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"Zwischen Anpassung und Widerspruch"

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Lieber Hubertus Knabe, sehr geehrter Herr Kleine-Kraneburg, sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte mich bedanken für die Einladung und vor allen Dingen dafür, dass Sie das Thema des Mitläufertums heute hier auf die Tagesordnung gesetzt haben. Wenn wir wirklich verstehen wollen, wie Diktatur funktioniert hat, dürfen wir uns nicht nur mit der Stasi beschäftigen. Wir müssen vielmehr genau bei der Frage ansetzen, warum diese Diktatur so lange existieren konnte, weshalb sie so lange funktioniert hat. Ich bin gebeten worden, heute über sehr persönliche Erfahrungen zu berichten, zu erzählen, wo Mitläufer eingegriffen haben in mein Leben, wo ich in der Auseinandersetzung mit dem System Widerspruch angemeldet habe.

Das Thema im Programm lautet "Warum ich nicht zum Mitläufer wurde". Ich finde, diese Überschrift ist nicht passend. Sie macht es zu einfach. Ich halte es für ein bisschen anmaßend zu sagen, ich sei nicht mitgelaufen. Ich würde das Thema eher nennen "Zwischen Anpassung und Widerspruch", denn wenn wir heute über das Thema "Schuld von vielen reden" und über "Schuld der Mitläufer" diskutieren, dann muss ich, dann müssen wir alle feststellen, es gibt keine einfachen Wahrheiten.

Nicht mitlaufen wie gefordert, die vorgezeichneten Bahnen des Staates einfach verlassen, selbstbestimmt leben, das war eben nicht so einfach in der DDR. Und meine Altersgruppe, die 1953 Geborenen, wir wollten in gewisser Weise sogar mitlaufen. Ich jedenfalls habe durchaus geträumt von einem Leben in Gerechtigkeit und habe sogar den Begriff "Sozialismus" dafür gewählt. Das war etwas, das ich und auch andere ganz bewusst gemacht haben.

"Mitmachen oder verweigern, anpassen oder widersprechen?"

Wir dürfen nicht vergessen, es war ein Leben in Unfreiheit, wo wir auch in unseren Vorstellungen von Gesellschaft beschränkt waren, nicht nur im Handeln, sondern auch im Denken. Es war nicht einfach, einen Weg zu finden auf dem man sich selbst treu blieb. Es war ein richtiges Wechselspiel zwischen Anpassung und Widerspruch.

Warum hat die Diktatur in der DDR so lange funktioniert? Und was hieß das ganz konkret für die Menschen, die hinter der Mauer im realen Sozialismus gelebt haben? Warum haben so viele mitgemacht? Mitmachen oder verweigern, anpassen oder widersprechen? Das sind Fragen vor denen viele von uns, auch ich, jeden Tag neu standen.

Ich erinnere mich an den November 1976. Ich war Student der Wirtschaftswissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Im Seminar "Wissenschaftlicher Kommunismus" übte ich Kritik an der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann, die kurz zuvor erfolgt war. Wolf Biermann, dessen kritische Texte dem Staat nicht passten. Als ich meine Meinung im Seminar ganz offen sagte, ahnte ich nicht, dass der Seminarleiter an der Uni ein Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit war. Er erstattete Bericht über das, was ich sagte. Die Folge: Gegen mich begann ein Kesseltreiben, betrieben von SED-Funktionären und Staatssicherheit. Die Universitätsleitung beschloss, mich auf Grund meiner Meinungsäußerung wegen "Gröblicher Verletzung der Studiendisziplin" zu exmatrikulieren. Damit dieser Akt demokratisch legitimiert erscheint, wurde eine Abstimmung in der Seminargruppe anberaumt.

Zwei Abende vor der Abstimmung saß ich mit meinen Freunden aus dem Seminar in einer Kneipe. Wir tranken Bier und diskutierten. Sie klopften mir auf die Schulter und sagten: "Roland, das wird schon. Roland, wir stehen zu dir." Am übernächsten Tag, keine 40 Stunden später, dann die Abstimmung. Das Ergebnis: 13:1 – gegen mich. Das Ende meines Studiums war besiegelt.

Nach der Abstimmung kamen meine Kommilitonen einzeln zu mir. "Du musst verstehen, Roland, meine Frau bekommt gerade das zweite Kind. Ich kann nichts riskieren," sagte einer. "Es tut mir leid, aber mein Vater ist in herausgehobener Position. Ich kann ihn doch nicht gefährden," sagte ein anderer.

Erklärungen. Ausflüchte. Entschuldigungen. Ich habe sie alle verstanden. Denn ich wusste Bescheid. Ich wusste Bescheid wie schwierig es ist, einen Weg zu finden zwischen Anpassung und Widerspruch. Auch ich hatte meine mich ja jahrelang in vielen Situationen angepasst an die Vorgaben des SED-Staates.

"Auch ich war mal ein Rädchen im Mechanismus der Diktatur"

Es ist gut, sich zu erinnern an die konkreten Geschichten. Und es gut sich bewusst zu machen, welche Rolle das eigene Verhalten für Andere im Gesamtsystem gespielt hat. Am besten sollte man bei sich selbst anfangen. Für mich war es wichtig, mit Hilfe meiner Erinnerung meine Rolle zu erkennen, und für mich ist es wichtig, es deutlich zu benennen: Auch ich war mal ein Rädchen, das sich drehte im Mechanismus der Diktatur.

Ich erinnere mich an meine Schulzeit. Die Lehrer begrüßten uns zum Unterricht mit der Losung "Für Frieden und Sozialismus – Seid bereit!". "Immer bereit" – so antworteten wir im Chor der Thälmann-Pioniere und legten unsere Hand zum Gruß auf den Kopf. Was dieser Schwur bedeutete, darüber habe ich mir so richtig keine Gedanken gemacht.

Ich erinnere mich, wie ich in der 8. Klasse am 1. Mai 1968 im Blau-Hemd der staatlichen Jugendorganisation, der Freien Deutschen Jugend, im Block meiner Schule, der Adolf-Reichwein-Oberschule in Jena, an der Ehrentribüne vorbeimarschierte. Wir alberten herum, und mehr so aus Spaß schrien wir laut: "Ruft uns die Partei, wir sind dabei."

Ich machte mir keine Gedanken über das für und wider. Ich marschierte. Die SED-Funktionäre nahmen unser Bekenntnis dankbar entgegen. Ich war mit dabei, an diesem 1. Mai. Ich lief mit – ich war Mitläufer!

Natürlich könnte ich jetzt die vielen Male aufzählen, wo ich Widerspruch angemeldet, wo ich mich gewehrt habe, weil ich mich ungerecht behandelt fühlte. Etwa an die langen Haare, die wir tragen wollten, derentwegen wir aus dem Unterricht geschmissen wurden. Ich habe in Berlin beim Volksbildungsministerium protestiert, und wir haben es erreicht, dass wir in der Schule dann doch lange Haare tragen durften. Wir protestierten, weil wir bei den Klassenabenden nicht die Musik hören durften, die wir hören wollten, die West-Musik, und erklärten, dass wir mit den Vorgaben nicht einverstanden waren. Ich könnte auch erzählen über Ton Steine Scherben, die Anarcho-Band, die wir im Schulfunk gespielt haben, und die Probleme, die ich dadurch bekam. Ich könnte berichten, dass ich abgelehnt habe, drei Jahre zur Armee zu gehen. In meinem jetzt oft zitierten Zeugnis der 8. Klasse war zu lesen "Er neigte dazu, in Opposition zu treten." Aber als ich dann mein Abiturzeugnis bekam, in dem stand, "Er hat keinen gefestigten Klassenstandpunkt", ging ich zum Direktor und erklärte, das dürfe dort nicht stehen. Ich setzte durch, dass es jetzt heißt: "Er muss sich noch fester um einen Klassenstandpunkt bemühen." Was wollte ich damit erreichen? Natürlich, dass ich studieren darf! Natürlich wollte ich meinen Weg gehen, wie er auch von meinen Eltern gewünscht war. Und so ging ich natürlich zur Armee.

Ich erinnere mich an meinen Wehrdienst nach dem Abitur 1972. "Ich diene der Deutschen Demokratischen Republik", schallte der Text des Fahneneides über den Kasernenplatz, auch aus meinem Munde. Eineinhalb Jahre lang leistete ich meinen Grundwehrdienst bei der Kasernierten Bereitschaftspolizei in Rudolstadt ab. Die Bereitschaftspolizei war eine ganz besondere Waffengattung in der DDR. Ich machte das nicht freiwillig, der Grundwehrdienst war ja immerhin Pflicht, aber ich war dabei. Ich war dabei, bei den bewaffneten Truppen, die zur Abschreckung der eigenen Bevölkerung dienten, auch wenn ich mir dabei dachte: Probst du hier nicht den Einsatz gegen dich selbst? Ich kam dennoch nicht auf den Gedanken, den Waffendienst zu verweigern. Ich wollte schließlich studieren, Wirtschaftswissenschaften.

Ich erinnere mich an mein Studium an der Friedrich-Schiller-Universität, dort, wo auch mein Freund Siegfried Reiprich an der Sektion Philosophie eingeschrieben war. Wegen seiner Kritik an der SED wurde er aus dem Studium geworfen. Ich solidarisierte mich natürlich mit ihm, ganz persönlich, von Mensch zu Mensch, aber einen öffentlichen Protest bekundete ich nicht. Ich hatte Angst, der Nächste zu sein, der Nächste, der aus dem Studium fliegt.

Geholfen hat mir das öffentliche Schweigen nicht. Schon ein halbes Jahr später wurde ich, wie vorhin erwähnt, wegen meiner Kritik an der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann von der Uni geworfen.

"Anpassen oder widersprechen: Fast täglich musste ich mich entscheiden"

Und selbst in dieser Auseinandersetzung um meinen Rausschmiss versuchte ich mich, aus welchen Gründen auch immer, anzupassen, um meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. In meiner vom Parteisekretär der SED abgeforderte Stellungnahme wandte ich mich zwar nach wie vor gegen die Ausbürgerung Biermanns und forderte Meinungsfreiheit ein. Aber im Text wimmelt es nur so an Bekenntnissen zum Sozialismus.

Das war die pure Anpassung trotz Widerspruch. Vielleicht war es auch immer noch Träumerei vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Zwar betonte ich in diesem Text: "Es ist notwendig, dass jeder seine Meinung frei und ehrlich äußert. Dabei darf er in keiner Weise eingeschränkt werden." Aber diesen zwei Sätzen habe ich zwei andere voran gestellt: "Eine wichtige Quelle der Entwicklung des Sozialismus liegt im kritischen Meinungsstreit. Dabei muss das eigentliche Ziel, der Kommunismus, stets vor Augen sein."

Ja, es ist erkenntnisreich, sich mal die eigenen Texte von früher anzuschauen.

Und wenn ich an den 17. Juni, dessen 60. Jahrestag wir ja gerade begangen haben, den Jahrestag des Volksaufstandes von 1953 in der DDR denke, dann erinnere ich mich mit Schrecken daran, wie lange die DDR-Propaganda mit dem Schlagwort vom "faschistischen Putsch" bei mir nachwirkte. Denn nach dem Volksaufstand 1953 waren es nur ganz wenige, die die Kraft und den Mut hatten, sich offen in Opposition zu stellen und sich auf dieses Datum zu berufen.

Bereits im Westen weilend, war ich am 17. Juni 1983 Gast in der Bundestagsfraktion der Grünen in Bonn. Unter dem Beifall von Petra Kelly, Joschka Fischer und Otto Schily sprach ich davon, dass der 17. Juni 1953 in der DDR zwei Gesichter hatte. Er sei schon ein demokratischer Volksaufstand, aber noch ein "faschistischer Putsch" gewesen.

Heute bedauere ich diese Worte vom "faschistischen Putsch" zutiefst, denn sie waren pure SED-Propaganda, die auch auf mich gewirkt hatte. So hart es klingen mag, wenn ich mir mein Leben in den einzelnen Etappen, wie ich sie gerade geschildert habe, genau anschaue, so muss ich eingestehen: Auch ich habe zeitweise mit meinem Verhalten politische Verfolgung und Repression objektiv begünstigt. Auch ich habe diese Diktatur zeitweise gestützt.

Stationen eines typischen DDR-Kindes, in den vorgeschriebenen Bahnen, könnte man sagen. Ich wollte dabei sein, nicht ausgegrenzt sein. Ich wollte ein glückliches Leben führen in Schule und Familie. Und so nahm ich auch Rücksicht auf die Menschen, die mir lieb waren im Leben. Zum Beispiel auf meinen Vater: Im volkseigenen Betrieb Carl Zeiss Jena, hatte er als Ingenieur an der Entwicklung der Weltraumkamera mitgearbeitet, mit der Siegmund Jähn, der gefeierte DDR-Kosmonaut, ins All flog. Mein Vater machte mir öfter deutlich, dass er Schwierigkeiten im Betrieb bekommen würde, wenn ich in der Schule – oder später an der Uni – widerspräche. Er habe mit seiner Hände Arbeit, ohne SED-Mitgliedschaft, seine berufliche Existenz geschaffen. Das solle ich doch nicht gefährden für ein kleines Stück Meinungsfreiheit. Es gehe schließlich um das Glück der ganzen Familie.

Und so habe ich manches Mal den Mund gehalten, statt meine Meinung offen zu sagen. Anpassen oder widersprechen: Fast täglich musste ich mich entscheiden. Widersprechen, nein sagen, das war eben nicht so einfach in der DDR. Man konnte nicht berechnen, was es für Folgen hatte, für einen selbst und vor allen Dingen für die Familie. Willkür, Sippenverfolgung, das System der Angst: Dem konnte man sich nicht so einfach entziehen. Selbst wenn man, jung und leicht rebellisch war.

"Für meinen Willen zur Freiheit mussten auch andere bezahlen"

Es brauchte Anlässe, manchmal außergewöhnliche Ereignisse, um die Angst zu verlieren.

Der Schriftsteller Jürgen Fuchs, der auch hier in Hohenschönhausen im Gefängnis saß, hat dies "das Ende einer Feigheit" genannt. Meine Feigheit hatte ein Ende, als mein Freund Matthias Domaschk aus Jena im April 1981 in einem Verhör in der Stasi-Haft zu Tode kam. Er war gerade mal 23 Jahre alt. Der Tod von Matz, wie wir ihn nannten, war Einschüchterung und Ansporn zugleich. Mein Mittel gegen die Angst hieß jetzt: keine faulen Kompromisse mehr!

Hilfreich dabei war, dass mein Vater in jenem Jahr Invalidenrentner wurde. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, auf seine berufliche Stellung Rücksicht nehmen zu müssen.

Und so wurden meine Aktionen halt doch ein bisschen mutiger. Ich sagte meine Meinung nicht mehr nur in Diskussionen hinter verschlossenen Türen, sondern auf der Straße, mit öffentlichen Demonstrationen. Doch im September '82 zog die Stasi mich daraufhin aus dem Verkehr und verhaftete mich. Der Anlass: Ein kleines polnisches Papierfähnchen an meinem Fahrrad, mit dem Schriftzug der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc. Das war für die Stasi "Missachtung staatlicher Symbole". So hieß die angebliche Straftat, formuliert im Paragraph 222 des Strafgesetzbuches der DDR. Es war naiv von mir zu glauben, die DDR, die Machthaber würden sich an die eigenen Gesetze halten. Sie interpretierten sie, wie sie wollten.

Nach Monaten in der Einzelhaft war ich kurz vor dem Zusammenbruch. Die Stasi-Vernehmer drohten mir, dass ich meine dreijährige Tochter ein paar Jahre nicht sehen würde. Als sie mir dann Fotos von ihr vorlegten, rollten meine Tränen. Die Stasi-Vernehmer saßen daneben und amüsierten sich feixend.

Und die Angst vor der Sippenhaft wurde zur Realität. Weil sein Sohn seine Meinung nicht verschwieg und deswegen ins Gefängnis gesperrt wurde, hat man meinem Vater sein Lebenswerk genommen: Fußball – das war sein Leben. Als Leiter der Nachwuchsabteilung hatte er mit Herz und Leidenschaft den Fußballclub Carl Zeiss Jena mit aufgebaut. Das war für ihn ein Ersatz für den zerstörten Traum vom Fußballer, zerstört als er im 2.Weltkrieg ein Bein verlor. Einst für seine Verdienste zum Ehrenmitglied Nummer 1 ernannt, wurde er mit Vollzug der Sippenhaft eiskalt aus dem Fußball-Club geworfen.

Für meinen Willen, mir ein Stück Freiheit zu nehmen, mussten somit auch andere bezahlen.

Als mir das bewusst wurde, habe ich mich im Gefängnis schon gefragt, ob mein Weg des offenen Widerspruchs der richtige ist. Ob die Freiheit der Meinung das wert ist. Und selbst heute denke ich manchmal, was hast du deinem Vater angetan? Kurz vor dem Tod haben wir uns darüber ausgesprochen. Er hat sich bei mir entschuldigt, dass er damals, bei der Biermann-Ausbürgerung, mich beschimpft hat. Er hat mir vorgehalten "Für so 'n Scheiß-Liedermacher setzt du das Glück der ganzen Familie aufs Spiel." Und ich gab zu, dass ich vielleicht manchmal nicht an ihn gedacht habe, an die Konsequenzen für ihn.

Ich hatte Glück, als ich im Gefängnis saß, weil öffentliche Proteste in Ost und West für meine vorzeitige Freilassung gesorgt haben. Sie haben mir neue Kraft gegeben. Ich weiß nicht, wie es ausgegangen wäre, wenn ich mein Strafmaß von 22 Monaten hinter Gittern hätte absitzen müssen. Ich weiß nicht, ob ich die Kraft gehabt hätte, weiter aus dem System der Angst auszubrechen.

Aber damals, frisch aus dem Gefängnis entlassen, mit der Unterstützung aus dem Westen, fühlte ich mich stark genug, weiter zu machen. Zu widersprechen und meine Meinung auf die Straße zu tragen. Und das Entscheidende: Ich war nicht allein. Ich hatte Freunde in Jena. Auch wenn viele weggegangen, viele ausgereist waren, es gab immer wieder neue Leute, die sich zusammengefunden haben.

Und mit der Losung "Schwerter zur Pflugscharen", mit der wir dann im Mai '83 mit Freunden durch die Innenstadt von Jena gezogen sind, haben wir das deutlich gemacht. "Alles verändert sich, wenn du es veränderst. Doch du kannst nicht gewinnen, so lange du allein bist." Die Losung und das Lied von Ton Steine Scherben, das war das, was uns mitgetragen hat. Wir waren wenige, aber wir waren trotzdem viele. 30, 40, das hat Kraft gegeben, wenn man da nicht alleine stand. Eine Demonstration für Frieden und Abrüstung haben wir gemacht, gegen die eigentlich niemand etwas haben konnte. Dennoch wurden wir von Stasi-Mitarbeitern auseinander geprügelt, und unsere Plakate wurden zerrissen. Unabhängige Gedanken in der Öffentlichkeit wurden nicht geduldet.

Kurze Zeit später, im Juni 1983, schlug die Stasi wieder zu. Dieses Mal sperrte man mich nicht ein, sondern aus. Unter einem Vorwand wurde ich auf das Wohnungsamt bestellt. Dort teilten mir die Genossen vom Rat der Stadt Jena mit, dass ich mit sofortiger Wirkung aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen sei und des Landes verwiesen werde. Den Rest des Abtransportes überließen sie der Polizei und den Männern von der Staatssicherheit. Der Rat der Stadt, die Funktionsträger und die Mitläufer Hand in Hand mit den "Sicherheitsorganen", wie das so schön hieß.

In Hemd und Hose und mit Knebelketten gefesselt wurde ich zum Grenzbahnhof Probstzella, an der Grenze zu Bayern, gebracht. Mir gingen in diesem Moment viele Gedanken durch den Kopf:

Ich will doch gar nicht weg!

Das können die doch nicht so einfach mit mir machen!

Was ist mit meinen Eltern?

Umringt von einer Horde Stasi-Mitarbeiter wollte ich wissen, warum diese Männer mich wie ein Stück Frachtgut in den Zug werfen, warum sie mich gegen meinen Willen aus der Heimat wegbringen, weg von meinen Freunden, weg von meiner Familie.

"Was ist noch okay, in der Anpassung an die Verhältnisse?"

Ich fragte den Polizisten, der mich bewachte: Was würden Sie dazu sagen, wenn das hier mit Ihrem Sohn gemacht würde? Eine Antwort bekam ich nicht, stattdessen zog er die Knebelketten noch fester an. Und ich konnte nur noch schreien. Diesen Moment habe ich nie vergessen. Zwei Menschen in einer extremen Situation. Und dann diese Reaktion. Ich wollte erkennen, wie dieser Mensch denkt, der mir das antut, und ob er noch fühlen kann wie ein Vater, der seinen Sohn liebt.

Mein Appell an seine Menschlichkeit aber hat ihn nur verhärtet. Er hat dicht gemacht. Wollte sich in dem Moment der Verantwortung für sein Tun nicht stellen. Nur keine Schwäche zeigen. Nicht daran denken, dass er jemandem Unrecht antut. Was ging in seinem Kopf vor? Warum hat er das getan? Warum hat er mitgemacht?

Antworten auf die Fragen habe ich von dem Polizisten nie bekommen. Ich weiß nicht, wo er ist, ob er noch lebt, ob er sich an diesen Moment erinnert. Aber ich weiß, dass die Antworten auf diese Fragen für mich, auch heute und hier von großer Bedeutung sind, denn es sind die grundsätzlichen Fragen: Mitmachen oder verweigern? Anpassen oder widersprechen? Wer entscheidet wie, wann und in welcher Situation?

"Ist es verwerflich, dass mein Opa die DDR-Fahne vor seinem Haus aufgehängt hatte, nur weil er wollte, dass meine Mutter studieren durfte?" Das hat mich zum Beispiel vor kurzem eine Erfurter Schülerin gefragt. Ich war überrascht und beeindruckt. Mit ihren 16 Jahren hatte sie genau den Finger in die Wunde gelegt.

War das verwerflich? Was sagen Sie? Was ist noch okay, in der Anpassung an die Verhältnisse? Wo ist Schluss? Wo geht man zu weit? Einfache Wahrheiten gibt es nicht. Und immer wieder stellen sich die gleichen oder ähnliche Fragen. Anpassen oder widersprechen? Mitmachen oder verweigern? Wer verhält sich wie in welcher Situation?

Was ist mit dem jungen Abiturienten, der eingezogen wurde zum Wehrdienst, befehligt zu den Grenztruppen an die Staatsgrenze West? Arzt wollte er später werden, wie sein Vater. Ich kenne viele solcher Leute aus meiner Schulklasse, aus meiner Schule, aus meinem Abiturjahrgang. Hätte er den Wehrdienst verweigern sollen? Verweigern und damit sein Medizinstudium verspielen, die Karriere seines Vaters gefährden?

Es wird schon nicht so schlimm werden, die Zeit als Grenzsoldat – das war die Hoffnung. Und ist es gut gegangen, dann war das die Bestätigung für den gegangenen Weg. Glück gehabt! Kein Flüchtling hatte sich den Grenzabschnitt ausgesucht, in dem der Abiturient Posten stand. Seine Bereitschaft zum Schießen, seine Bereitschaft zum Töten, sie wurde im Ernstfall nicht geprüft. Den Ernstfall haben hunderte anderer erfahren, den Ernstfall, dass ein Flüchtling und ein Grenzsoldat aufeinandertrafen. Der eine hat geschossen, der andere war am Ende tot.

Reicht es zu hoffen, dass der Flüchtling einen anderen Weg geht? Reicht es zu hoffen, dass der Zufall an einem vorbeigeht? Jeder trägt die individuelle Verantwortung für sein Handeln, wie und an welcher Stelle er sich mit einem Unrechtssystem einlässt. Selbst wenn es die Norm ist, scheinbar Pflicht, und viele es tun.

Die Angst – das war der Kitt der Diktatur. Das Mittel, das die Diktatur zusammen hielt. Die Angst, oft nur vor kleinen Nachteilen. Die Masse der Menschen passte sich den Regeln des herrschenden politischen Systems an. Sie wurde eben zu Mitläufern. Ergebenheitsadressen an die SED gehörten zum Alltag wie das Zähneputzen. In den Schulen, in den Universitäten, und in den Betrieben.

Das ist halt so – das war die gängige Formel. Diplomarbeiten, Doktorarbeiten und selbst Schulaufsätze wurden mit Zitaten des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker garniert. Man bildete sich ein, dass man es müsste.

Anpassen, obwohl man eigentlich dagegen war. Bei den Wahlen die Kandidaten der "Nationalen Front" auf einer Einheitsliste einfach abnicken, obwohl man sie gar nicht wählen wollte. Freie Wahlen waren das eben nicht. Aber protestieren wollte auch keiner. Hauptsache nicht auffallen. Das könnte Nachteile bringen.

"Eine Frage von Werten, von Anstand und Gewissen"

Doch ich sage: Auch in der DDR konnte sich jeder Einzelne ein kleines Stück Freiheit nehmen, ohne einen zu hohen Preis zu zahlen. Denn es kostete nicht das Leben, wenn man sich verweigerte. Es kostete nur das Wohlleben, und oft nicht mal das. Der einzige Kommilitone, der zu mir hielt, bei der Abstimmung über meinen Rauswurf, konnte ohne Probleme weiterstudieren und seinen Abschluss machen.

Die Frage nach dem eigenen Verhalten in der Diktatur ist eine Frage von Werten, von Anstand und Gewissen.

Diese Vergangenheit aufzuarbeiten heißt, in der Gegenwart mit dieser Vergangenheit umzugehen und nicht so zu tun als ob nichts gewesen sei. Vergessen oder verdrängen befreit nicht von der eigenen Verantwortung, egal wie lange es her ist. Deshalb ist es wichtig, dass sich jeder selbst hinterfragt. Jeder muss für sich bewerten, wann er ja oder nein gesagt, wann er sich angepasst oder widersprochen hat. Jeder kann selbst am besten bewerten, ob er auch anders hätte handeln können. Wo ist der Polizist, der die Knebelkette anzog? Wo sind die Studenten, die meine Exmatrikulation besiegelten? Wo sind die Sportfunktionäre, die meinem Vater das Lebenswerk zerstörten.

Ich vermisse das Bekenntnis zur Biografie. Bei den Funktionären, aber auch bei den Mitläufern. Ich vermisse das Bekenntnis zur Verantwortung und das Hinterfragen des eigenen Handelns. Es geht nicht um Abrechnung oder Vergeltung, sondern um Aufklärung. Es geht darum zu begreifen, wie Diktatur funktioniert. Es geht darum zu begreifen, warum es so lange gedauert hat, bis die Menschen die Angst verloren haben.

Was ich stattdessen erlebe, ist vielfach die Rechtfertigung des eigenen Handelns und die Beschönigung der Verhältnisse in der DDR. Dabei kann der kritische Blick auf die eigene Biografie für jeden Einzelnen auch eine Chance sein. Ob privat, im Beruf oder auch in der Politik: Eine selbstkritische Reflexion kann befreien von der Last des damaligen Verhaltens.

Die Auseinandersetzung mit dem Verhalten der Menschen in den Zwängen und Spielräumen der Diktatur ist bei der Aufarbeitung der DDR bisher viel zu kurz gekommen. Und in diesem Sinne finde ich es ganz besonders wichtig, dass diese Veranstaltung heute hier stattfindet. Ich kann es nur noch einmal herausstellen: Toll, dass sie mit diesem Thema von der Adenauer-Stiftung und der Gedenkstätte Hohenschönhausen organisiert worden ist. Ich wünsche der Veranstaltung viel Erfolg und ende mit dem Leitgedanken auch für die Arbeit in unserer Behörde:

Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten.