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"Für die Partei inszeniert - warum haben sie mitgemacht?"

Das ist schon gewagt: In diesem Jahr begehen wir 25 Jahre "Friedliche Revolution" in der DDR – und das Deutsche Historische Museum präsentiert hier eine Ausstellung mit dem Titel "Farbe für die Republik". Die DDR, die sogenannte Deutsche Demokratische Republik, war eine Republik, derer sich die Bürger in jener "Friedlichen Revolution" entledigt haben. Sie hatten es endlich satt, im SED-Staat zu leben, der ihnen grundlegende Rechte verwehrte.
Und Sie hier im Deutschen Historischen Museum ? Sie wagen es, die DDR zur Schau zu stellen - während sich der Rest des Landes darauf vorbereitet, ihren Untergang zu feiern. Ich will Ihnen sagen, ich finde das gut!

Denn so wichtig und inspirierend es ist, sich an das befreiende Ende der DDR zu erinnern - so wichtig ist es auch, die ganze Geschichte zu erzählen. Vor der Friedlichen Revolution liegen über 40 Jahre DDR,

40 Jahre deutscher Geschichte mit vielen Facetten. Vor der Friedlichen Revolution liegt die Geschichte eines Staates, der seinen Bürgern die Selbstbestimmung nahm, eine Ideologie aufzwang, sie 29 Jahre lang gefangen hielt mit Mauer und Stacheldraht, ihnen Menschenrechte verwehrte.

Die Bilder, die dazu gehören, sind Aufnahmen von Grenzanlagen, von fliehenden Menschen, von einem sterbenden Peter Fechter. Es sind Aufnahmen von verfallenden Innenstädten, rauchenden Industrieanlagen und erschreckender Umweltzerstörung. Aufnahmen von vergitterten Fenstern und Menschen in grauer Resignation. Diese Bilder sind meist in schwarz-weiß, sie bezeugen die Rücksichtslosigkeit des Regimes gegenüber den Menschen, die in dem Land lebten.

Diese Bilder sind wichtig zur Erinnerung für die, die weggeschaut haben, für die, die das Vorgefallene geleugnet haben, für die, die es vergessen wollen. Und vor allem sind diese Aufnahmen wichtig für die, die diese Zeit nicht erlebt haben.

Das Deutsche Historische Museum, hat in vielen Ausstellungen dafür gesorgt, dass solche Bilder zu sehen waren. Das Deutsche Historische Museum klärt die Menschen auf über den Unrechtsstaat DDR. Doch die ganze Geschichte will erzählt werden. Zum Leben in der DDR gehört nicht nur schwarz-weiß, sondern auch Farbe. Gehören nicht nur die Bilder der Repression und des Verfalls, sondern auch die Bilder der Ideologie und des Aufbaus des Sozialismus.

Die Ausstellung "Farbe für die Republik" zeigt nun also die Inszenierung dieses Staates. Eine Inszenierung, in der doch so viele mitgespielt haben, selbst wenn sie es nicht wollten. Wir sollten die Geschichte der DDR nicht nur auf die Repression beschränken.

Wenn wir nicht auch die Selbst-Inszenierung der DDR in der Regie der Partei verstehen, verstehen wir nicht, warum es ihr gelang, so lange so viele Menschen darin gefangen zu nehmen. Warum es ihr gelang, so viele Menschen zum Mitmachen, zum Anpassen zu bewegen.

Die DDR, das war ein Unrechtsstaat, eine Diktatur. Sieht man das diesen Bildern an? Sie erzählen von einem Alltag in Schule und Beruf, sie erzählen von Freizeitspaß und leckerem Essen. Auf den ersten Blick scheint es den Menschen gut zu gehen. Bilderbuchwetter. Entspannte, meist fröhliche Gesichter. Der Zukunft zugewandt. Ja, es ist wahr. Auch in der Diktatur leben Menschen das Auf und Ab eines normalen Lebens. Auch in der Diktatur scheint die Sonne.

Es gibt ein Foto in dem Buch zur Ausstellung "Farbe für die Republik", das man schnell überblättert, aber das mich beschäftigt. Es ist das Bild eines Plattenbaus aus dem Jahr 1969. 10 Stockwerke hoch, in jeder Etage reihen sich 30 Fenster aneinander, ein zweiter Plattenblock gleich nebenan. Davor grüner Rasen, ein paar spielende Kinder. Der Himmel ist blau. Der schöne sozialistische Wohnungsneubau. Hinter der Plattenbau-Fassade lebten Ehepaare, junge Familien, Rentner. Wie lebten sie? Zufrieden? Angepasst? Als Mitmacher? Als Antreiber? Oder etwa im Widerspruch? Das Foto verweigert eine schnelle Antwort.

Doch wenn man die Fassade genauer betrachtet, findet man Indizien. An den meisten Fenstern hängt eine DDR-Fahne, an manchen eine rote. Der kleinen Fahnenschaft draußen vor dem Fensterbrett war Standard in der DDR. Und an nationalen Feiertagen wurde die DDR-Fahne am Holzstab vors Fenster gehängt. Der Plattenbau ist fast durchgängig beflaggt. Fast. Vor drei Wohnungen fehlt die Fahne. Was heißt das? Hat der Hauswart die Familie registriert und weitergemeldet? Hat die Familie das Flaggen bewusst verweigert? War es ihr kleiner Protest gegen die Bevormundung? Oder haben sie es einfach nur vergessen?

Vor kurzem hat mich eine junge Schülerin gefragt, ob es verwerflich gewesen sei, dass ihr Großvater zu DDR-Zeiten die Fahne vors Fenster gehängt hatte, weil er seiner Tochter, ihrer Mutter, das Studieren nicht gefährden wollte. War es verwerflich, sich der verlangten Inszenierung der DDR zu übergeben? Das Foto des Plattenbaus sagt, die meisten haben sich gefügt. Kostet ja nicht viel und erspart Ärger. Im Zweifelsfalle schützt es sogar die Familie. Fahnen raus zum Feiertag, das war halt so.

Die Fotos von Martin Schmidt und Kurt Schwarzer sind Dokumente der Zeitgeschichte. Sie können helfen, das Leben in der DDR zu verstehen. Die DDR in Farbe. Gab es das überhaupt? War dieses Land nicht trist und grau? Kann man der Farbe trauen?

Man merkt es den Fotos an. Es sind Fotografen, die im Auftrag unterwegs waren. Ihr Blick stand unter einem Motto. Der Sozialismus hat schön zu sein. In den Fotos wird Alltag inszeniert, und das, eher die Ausnahme in der technikklammen DDR, bitte in Farbe.

Wenn man durch die Ausstellung geht, gehen jemandem, der selbst ein Kind der DDR ist, viele Gedanken durch den Kopf. Szene um Szene wächst die Erinnerung. Da sitzt eine fröhliche Brigade im Büro und berät. Die Parteiführung steht lachend auf der Tribüne mit jungen Pionieren. Frauen schrauben konzentriert an der Werkbank. Und Männer arbeiten kraftvoll im Stall beim Ausmisten. Es ist schwer, sich der nostalgischen Kraft dieser Bilder zu entziehen.

Immer wieder blitzen bei mir die eigenen Erlebnisse auf, denke ich an Schulfreunde und Arbeitskollegen. Und wie das so damals war. 17 Millionen Menschen lebten zuletzt in der DDR. Sie alle müssten wissen wie es war, das Leben in der DDR.

Haben sie das Leben wirklich so gekannt, wie auf diesen Bildern? Was zeigen diese Bilder – die Realität? Die Inszenierung? Die ideologische Version von DDR-Leben? Sind das die "wahren" Schnappschüsse des sozialistischen Alltags?

Hier und da dokumentieren diese Fotos auch deutlich den Versuch, es der wirtschaftlich so erfolgreicheren Bundesrepublik Deutschland gleich zu tun. Zumindest auf dem Foto sollte es genauso aussehen wie "drüben".

"Überholen ohne einzuholen" kommt mir wieder in den Sinn. Die Parole, die die Partei ausgab, und mit der am Westen vorbeigezogen werden sollte - nur eben besser, anders, weil man ihn angeblich nicht einholen wollte, den Kapitalismus. Ein ewig unerfüllter Traum der DDR – überholen ohne einzuholen. Diese Fotos – viele aus dem Westen werden sie wohl mit einem amüsanten Lächeln quittieren, wenn sie selber die DDR noch kannten.

Und trotzdem. Die Bilder sind faszinierend. Mein Kopf sagt, dass ich nicht einfach so in meinen Erinnerungen schwelgen darf. Dass ich mich nicht der Vertrautheit der Abbildung des Lebens in der DDR hingeben darf.
Die Inszenierung des sozialistischen Alltags ist bei fast jedem Motiv deutlich zu spüren. Deshalb auch schwirren jede Menge Parolen in meinem Kopf, nicht nur, weil sie oft im Hintergrund zu lesen sind. Es ist, würde man heute sagen, PR für den Sozialismus in der DDR. So haben sie uns die DDR präsentiert, die staatlich gelenkten Medien und Institutionen. So wollte die Partei, dass wir uns sehen. Hat es funktioniert? Ich kann es heute nicht mehr sagen. Meine Erinnerung ist kein verlässlicher Partner. Daher ist mein Misstrauen gegen die Bilder groß.

Aber dann gibt es die Gesichter der Menschen. Die kenne ich. Sie sind vertraut, so als blickte ich auf Fotos von Schulfreunden, Arbeitskollegen oder Nachbarn. Diese Gesichter, sie sind auf eine bestechende Art authentisch.
Warum haben sie sich vor den Karren der Partei sperren lassen? Oder haben sie es gar nicht so empfunden? Hätte ich mich nicht vielleicht selber für so ein Foto zur Verfügung gestellt? Eine Aufnahme für die Zeitschrift "NBI", mit der ich DDR-weit bekannt werde? Ich als Nachwuchstalent beim Fußballclub in Jena – mein Vater wäre stolz gewesen.

Man sieht es den Fotos förmlich an, welche Szenen im Vorfeld passiert sein müssen. Der Anruf eines Verlages, vielleicht eines Gewerkschaftsfunktionärs. "Genosse, nächste Woche kommt der Fotograf. Bereiten Sie alles vor." Die Aufregung im Betrieb über diese Auszeichnung. Die nicht ganz unkomplizierte Suche nach Motiven und Mitarbeitern, die für die Aufnahmen auszuwählen sind. Die hektischen Telefonate mit der Parteileitung.
Dann der Tag der Aufnahme. Sitzt alles? - Das kann sich sehen lassen.

Die Gesichter auf den Bildern sind auch Zeugnisse des Stolzes. In den Blicken die Suche nach Anerkennung für den täglichen Einsatz. Die Szenen oft gestellt, vermitteln viel zu idealtypisch das Reißbrett der sozialistischen Gesellschaft.

Habe ich jemals diesen Alltag so erlebt? Und doch kommt mir ein Gedanke glasklar. Wenn ich diese Bilder sehe und die Blicke der Menschen, dann weiß ich auch, warum die Kritik an der DDR oft auf heftige Abwehr stößt. Warum die Ostalgie um sich greift und die Aufarbeitung gern weggewischt wird. Die Kritik an der DDR wird als Kritik an den Menschen verstanden, die versuchten, unter den Bedingungen der Diktatur zu leben.

Die Blicke sagen mir, sie hatten auch ihren Stolz bei der Arbeit, sie wollten ihre Talente anerkannt wissen, sie haben alle ihre Fähigkeiten eingebracht – trotz des Regimes oder vielleicht auch als Vertreter des Regimes.
Es war eben nicht alles schlecht in der DDR. Das ist ein naheliegender Gedanke. Die Diktatur, wo ist sie auf den Bildern zu sehen? Wie sieht Diktatur aus? Der Schrecken, er kommt auf den Bildern nicht rüber. Und so richtig unglücklich sieht keiner auf diesen Fotos aus.

Gern würde ich mit denen, die dort posieren, heute sprechen. Was haben sie gedacht, damals? Warum haben sie die DDR ertragen, warum haben sie mitgemacht? Waren sie angepasst oder haben sie sich vielleicht zwischen Mitmachen und Ablehnen bewegt? Mal die Fahne rausgehängt, mal nicht? Waren sie stramme SED-Genossen oder "nur" in der Gewerkschaft?

So war es eben, werden sie vielleicht sagen. Was sollte man schon machen außer mitmachen? So ließ man sich eben auch vor die Kamera schieben, um ein gutes Bild abzugeben. Besser das als Stress mit dem Brigadier oder der Parteileitung. In den Gruppenbildern kann man es manchmal erkennen. Der Blick ist leicht genervt, die Körperhaltung abgewandt vom Chef. Was genau war da eigentlich wirklich los, auf dieser Weide, auf der sich gestandene Männer um den LPG-Leiter in weißem Hemd scharen?

Mit diesen Bildern taucht man mitten hinein in den Alltag der DDR und man kann sich vor Fragen nicht retten. Was genau war die Realität? Was Inszenierung? Kannten die Menschen den Unterschied? Haben sie an die, wie der Historiker Stefan Wolle es nannte, "heile Welt der Diktatur" geglaubt? Und was haben die beiden Fotografen gesehen – und was haben sie dann im Bild festgehalten?

Kurt Schwarzer hat gesagt, er sei ein unpolitischer Mensch. Ein Leben lang hatte er sich einer Parteimitgliedschaft entzogen. Martin Schmidt war sein gesamtes DDR-Leben lang Mitglied der SED. In den späten 60er Jahren hat er sich, so steht es in Stasi-Unterlagen, zudem für eine inoffizielle Mitarbeit bei der Staatssicherheit verpflichtet. Für die HV A, die Auslandsspionage, sollte er bei seinen Fotoaufträgen auf Messen in Frankfurt am Main tätig werden.
Unzuverlässig sei er dabei gewesen, habe sich entgegen der Anordnungen verhalten und die Dekonspiration riskiert, steht in der Akte.

Für ihn sei die Zusammenarbeit mit der Stasi, vor allem eines – Gefahr seiner freiberuflichen Karriere. Wenn jemand erführe, er sei bei der Stasi, wäre es vorbei mit seinem Dasein als freiberuflicher Fotograf. Das taucht immer wieder in den Berichten seiner Führungsoffiziere auf. Nach drei Jahren ist er wieder draußen aus der Stasi-Verstrickung. Warum hat er mitgemacht? Martin Schmidt hat darauf seine Antwort.

Unterschiede zwischen Schmidt und Schwarzer in der Herangehensweise an die Fotos kann ich nicht feststellen. Schwarzer ist für mich nicht weniger inszenatorisch und Schmidt nicht mehr propagandistisch. Beide waren Künstler, die selber außerhalb von Kollektiv oder Brigade oder Parteizusammenhang arbeiteten. Sie hatten ein gutes Auskommen damit, künstlerische Freiheiten, die sie dennoch in einen Dienst stellten. In den Dienst der Partei und ihrer Medien. War ihnen das bewusst? Oder war ihnen die Anpassung an das, was gefragt war, schon längst nicht mehr präsent? Und ist das wirklich verwerflich? Kommerzielle Fotografen bedienen ihre Klienten. Dass die Bilder hier der Selbstinszenierung einer Ideologie nutzten, musste sie das interessieren?

"Farbe für die Republik" ist ein vielschichtiges Portrait eines Landes geworden, das es nicht mehr gibt. Jedes Bild voller Schichten: Es ist zunächst das Kurzportrait der Ideologie einer Partei, die das Land beherrschte. Dann ein Einblick in die Kunst der Fotografen. Und auch ein Schnappschuss vom Alltag der Menschen, die in der SED-Diktatur lebten.

Wer diese Bilder mit Fragen im Kopf sieht, stößt eine Tür auf. Er hat die Chance, sich mit Diktatur auseinanderzusetzen in all ihren Facetten. Er begibt sich auf eine Reise durch eine fotografierte Gesellschaft, die so nie wirklich existierte. Und er blickt auf Menschen, die sich in einer Gesellschaftsvision inszenieren ließen, ohne dass die Fotografen ihnen die Chance auf Distanz oder Kritik ließen.

Die Bilder – sie verlangen quasi, dass man mehr wissen will. Fast ein Vierteljahrhundert später ist die Erinnerung an die Zeit der DDR und auch der Friedlichen Revolution schon nicht mehr so frisch. Immer mehr junge Menschen wissen nicht mehr, wie sich das anfühlt, hinter einer Mauer zu leben, oder wissen kaum noch, dass es diese Mauer gab. Es fällt ihnen schwer, so sagen Umfragen, zu erklären, was der Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie ist.

Wenn man ihn selber gelebt hat, ihn erlebt hat, diesen Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie ist es einfach. Wenn all das nur Geschichte ist, offenkundig schwieriger. Daher ist gerade diese Ausstellung auch für die nächsten Generationen ein besonders wichtiges Zeitdokument.

"Farbe für die Republik" wagt einen besonderen Blick zurück. Die Ausstellung provoziert viele Fragen und verlangt nach Antworten. Die Ausstellung ermuntert, sich mit dem Geschehenen in der DDR im Detail auseinanderzusetzen. Gerade in der bewusst inszenierten Normalität des Alltags erinnert uns die Ausstellung daran, wie schnell sich Menschen an eine Diktatur gewöhnen können.

Mit dieser Botschaft leistet die Ausstellung doch auch einen Beitrag zum 25. Jahr der "Friedlichen Revolution" und lässt uns die Errungenschaften des Herbstes 1989 in einem besonderen Licht erscheinen.