeiten." Der 3. Oktober – soweit ist die Normalität gediehen - ist für viele ein freier Tag, keine große historische Besonderheit mehr.

Was feiern wir heute eigentlich an diesem Tag der deutschen Einheit? An was gilt es zu erinnern? Warum ist es wichtig, dass wir heute hier zusammen kommen? Ich jedenfalls möchte feiern, in dem ich erinnere. 22 Jahre ist das her, dass die DDR aufhörte zu existieren und das geteilte deutsche Volk selbstbestimmt wieder eines wurde. Eine ganze Generation und mehr ist seither im vereinten Deutschland groß geworden und das ist zu spüren, auch hier in Thüringen.

Als ich unlängst in meiner Heimatstadt Jena mich in einem Cafe mit Studenten über ihre Herkunft unterhielt, sprach dabei keiner über Osten oder Westen. Sie kamen aus Sachsen, Bayern und aus Berlin.

Die Realität ist ein Deutschland mit 16 Bundesländern zwischen Suhl und Kiel, Aachen und Frankfurt/Oder. Die Erinnerung an die Teilung verblasst. Ihre Überwindung, die innere Einheit ist der Weg auf dem wir gehen.
Muss man sich da immer noch an das Zusammenkommen der Deutschen erinnern? Muss man die Spaltung wieder erwähnen, die Teilung, den Osten, den Westen? Reißen wir damit nicht wieder Gräben auf, die mühsam zugeschüttet wurden und werden?

Im Sommer dieses Jahres bin ich an einen ehemals „deutsch-deutschen“ Ort zurückgekehrt. Einen Ort an dem die deutsche Teilung täglich erlebt wurde. Dieser Ort liegt in Thüringen, kurz vor dem Nachbarbundesland Bayern. Das ist jetzt die Realität.

Probstzella heißt dieser Ort, ein kleines Städtchen mit gut 3.000 Einwohnern am Rande des Thüringer Waldes. Die Veranstalter einer Geschichtswerkstatt hatten mich eingeladen, an diesen Ort zu kommen. Es war nicht mein erster Besuch dort. Vor 29 Jahren war ich zuletzt in Probstzella gewesen.

Die Geschichtswerkstatt hatte Schülerinnen und Schüler aus dem thüringischen Suhl und dem bayrischen Kronach hier zusammen gebracht. Die 15- bis 18-jährigen hatten sich, mit Unterstützung der Volkshochschule Suhl, mit der DDR und der Vergangenheit des geteilten Deutschlands an diesem historischen Ort beschäftigt.

Als ich abends in Probstzella ankam, war die Stimmung im Jugendhotel ausgelassen. Einer aus der Gruppe aus Suhl feierte um Mitternacht seinen 18.Geburtstag. Die Mädchen aus Kronach hatten Getränke besorgt, um Schlag 12 ertönte ein Ständchen. Gemeinsam lernen und gemeinsam feiern, das liegt manchmal dicht beieinander. Nicht Ost und West, sondern Bayern und Thüringen, Kronach und Suhl, das ist die Identität der jungen Leute.

Am nächsten Morgen traf ich die Gruppe am Bahnhof des Ortes. Bis 1990 war dieser Bahnhof Grenzstation. Hier endete die DDR. Im Bahnhofsgebäude ist nun ein Museum. Das „DDR-Grenzbahnhof-Museum“ Probstzella. Das wäre im Übrigen nicht ohne die unermüdliche private Initiative von Bürgern passiert, die den Wert dieses Ortes erkannt haben.

Ein authentischer Ort der quasi erspüren lässt, wie Menschen deutsche Teilung erlebten. Der Geschichtsverein rettete das Mobiliar des angrenzenden Abfertigungshauses, das vor einigen Jahren abgerissen worden war. Sogar ein Zugabteil der Deutschen Reichsbahn ist nun im Bahnhof nachgebaut.

Meist waren es Rentner die eine begehrte Genehmigung zur Westreise bekommen hatten. Manchmal wurden auch Verwandtenbesuche genehmigt. Zum Beispiel zu einer Beerdigung. Und auch Bundesbürger mussten diesen Grenzbahnhof passieren, zur Einreise als Tourist, zum Verwandtenbesuch oder beim Transit nach Berlin (West).

In der Kulisse des Bahnhofs und des DDR-Mobiliars wird vermittelt, welche Schikane die Reisenden bei der Aus -und Einreise über sich ergehen lassen mussten. Durchsuchung, Befragung, und auch Festnahmen. Im Einsatz Hand in Hand, die Mitarbeiter der Stasi, der Grenztruppen, des Zolls und der Transportpolizei.

Die Schülerinnen und Schüler sperrten Augen und Ohren auf, als ihnen Roman Grafe, der Museumsinitiator, von den Prozeduren der Kontrolle erzählte. Sie erfuhren von reisenden Rentnern, bei denen man Zeitschriften des westlichen Klassenfeindes, zum Beispiel die "Bravo" als Mitbringsel für die Enkel beschlagnahmte. Sie hörten von Verhaftungen wegen illegalen Grenzübertritts und von einem Grenzer, der einen westdeutschen Pfennig, den er auf dem Boden gefunden hatte, bei seinem Vorgesetzten abgab, weil er sich nicht traute, das kapitalistische Geldstück zu „unterschlagen“.

Die Schülerinnen und Schüler erfuhren auch über das Leben im "Sperrgebiet", in dem Probstzella damals lag. Und darüber, was das für die hier lebenden Menschen bedeutete. Dass sie entweder offiziell linientreu sein mussten oder sonst hier nicht geduldet und zwangsweise umgesiedelt wurden. Dass vor allem staatstragende Genossen der Grenztruppen und der Stasi das "Sperrgebiet", hier direkt an der Grenze zum "Klassenfeind", kontrollierten und überwachten.

Probstzella ist ein Ort vieler Geschichten, auch meiner ganz persönlichen. Probstzella ist der Ort, an dem man mich vor 29 Jahren, an einem schönen Juni-Tag des Jahres 1983, aus meiner Heimat Thüringen abschob. Stasi und Transportpolizei warfen mich hier nachts um halb 4 hier in den Interzonenzug gen Westen. Gewaltsam, gegen meinen Willen, wie ein Stück Frachtgut. Davon sollte ich den Schülerinnen und Schülern erzählen.

Als wir über die Ereignisse sprachen, die zu meiner Verhaftung und später dem Rauswurf aus meiner Heimat führten, war die Gruppe einmal mehr überrascht und erschrocken. "Das konnte man doch nicht einfach so tun, jemanden von seiner Familie wegbringen," sagte einer. "Wenn ich mir das vorstelle... Ich lebe zwar mit meinem Freund zusammen, aber meine Mutter muss ich doch jeden zweiten Tag sehen." Sagte eine andere. "Was war das nur für ein Land?"

In unserem Gespräch ließen sich die Schülerinnen und Schüler mit ihren Gedanken ein, auf die damalige Zeit. Sie fragten sich: Wie hätte ich mich gefühlt, in dieser Situation, an diesem Ort?

So konkret hatten sie sich DDR noch nie vorgestellt. Und ich hatte mir nicht vorgestellt, wie fremd dieser nächsten Generation die DDR schon ist. Früher hat mein Vater vom Krieg und von der NS-Diktatur erzählt. Das schien mir zunächst wie ein Erlebnis von einem anderen Stern. So ähnlich muss es diesen Schülern ergangen sein, beim Erzählen über die DDR. Weit weg, nicht wahr, unreal. Und doch. Da stand einer vor ihnen und erzählte ihnen, was man an genau an diesem Ort mit ihm gemacht hatte.

Im Workshop hatten sich die jungen Leute auch ausführlich mit dem Grenzregime und dem Schießbefehl für Soldaten beschäftigt. Es war für sie unvorstellbar, dass Menschen, die einfach nur von einem Teil Deutschlands in den anderen wollten, erschossen wurden.

Besonders als es in den Gesprächen konkret wurde, als es um Menschen, ihr Handeln und ihr Schicksal ging, war es nicht so wichtig, dass das alles schon so lange her ist. Die jungen Leute diskutierten, als ob es um sie selbst geht.

Wie hätte ich mich verhalten, wenn ich als Wehrpflichtiger zum DDR-Grenzdienst einberufen worden wär? Hätte ich mich den Befehlen gebeugt? Hätte ich geschossen?

Es geht um grundsätzliche Fragen. Es geht um die Frage von individueller Verantwortung in der Gesellschaft. Ein Grenzsoldat der einen Flüchtling erschoss, sagte 1997 vor einem bundesdeutschen Gericht: "Ich wollte nicht töten, aber ich kann es nicht mehr ändern. Es ist unfassbar." Er wollte nicht schießen und tat es doch.

Es reicht nicht zu hoffen, dass der Zufall an einem vorbeigeht. Jeder trägt die individuelle Verantwortung für sein Handeln, wie und an welcher Stelle er sich mit einem Unrechtssystem einlässt. Auch wenn es die Norm ist, scheinbar Pflicht, und wenn viele es tun.

Es waren Zehntausende von DDR-Bürgern, die an der West-Grenze ihren Dienst als Soldat versahen. Meist waren es Wehrpflichtige. In der Regel wurde man bei der Musterung gefragt, ob man prinzipiell bereit sei, auf Grenzverletzer, das heißt auch, auf Flüchtlinge zu schießen. Und in der so genannten Vergatterung zum Postendienst hieß es: "Grenzverletzer sind festzunehmen beziehungsweise zu vernichten." Wer Dienst an der Grenze tat, wusste worauf er sich eingelassen hat. Er wusste, was zu tun ist im Ernstfall. Auch wenn die meisten jeden Tag hofften, dass er nicht eintritt.

Warum haben so viele mitgemacht? Warum haben sich so viele Menschen angepasst? Warum hat das System der Diktatur solange funktioniert? Wir sind den nächsten Generationen in ganz Deutschland bis heute viele Antworten schuldig geblieben. Den Blick zurück wagen, sich daran zu erinnern was war, sich mit dem Geschehenen auseinandersetzen - das sollte noch mehr getan werden.

Es ist wichtig, weiter Antworten zu suchen. Darauf, warum Menschen sich zum Töten bereit erklären, nur weil ein Regime das Verlassen des Landes zu einem kriminellen Akt erklärt und diejenigen, die es dennoch tun, zum Abschuss frei gibt.
Wir brauchen Antworten darauf, warum Menschen sich bereit erklären, im Dienste einer Ideologie andere zu töten.

Der individuellen Verantwortung für das eigene Handeln kann sich niemand entziehen. In der Beschäftigung mit dieser Vergangenheit ist es mir aber wichtig zu betonen: Es geht nicht um Abrechnung. Es geht um Aufklärung. Es um Aufklärung darüber wer, wie, warum gehandelt hat, und welche Folgen das für andere Menschen hatte.

Es geht um die Aufarbeitung der Vergangenheit, damit wir gemeinsam besser Zukunft gestalten können. Und dabei geht es nicht nur um die ostdeutsche Vergangenheit, sondern um die Aufarbeitung gesamtdeutscher Geschichte.

Im Gegensatz zu den jungen Leuten, über die ich heute bisher sprach, ist mir im Allgemeinen gesehen nach 22 Jahren deutscher Einheit, ein gesamtdeutsches Bewusstsein viel zu wenig ausgeprägt.

Mir wird in Deutschland zu sehr in Ost-West-Gegensätzen gedacht, geredet und außerdem noch mit Wertungen für Menschen verknüpft. Natürlich waren die Lebenserfahrungen in der Generation, die die deutsche Teilung bewusst erlebt hat, in Ost und West sehr unterschiedlich. Und das soll auch immer wieder beschrieben werden. Aber Pauschalurteile über Menschen helfen dabei nicht.

"Den Ostdeutschen" oder "den Westdeutschen" gab und gibt es nicht. Jeder Einzelne, auch hier in Thüringen, hat seine spezifischen Erfahrungen mit dem Leben vor 1989 gemacht. Durchaus in Gegensätzen.

Der SED-Funktionär im Gegensatz zum kritischen Pfarrer, der privilegierte Staatsschriftsteller im Gegensatz zum Arbeiter im Volkseigenen Betrieb, der Stasi-Offizier im Gegensatz zum politischen Häftling. Das alles sind unterschiedliche Lebenserfahrungen in der DDR, die nicht mit dem Begriff Ostler pauschalisiert werden sollten.
Es ist wichtig, genau hinzuschauen. Jeder der genannten hat seine besondere, eigene Biografie in die deutsche Einheit eingebracht.

Bis heute stellen mir Journalisten gern die Frage, was ich denn als "Ostler" über dieses oder jenes denke. Oder, bei Gesprächen über die Geschichte der Stasi-Unterlagen-Behörde, ob denn die Stasi-Akten nicht von den "Westlern" dazu benutzt würden, den Osten kleinlaut zu halten.

Eigentlich will darauf nie wirklich antworten. Ich kenne „den Ostler“ nicht und "den Westler" der den Osten kleinlaut halten will auch nicht. Das ist mir ein fremder Gedanke, zu viel Klischee.

Ich bin in Jena geboren und aufgewachsen. Und als mich die Stasi in den Westen beförderte, habe ich noch für einen kleinen Moment versucht, die Aushändigung eines Passes der Bundesrepublik Deutschland hinauszuzögern. Das war ein Protest gegen den Staat DDR, der mich meiner Heimat beraubt hatte und mir ein neues Zuhause aufzwang. Ich wollte diese neue bundesdeutsche Staatsbürgerschaft nicht, weil ich sie nicht gewählt hatte. Mir ging es nicht um die DDR, um den Osten, mir ging es um Heimat, um die Stadt und die Landschaft, und vor allem um die Menschen, um Freunde und Familie. Die Freiheit des Westens war für mich nur die halbe Freiheit, weil mir die Heimat gestohlen wurde.

Ich habe mich in Berlin niedergelassen, im West-Teil der Stadt. Und da war ich West-Berliner. Eine ganz spezielle Gattung des Bundesbürgers. Ich lebte sechs Jahre in einer Stadt, in der es nur eine Himmelsrichtung gab. Wohin man auch schaute, überall war Osten. Doch die meisten West-Berliner sahen nicht richtig hin.

Wir waren eine kleine Gruppe, die auf der westlichen Insel mitten in der DDR versuchte, eine Brücke der Kommunikation zwischen beiden Teilen der Stadt, zu schlagen. Damals fühlten wir uns eher belächelt, bemitleidet oder auch angefeindet. Denn vielen Menschen im Westen Deutschlands war die DDR ziemlich egal.

Nicht wenige derjenigen, die sich als "progressiv" verstanden, wollten zudem die DDR gar nicht genau wahrnehmen. Menschenrechtsverletzungen hin oder her, wer die DDR deswegen kritisierte oder gar Ost- und Westdeutschland als ein Land begriff, galt als Kalter Krieger, als Revanchist oder Kommunistenhasser.

Auf der offiziellen Bühne stellten sich die meisten Politiker gut mit der Parteiführung der SED, die die DDR fest im Griff hatte. Entspannungspolitik. Pragmatismus. Wirtschaftsinteressen waren angesagt. Die, die in diesem Kontext an die eingesperrten politischen Häftlinge, die Verhinderung der Meinungs- und Reisefreiheit, an die unterdrückte Opposition erinnerten, galten im offiziellen Polit-Diskurs schnell als Störenfriede.

Dabei war es egal, wo die Kritiker aufgewachsen waren, ob im Osten oder Westen. Es ging eben nicht um Herkunft, sondern um Haltung.

Ostler oder Westler. Ich war keines von beiden und doch beides zugleich. Ich lebte die deutsche Einheit, als die Mauer noch stand. Ich war ein Jenenser, der in Berlin-Kreuzberg ein neues Zuhause fand. Als die Mauer endlich fiel, konnte ich ganz ausleben, was ich war: Deutscher und gern auch Europäer.

Vielleicht war es für mich einfacher, mich nicht von der DDR definieren zu lassen, weil ich meine Auseinandersetzung mit dem Land bereits zu den Zeiten begonnen habe, als es die DDR noch gab. In sechs Jahren in West-Berlin habe ich zudem viele Erfahrungen mit dem Leben im Westen machen können. Die Vereinigung war da kein Einsturz meines Lebensgefüges.

Dennoch. Es ist immer noch ein Thema im Leben vieler Menschen, die in der DDR gelebt haben und die von ihr geprägt wurden. Vor ein paar Tagen habe ich in einer Wochenzeitung einen langen Artikel über die psychischen Langzeitfolgen der Vereinigung für viele Ostdeutsche gelesen. Für manche der Befragten einer Langzeitstudie galt sogar, dass sie sich umso ostdeutscher fühlten, je länger die DDR vorbei ist.

"Die Sozialisation eines Menschen kann man nicht ablegen wie ein Hemd. Die Unterschiede übertragen sich über Generationen. Die behauptete Angleichung an den Westen mag manche Äußerlichkeit betreffen, nicht aber den psychosozialen Zustand der Menschen." So analysiert der Hallenser Therapeut und Buchautor Jochen Maaz in dem Artikel den Zustand 22 Jahre danach.

Verleugnen hilft nicht. Ich glaube, dass es sogar ganz hilfreich sein kann, sein Leben ganz bewusst auf den Erfahrungen aufzubauen, die man in der DDR gemacht hat. Denn Erlebnisse im Guten wie im Schlechten haben uns geprägt. Erinnern und offen darüber sprechen, das hilft Kraft daraus zu schöpfen.

Einfach abstreifen kann man das nicht, das gelebte Leben in der DDR. Schon gar nicht, wenn man sich klar macht, dass die DDR als Diktatur 40 Jahre lang funktioniert hat.

Die DDR hat ihre Bürger unfrei gehalten, sie zur Anpassung angehalten und Widersprechen bestraft. Das hat die Gesellschaft verändert. Tiefgreifend, lang anhaltend, mit Folgen auch für unser jetziges Miteinander. So habe ich es erfahren. Die Praxis und das Prinzip der Abgrenzung haben die Menschen nicht nur im Handeln sondern auch im Denken beschränkt. Sich das einzugestehen, ist schmerzhaft, aber auch befreiend. Denn das Überwinden dieser Schranken heißt Ankommen in der Freiheit.

Im heutigen Deutschland so angekommen zu sein, ist eine Lebensleistung, die viel zu wenig anerkannt wird. Freiheit musste gelernt werden, sie war nicht einfach da. Das haben viele im anderen Teil Deutschlands nur bedingt verstanden.

Anzukommen in einer weit offenen Gesellschaft, in der jeder Gedanke sein darf und die die Selbstbestimmung in alle Richtungen möglich macht, ist eine große Herausforderung. Frei zu sein im Denken. Frei zu sein, jede Meinung zu äußern. Frei zu sein, sein Leben so zu gestalten, wie man es will. Das kann auch eine Last sein.

Man kann sogar Angst vor zu viel Freiheit haben. Es ist ein Lernprozess mit der Fülle der Möglichkeiten umzugehen, mit dem Risiko der falschen Entscheidung zu leben. Das ist anstrengend, aber für mich war das eindeutig besser, als bevormundet zu werden.

Freiheit ist ein ständiger Prozess. Freiheit heißt auch, alte Denkmuster, die einem verordnet werden oder die man sich im Leben selber auferlegt, aufbrechen zu können, ganz unabhängig davon, in welcher Gesellschaft man lebt.

Das Verdrängen der Vergangenheit kann Probleme nicht lösen. Vielmehr hilft ein bewusstes Bekenntnis zur Biografie, Lebenskraft zu schöpfen, um neue Wege zu gehen. Jeder hat die Chance, etwas Positives in die Deutsche Einheit einzubringen, auf das er stolz sein kann.

Der SED-Funktionär aus dem Beispiel vorhin könnte stolz darauf sein, dass er eingestanden hat, die falsche Politik gemacht zu haben. Der Pfarrer könnte auf seinen aufrechten Gang stolz sein, der Arbeiter auf seine handwerklichen Fähigkeiten, der Schriftsteller auf seine Bücher und der Stasi-Offizier auf die Bitte um Entschuldigung für das begangene Unrecht. Der politische Häftling schließlich darauf, dass er auf dem Weg zur Friedlichen Revolution nicht zerbrochen ist.

Ja, es muss immer wieder betont werden. Die deutsche Einheit ist kein Geschenk des Himmels gewesen, sondern es war ein Akt der Selbstbefreiung der Menschen.

Es waren Bürger der DDR, die die Selbstbefreiung von der Diktatur als ein Geschenk an die gemeinsame Zukunft Deutschlands in die Vereinigung eingebracht haben. Viel zu oft geht diese großartige historische Leistung von Deutschen im Lamentieren über die Schwierigkeiten des Vereinigungsprozesses unter.

Jeder Einzelne, der ausgebrochen ist, aus dem System der Anpassung, verdient eine besondere Anerkennung. Dass so viele Menschen es geschafft haben, ihre Angst zu überwinden, das war die Grundlage für die Friedliche Revolution. Diese Menschen haben mit ihrem Handeln den Mauerfall bewirkt und damit die Deutsche Einheit möglich gemacht.

Und noch etwas hat diese Friedliche Revolution möglich gemacht. Mutige Bürger haben etwas geschafft, das damals weltweit einmalig war. Sie haben die Unterlagen des zentralen Instruments der Diktatur, der Geheimpolizei Staatssicherheit, für die Aufarbeitung gesichert. Sie haben der untergehenden DDR, aber auch dem vereinten Deutschland abgetrotzt, in die Akten schauen zu dürfen, die über die Bürger angelegt wurden. „Jedem seine Akte – Freiheit für meine Akte.“

Weltweit erstmalig ist seither der Zugang zu den Geheimpolizei-Akten eines Staates für jedermann möglich. Unter Beachtung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, nach rechtsstaatlichen Prinzipien.

Wie wir als Gesellschaft diese Aufgabe des Umgangs mit der geheimpolizeilichen Hinterlassenschaft der Diktatur gelöst haben, das findet internationale Aufmerksamkeit und Anerkennung. Vor allem auch von Ländern, die selber einen Umsturz bewirkt haben und jetzt nach Wegen zur Demokratie suchen.

Nicht, dass ich das bei meiner Arbeit vergessen würde, aber in den Begegnungen der letzten Monate mit Gästen aus Ägypten, Tunesien oder Marokko ist mir noch mal deutlicher geworden, was wir Besonderes tun, in dem wir uns mit der Vergangenheit so intensiv beschäftigen.

Wenn unsere Besucher zwischen den Stasi-Akten stehen und sich erklären lassen, wie man das in den Akten dokumentierte staatliche Handeln transparent macht. Und gleichzeitig die Persönlichkeitsrechte derer schützt, die von der Geheimpolizei bespitzelt und drangsaliert wurden, dann ist diese Vergangenheit aktuell.

Die Beschäftigung mit dem, was war, und vor allem mit dem, was Unrecht war, fokussiert wie im Brennglas das, was uns heute als Wert zu schnell selbstverständlich erscheint. Freiheit.

Die DDR erlebt und gelebt zu haben ist für mich eine Erfahrung, die mir hilft, die Freiheit in der heutigen Gesellschaft zu definieren. Diese Chance haben auch die nächsten Generationen, wenn sie sich mit der Vergangenheit ihrer Eltern und Großeltern beschäftigen.

Die Vergangenheit ist kein Gefängnis, sie ist Chance für neue Erkenntnis. Übrigens nicht nur für die, die die DDR erlebt haben, sondern für uns alle im nun vereinten Deutschland. Es ist nun unsere gemeinsame Geschichte.

Erkennen, wie im Detail die zweite deutsche Diktatur funktioniert hat, das hilft Demokratie zu gestalten. Erkennen, was genau es heißt, wenn Menschenrechte verletzt und missachtet werden, heißt sie in der heutigen Gesellschaft besonders zu schätzen und zu schützen. Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten.

Ja, anpassen oder widersprechen, das ist nämlich nicht nur eine Frage in der Diktatur. Jeder von uns muss sie im täglichen Leben beantworten. Wann widerspreche ich meinem Chef und wann lasse ich es lieber sein? Lieber einen bequemen Weg gehen oder sich selber treu bleiben? Wie entscheiden Sie?

Freiheit muss man sich nehmen, auch in der Demokratie. Auch in der Demokratie gibt es Mechanismen, die Anpassung fördern. Auch in unserem Land gibt es Situationen, in denen der Widerspruch schwerfällt. Und auch in der Demokratie gibt es Duckmäuser. Wenn ich in so manches Unternehmen und in so manche Behörde schaue, geht es bei vielen Leuten darum, keinen Ärger zu haben.

Die Devise heißt: Bloß nicht auffallen, bloß nicht zu weit aus dem Fenster hängen, lieber keine Verantwortung übernehmen und immer nach oben absichern. Viele denken, es ist besser, sich unterzuordnen, dann hat man seine Ruhe. Und so wird lieber im stillen Kämmerlein gemeckert als sich zum Teil einer Lösung zu machen.

Probleme offener benennen, offener diskutieren um sie zu lösen - das täte auch dieser Gesellschaft gut. Im öffentlichen Leben, in der Wirtschaft und auch in der Politik. Mir wird auch in diesem Land zu wenig widersprochen.

Natürlich kann man nicht alles ewig diskutieren. Aber wenn ich in die Politik schaue, da staune ich schon, was so alles einfach durch gewunken wird. Regieren, das heißt oft die eigene Partei auf Linie zu bringen, statt Diskussionen zu fördern. Widerspruch wird mir zu oft platt gemacht.

Dabei ist es gerade wichtig, dass Politiker mit ihrem Widerspruch die Debatten bereichern. Egal ob beim Thema Euro oder Atomstrom. Das Wort Streit ist leider zum Negativbegriff geworden. Zu oft wird Streit als Schauspiel für die Medien begriffen, bei dem einer gewinnt und der andere verliert. Zu oft wird der, der widerspricht, als Störenfried empfunden. Dabei ist doch gerade das kritische Hinterfragen, der Streit um die beste Idee das Lebensblut der Demokratie.

Auch wir Bürger und Wähler und Konsumenten können uns fragen, ob wir nicht manchmal zu bequem sind und unsere Demokratie nicht genügend herausfordern. Sie lebt von unserem Engagement. Die Demokratie, die Herrschaft des Volkes, ist so lebendig wie das Volk selbst.

Und dazu braucht sie freie, mündige Bürger. Gerade mit Blick auf die nächste Generation ist es wichtig, das Demokratie-Bewusstsein zu stärken. Ich denke, dass gerade die Beschäftigung mit der Unfreiheit für die jungen Leute ein hilfreicher Kompass ist, den Herausforderungen unserer Zeit besser zu begegnen.

Neulich war ich an einem Gymnasium und habe über die DDR und die Staatssicherheit gesprochen. Und es dauerte keine fünf Minuten, da haben die Schülerinnen und Schüler sich mit mir über den Bundestrojaner und möglichen Datenmissbrauch bei Facebook unterhalten.

Die Sammelwut einer Geheimpolizei in einer kommunistischen Diktatur legte für sie den Gedanken an Facebook nahe. Die Schüler haben nichts gleichgesetzt, nur ihre Ängste formuliert. Die Geheimpolizei, die Diktatur in der DDR als abschreckendes Beispiel. Es hat sie sensibel gemacht für die Gefahren, die in den großen Datenmengen liegen. Und es hat sie bereit gemacht, genauer hinzuschauen, was mit ihren Daten geschieht und es hat sie ermuntert, sich gegen möglichen Datenmissbrauch zu wehren.

Unsere Gesellschaft einer Prüfung im Spiegel der Diktatur zu unterziehen, das schärft die demokratischen Sinne. Wenn man weiß, wie Meinungsfreiheit, wie Presse- und Versammlungsfreiheit unterdrückt werden können, dann weiß man Freiheit besser zu würdigen und zu bewahren.

Dafür braucht es Zeugnisse. Dokumente und Zeitzeugen, authentische Gegenstände und erlebbare Orte. Gerade die authentischen Orte werden immer wertvoller, weil sie die Geschichte auch für nächste Generation sinnlich erfahrbar machen können. Orte, an denen Unrecht geschehen ist. Orte der Mächtigen, aber auch Orte des Aufbegehrens.
Die Stasi-Akten sind ein Monument der Überwachung. Die Gefängnisse dokumentieren die Verfolgung von Menschen. Die Grenzpfähle am Todesstreifen mitten durch Deutschland zeugen vom Leid der deutschen Teilung.

Aus den Orten der Diktatur werden Lernorte für Demokratie. Wer Unfreiheit klar vor Augen hat, kann die Gefahren für die Freiheit besser erkennen. Deshalb ist Aufarbeitung keinesfalls nur die Beschäftigung mit der Vergangenheit, sondern sie ist ein Baustein für die Zukunft.

Sie hier in Thüringen sind dabei auf einem guten Weg. Noch in diesem Jahr werden Sie in der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in der Erfurter Andreasstraße eine Gedenkstätte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur einrichten. Das wird ein Ort sein, der mit dazu beiträgt, dass auch die nächste Generation lernen kann, nie wieder in die Fänge einer Diktatur zu geraten.

In den Grenzlandmuseen und Gedenkstätten am ehemaligen Todesstreifen können Schulklassen sehen und erfahren, dass es ein Grenzregime gegeben hat, das Deutschland und Europa teilte. An diesen authentischen Orten und nicht nur dort sollten wir gemeinsam deutsche Geschichte aufarbeiten.

Aufarbeitung hat kein Verfallsdatum. Aufklären und die Dinge beim Namen nennen, das sollten wir tun, immer zu. Im Interesse einer Zukunft, die wir frei und selbstbestimmt gestalten. Freiheit ist das, was zählt.

In diesem Sinne ist für mich der 3.Oktober nicht nur der Tag der Deutschen Einheit, sondern ein Tag der Freiheit, den es zu feiern lohnt. Feiern, in dem man sich erinnert.

Heute und auch in Zukunft.