Der offene Ausbruch der politischen Krise Anfang Oktober 1989 hatte zwei miteinander verknüpfte Auslöser: erstens hatte die Fluchtwelle dramatische Ausmaße angenommen und zweitens begingen die Machthaber den 40. Jahrestag der Gründung der DDR in dieser Krisensituation mit großem Pomp.

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Bühne für die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR am 7. Oktober 1989

40 Jahre DDR

Der offene Ausbruch der politischen Krise Anfang Oktober 1989 hatte zwei miteinander verknüpfte Auslöser: Erstens hatte die Fluchtwelle über Ungarn und die Tschechoslowakei dramatische Ausmaße angenommen. Zweitens jährte sich in diesen Tagen die Staatsgründung der DDR zum 40. Mal. Letzteres war ein Ereignis, das die Machthaber unbedingt in großem Maßstab feiern wollten. Unter den Bürgerinnen und Bürgern dagegen war das Gefühl weit verbreitet, in der aktuellen Situation gebe es nichts zu feiern, eher sei Protest angesagt.

Dennoch einen ungestörten Ablauf der Feierlichkeiten zu gewährleisten, war Aufgabe der Sicherheitskräfte. Was im einzelnen dafür zu unternehmen war, wurde festgelegt in einem von Erich Mielke vorgelegten und von Erich Honecker bestätigten "Maßnahmeplan".

Der Staatssicherheit war die Stimmung im Lande nicht verborgen geblieben. Das höchste Beratungsgremium im MfS, das Kollegium, befasste sich deshalb am 3. Oktober mit der aktuellen Lage. Das Kollegium bestand aus Minister Mielke und 13 weiteren Generälen: den vier stellvertretenden Ministern für Staatssicherheit, den Leitern einiger wichtiger Hauptabteilungen und dem Chef der Bezirksverwaltung Berlin.

Bei den "Hinweisen" im folgenden Dokument handelt es sich offenbar um ein Manuskript für eine Rede Mielkes vor diesem Gremium, dessen Sitzung unmittelbar vor Beginn der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag stattfand. Konstatiert wurde eine "Verschärfung der latenten und weiter wachsenden Unzufriedenheit, Verunsicherung in der Bevölkerung". Die Aufgabe der Sicherheitsorgane bestand darin, zu verhindern, dass diese Gefühle offen zum Ausdruck kamen. Protestaktionen, die die Feierlichkeiten stören könnten, seien schon "bei geringsten Hinweisen" zu unterbinden.

Grenze wird geschlossen

Verschärfend hinzu kam die Fluchtwelle, die die Feierlichkeiten zu überschatten drohte. Im September waren etwa 6.000 DDR-Bürger in die bundesdeutsche Botschaft in Prag geflüchtet. Um die Situation zu bereinigen, hatte die SED-Führung am 30. September die Zustimmung zu ihrer Ausreise gegeben. Doch kaum waren sie in der Bundesrepublik angekommen, füllte sich das Botschaftsgelände mit neuen Flüchtlingen, diesmal 7.600 Personen. Daraufhin entschied Honecker am 3. Oktober, die Grenze zur Tschechoslowakei schließen zu lassen. Über die Reaktionen der Bevölkerung darauf berichtete am folgenden Tag die Staatssicherheit.

In den folgenden Tagen eskalierten in Dresden, Berlin und in manchen anderen Städten die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitsorganen. Das Vorhaben, die Jubelfeier von Protesten ungestört durchzuziehen, war gescheitert. Am 7. Oktober 1989 fanden sich in Plauen, gemessen an der Einwohnerzahl, die meisten Demonstranten zusammen. An die 20.000 Menschen waren dem Aufruf der Bürgerbewegung "Initiative zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft" gefolgt. Weil die "Sicherheitskräfte" die Demonstration nicht auflösen konnten, setzten sie Löschfahrzeuge der Feuerwehr als Wasserwerfer ein. Viele unbeteiligte, durchnässte Personen schlosseen sich erbittert dem Protestzug an. Zwei von vielen Beispielen der Zivilcourage sind die Erklärungen der Freiwilligen Feuerwehren Plauen und Neundorf. Sie schrieben darin, dass der Einsatz der Feuerwehr in Plauen gesetzeswidrig gewesen sei und dem Ansehen der Feuerwehr geschadet habe.

Eskalation und Gewaltausbrüche

Der SED-Generalsekretär Erich Honecker wies am Morgen des 8. Oktober die regionalen SED-Chefs an, die "Bezirkseinsatzleitungen" , denen die Spitzen der verschiedenen Sicherheitsapparate und der SED in der Bezirken angehörten, zusammenzurufen. Es sollten Maßnahmen festgelegt werden, um "weitere Krawalle" "von vornherein zu unterbinden".

Der Minister für Staatssicherheit schickte am gleichen Vormittag ein eigenes Schreiben an die Leiter der Diensteinheiten des MfS, in dem sie angewiesen wurden, sich auf härtere Auseinandersetzungen und verschärfte Repression vorzubereiten. Er verordnete für alle Mitarbeiter "volle Dienstbereitschaft" und fordert die Bezirksverwaltungen auf, "auch zu offensiven Maßnahmen zur Unterbindung und Auflösung von Zusammenrottungen" bereit zu sein. Zu Personen, die von der Staatssicherheit bereits als politisch verdächtig "operativ bearbeitet" wurden, sollten Maßnahmen vorbereitet werden, um sie "erforderlichenfalls kurzfristig" festnehmen zu können.

Beide Befehle ließen nichts Gutes erwarten. Tatsächlich aber verlief die weitere Entwicklung ganz anders, als von den Machthabern geplant. Honecker wurde kurze Zeit später gestürzt. Das war auch dadurch bedingt, dass sich der repressive Kurs in Dresden und in Leipzig als nicht durchführbar erwies.
 

Zusammenstöße vor dem Dresdner Hauptbahnhof

In Dresden war es in den Tagen seit dem 3. Oktober zu heftigen Zusammenstößen gekommen, ausgelöst durch die Sperrung der Grenze zur Tschechoslowakei und das Zusammenströmen von Ausreisewilligen in der Elbestadt. Insgesamt wurden über 1.300 Personen festgenommen. Die Dresdner Ereignisse wurden zum Startschuss der Revolution. Zum ersten und einzigen Mal in diesem Herbst kam es zu größerer Gewaltanwendung auf beiden Seiten.

Erst auf Initiative von Kirchenleuten wurde schließlich eine friedliche Lösung für den Konflikt gefunden. Mit Hans Modrow als 1. Bezirkssekretär der SED in Dresden stand den Demonstranten auf der anderen Seite ein Funktionär gegenüber, der nach einigem Zögern einen solchen Schlichtungsversuch auch ohne Billigung aus Ost-Berlin riskierte.

Hans Modrow steht an einem Pult und hält eine Rede. Vor ihm ragt das Blatt einer Pflanze ins Bild.

Der Scharfmacher

Der Leiter der Dresdner Staatssicherheit, Horst Böhm, war ein Scharfmacher und ganz entschieden dagegen, vor der Bürgerbewegung zurückzuweichen. Er missbilligte Modrows Kompromissbereitschaft. Wahrscheinlich hat ihn Modrow gerade deshalb unmittelbar danach angewiesen, seine eigene Sicht der Ereignisse darzustellen. Das Ergebnis – die Sicht des vor Ort verantwortlichen Stasi-Funktionärs auf die erste Phase der Revolution – ist im folgenden Dokument nachzulesen:

Passbild Horst Böhm

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Böhm hatte seinen Bericht mit einem Hinweis auf Veranstaltungen abgeschlossen, die in vier Dresdner Kirchen am Abend des 9. Oktober stattfinden sollten. Den Verlauf dieser Volksversammlungen, an denen über 20.000 Menschen teilgenommen hatten, fasste er am nächsten Tag für die Stasi-Zentrale in Berlin zusammen. In den "Informationsveranstaltungen" wurde vor allem das erste Gespräch von Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer mit den Bürgervertretern thematisiert. Die entscheidende Botschaft war, dass die Machthaber überhaupt in einen Dialog mit den Demonstranten getreten waren.

In Dresden waren auch Hundertschaften der Nationalen Volksarmee (NVA) zum Einsatz gekommen, die als eine Art Hilfspolizei agierten. Diese wiederum wurden von Hauptabteilung I des MfS überwacht. Auf Grundlage von ausgewerteten Berichten Inoffizieller Mitarbeiter meldeten die Geheimpolizisten, dass unter den Soldaten "Zweifel" am Einsatz von Armeeeinheiten gegen Demonstranten laut wurden. Mit friedlichen Demonstranten sollte statt dessen geredet werden. Besonders stark war diese Einstellung unter Armeeangehörigen, selbst Führungskadern, die den Einsatz in Dresden miterlebt hatten. Zugleich wurde scharfe Kritik an der offiziellen Medienpolitik geäußert, die "verantwortungslos" und "ignorant" sei. "Den Partei- und Staatsorganen aller Ebenen wird Verantwortungs- und Konzeptionslosigkeit" vorgeworfen. Vielfach sei erklärt worden, dass in der DDR "Veränderungen erforderlich" seien.

Neben der Volksarmee, der Volkspolizei und der Staatssicherheit waren die paramilitärischen "Kampfgruppen der Arbeiterklasse" ein Teil des Sicherheitsapparates. Sie galten schon vor dem Herbst 1989 als schlecht ausgebildet und unzuverlässig. In der ersten Oktoberwoche kamen sie deshalb nur vereinzelt zum Einsatz.

Die nach dem 17. Juni 1953 aufgestellten "Kampfgruppen" waren als eine Art paramilitärischer Bürgerkriegsarmee konzipiert. Sie bestanden aus etwa 200.000 "Kämpfern", von denen die meisten - neben ihrer zivilen Tätigkeit als Arbeiter oder Staatsangestellte - "ehrenamtlich" tätig waren. Wie aus dem folgenden detaillierten Bericht hervorgeht, war ihre tatsächliche Kampfkraft gering. Schon zu Beginn des Jahres 1989 hatten viele Kampfgruppenangehörige dagegen protestiert, dass sie für Straßenkämpfe ausgebildet werden sollten. Ein entsprechender Ausbildungsplan musste fallen gelassen werden. In den ersten Oktobertagen wurden die Kampfgruppen deshalb nur vereinzelt eingesetzt. Dabei kam es zu einer hohen Anzahl von Austritten und Verweigerungen, weil die "Kämpfer" nicht "gegen Kollegen" vorgehen wollten.

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Die Revolution bleibt friedlich

Passfoto Manfred Hummitzsch

Den Durchbruch zum friedlichen Verlauf der Herbstrevolution brachte die Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober 1989. Ursprünglich sollte diese Demonstration zerschlagen werden. Aus zwei Gründen unterblieb das: Angesichts der Masse von etwa 70.000 Demonstranten aus allen Bevölkerungsschichten zögerten die regionalen Machthaber gewaltsam einzuschreiten, weil sie eine unkontrollierbare Eskalation fürchteten. Sie warteten zudem auf Anweisungen aus Ost-Berlin, doch dort herrschte Funkstille: SED-Spitzenfunktionäre bereiteten gerade einen Kurswechsel vor, den sie gegen Honeckers Politik durchsetzen wollten. Selbst Mielke, der noch am Vortag ein scharfes Vorgehen proklamiert hatte, war inzwischen eingeweiht worden und zögerte deshalb.

Über den Verlauf der Demonstration in Leipzig berichtete am Abend des gleichen Tages der Chef der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, Generalleutnant Hummitzsch, seinen Vorgesetzten in Ost-Berlin.

Montagsdemonstration in Leipzig am  9. Oktober 1989

Der Sturz Honeckers

Am nächsten Tag, auf der Sitzung des SED-Politbüros am 10./11. Oktober, setzten die Honecker-Gegner um Günter Schabowski und Egon Krenz eine vorsichtige Kurskorrektur gegen die dogmatisch-repressive Politik des Generalsekretärs durch. Eine "Erklärung des Politbüros" wurde verabschiedet, in der zumindest Bedauern über die Fluchtwelle anklang. Eine Woche zuvor hatte das Neue Deutschland, die SED-Parteizeitung, noch geschrieben: "Man sollte ihnen keine Träne nachweinen." In recht allgemeinen Worten wurde eine Politik des "Dialogs" angekündigt: "Wir stellen uns der Diskussion."

Das war nicht im Sinne Honeckers und er gab sich noch nicht ganz geschlagen. In seiner Funktion als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates erließ er einen Befehl, mit dem er die Sicherheitskräfte auf die nächste Leipziger Montagsdemonstration (am 16. Oktober 1989) vorbereiten wollte.

Der "Nationale Verteidigungsrat" fungierte als eine Art Notstandsregierung unter dem Vorsitz des Generalsekretärs der SED. Er war für die Vorbereitung auf den Kriegsfall und die Landesverteidigung zuständig, konnte aber auch im Falle einer "bedrohlichen Lage" im Innern aktiv werden.

Mit dem Befehl 9/89 wurden die Machtapparate im Bezirk Leipzig angewiesen, die "Führungsbereitschaft" der "Bezirkseinsatzleitung" herzustellen. Doch die Anweisungen waren widersprüchlich: Einerseits sollten sie "alle Maßnahmen" vorbereiten, "um geplante Demonstrationen im Entstehen zu verhindern". Andererseits aber durfte "der aktive Einsatz polizeilicher Kräfte und Mittel … nur bei Gewaltanwendung der Demonstranten" erfolgen. Schusswaffeneinsatz war "grundsätzlich verboten".

 

„Erich, es ist Schluss“

Erich Mielke
Stasi-Chef Erich Mielke zu Erich Honecker auf der Sitzung des SED-Politbüros am 17. Oktober 1989

Wenige Tage später, am 17. Oktober, wurde Honecker gestürzt. Alle seine Genossen im Politbüro forderten ihn auf abzutreten, auch sein alter Kampfgenosse Erich Mielke. Ein Teilnehmer notierte Mielkes Statement: "Wir haben vieles mitgemacht. Wir können doch nicht anfangen, mit Panzern zu schießen. Erich [es ist] Schluss: Ich akzeptiere das."

Der Grund für Mielkes plötzliche Zurückhaltung wird aus einer Mitteilung ersichtlich, die der Staatssicherheitsminister am Vortag an Honeckers Herausforderer Egon Krenz geschickt hatte. Daraus geht hervor, dass die erhoffte Beruhigung der Lage nicht eintrat, im Gegenteil. In den Betrieben sei mit "spontanen Streikaktionen" zu rechnen, wenn sich nicht sehr schnell tatsächlich etwas ändern würde.

Diese Information war laut Verteiler nur für die Spitze des MfS bestimmt, nicht – wie sonst üblich – auch für Mitglieder des SED-Politbüros. Eine Ausnahme gibt es: Mielke schickt vorab ein Exemplar an Egon Krenz, um ihm für die entscheidende Politbürositzung den Rücken zu stärken.

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Nachdem am 18. Oktober das SED-Zentralkomitee den "Rücktritt" Erich Honeckers von allen seinen Ämtern bestätigt hat, wurde das "Parteiaktiv" im MfS, das aus den führenden Stasi-Funktionären bestand, zusammengerufen und informiert.

Zweck der Parteiaktivtagung war die "Auswertung des 9. Plenums des ZK der SED". Dieses Plenum war am 18. Oktober überraschend zusammengetreten, um den am Vortag erzwungenen "Rücktritt" von Erich Honecker als SED-Generalsekretärs zu bestätigen. Im Ministerium für Staatssicherheit wurde noch am gleichen Tag das "Parteiaktiv" zusammengerufen, das aus 169 meist führenden Stasi-Funktionären bestand. In der nur halbstündigen Sitzung wurde Honeckers Rücktritt und die Wahl des bisherigen ZK-Sekretärs für Sicherheit Egon Krenz zu seinem Nachfolger bekannt gegeben und "mit Beifall" begrüßt.

Ein Demonstrationszug vor dem Palast der Republik in Berlin-Mitte am Abend des 24. Oktober 1989 aus Protest gegen die Ernennung von Egon Krenz zum neuen Staatschef der DDR. Die Menschen marschieren am späten Abend, es ist dunkel und sie halten Kerzen in der Hand. Im Hintergrund ist der Palast der Republik zu sehen, das Staatswappen der DDR mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz über dem Eingang hell erleuchtet. Die Demonstranten tragen Transparente, eines davon ist lesbar. "Keinen Ego(n)ismus" steht darauf.

Der Kurswechsel der SED unter Egon Krenz

Der neue Generalsekretär Egon Krenz verordnete der SED einen bedeutenden Kurswechsel. Noch am Tag seiner Wahl wendete er sich in einer Fernsehansprache an die DDR-Bürgerinnen und -Bürger. Er kündigte, allerdings in sehr allgemeinen Worten, eine "Wende" an: Reformschritte auf den verschiedensten Gebieten. Für die Angehörigen der Sicherheitsorgane war vor allem ein Satz wichtig: "Wir lassen uns von der festen Überzeugung leiten, daß alle Probleme in unserer Gesellschaft politisch lösbar sind." Das sollte heißen: Partei und Staat würden auf gesellschaftliche Konflikte nicht mehr mit den Methoden eines Polizeistaats reagieren.

„Wir lassen uns von der festen Überzeugung leiten, daß alle Probleme in unserer Gesellschaft politisch lösbar sind.“

Egon Krenz
Fernsehansprache zum "Kurswechsel"

Für die Staatssicherheit bedeutete das ein erhebliches Umdenken, bestand doch bisher eine ihrer Grundaufgaben darin, Konflikte geheimpolizeilich zu unterdrücken und Probleme zu verschleiern. Wie mit der neuen Situation umzugehen sei, erläuterte Mielke auf einer zentralen Dienstberatung.

Nach dem Sturz von Erich Honecker wurden die Oppositionsgruppen offensiver. Sie luden am 23. Oktober 1989 zu einer Pressekonferenz, um auf die staatlichen Übergriffe vom 7. und 8. Oktober aufmerksam zu machen. Rund 150 Gedächtnisprotokolle von festgenommenen und misshandelten Demonstranten hatten sie gesammelt, die nun der Öffentlichkeit übergeben wurden. Die SED-Führung wagte nicht, die Veranstaltung in der Berliner Kirchengemeinde Fennpfuhl zu verbieten. Für die Opposition war das ein wichtiger Erfolg. Die von ihr auf der Pressekonferenz geforderte Untersuchungskommission wurde Anfang November eingerichtet. In den Gedächtnisprotokollen, die von der Kontakttelefongruppe in der Berliner Gethsemane-Gemeinde gesammelt worden waren, werden die staatlichen Gewaltexzesse des 7. und 8. Oktober 1989 deutlich.

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Die neue SED-Führung beabsichtigte, durch eine sehr begrenzte reformerische Öffnung, die politische Initiative zurück zu gewinnen. Sie hoffte, die Bürgerrechtsbewegung, die immer mehr zu einer Bürgerbewegung wurde, einzugrenzen und teilweise zu integrieren.

"Dialogangebote" der SED galten in diesen Wochen immer nur den Bürgerrechtlern als Bürgern, nicht aber den nach wie vor verbotenen Bürgerrechtsorganisationen, beispielsweise dem Neuen Forum. Wie ihnen gegenüber künftig zu verfahren sei, versuchten die Chefs der Sicherheitsapparate in einer Vorlage für das SED-Politbüro zu ergründen. Quintessenz ihres Vorschlags war, an dem Verbot festzuhalten, jedoch ohne es repressiv durchzusetzen. Falls aber die Massendemonstrationen weiter zunehmen würden, müsste man die Verhängung des "Ausnahmezustands" in Erwägung ziehen. Das SED-Politbüro schloss sich dem nicht an, sondern vertagte das Problem.

Dass die Taktiererei gegenüber den Bürgerrechtsorganisationen selbst innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit umstritten war, zeigt das folgende Papier, in dem die Zulassung des Neuen Forum gefordert wurde. Auf dem Papier ist kein Autor verzeichnet, nach Fundort und Zusammenhang entstand es wahrscheinlich in der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe. Mielke hat sich dem offenbar nicht angeschlossen. Kernpunkt des Papiers ist, dass es eine politische Dummheit wäre, an der Nichtzulassung des Neuen Forum festzuhalten, weil seine Aktivitäten ohnehin nicht zu verhindern sind.

Nachdem das SED-Politbüro am 31. Oktober seine Konzeption für die Bekämpfung der Bürgerrechtsorganisationen erneut nicht akzeptiert hatte, kündigte Erich Mielke noch am gleichen Tag gegenüber Egon Krenz seinen Rücktritt als Minister für Staatssicherheit an. Seinen Untergebenen teilte er das noch nicht mit. Aber Mielke erteilte zum ersten Mal einen rein defensiven Befehl.

Davon ausgehend, dass Demonstrationen immer häufiger zu den Liegenschaften der Staatssicherheit führten, wird im Befehl eine "Verschärfung der Situation" konstatiert. Offenbar rechnete die MfS-Führung sogar mit der Besetzung von Dienststellen, denn die Stasi-Unterlagen sollten in Panzerschränken aufbewahrt werden, um "unberechtigten Zugriff" auf jeden Fall zu verhindern. Die Dienstobjekte sollten verteidigt werden, entsprechende Vorbereitungen seien zu treffen. Allerdings wurde auch eine gewisse Zurückhaltung in der Wahl der Mittel gefordert, um "keinen Anlass für eine Eskalation zu bieten, die die politische Lösung der entstandenen Lage durch die Partei komplizieren würde".

Wachsender Einfluss der Bürgerrechtsbewegung

Im Oktober 1989 kam es nicht nur zu einer Veränderung des gesellschaftlichen Klimas. Tatsächlich war der Oktober 1989 jener Monat, in dem die Bürgerrechtsbewegung politische Hegemonie in der Bevölkerung gewann. Deutlich wird das in mehreren Berichten der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe.

In einem Papier, dass nur für die MfS-Spitze bestimmt war, geht es um die "progressiven Kräfte", also die Stützen des Regimes. Ein ursprünglicher Entwurf ging nur an Minister Erich Mielke und den Chef der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe, Werner Irmler. Von einem von beiden wurde der Bericht noch erheblich verändert, genauer gesagt: radikalisiert.

Nach einer obligatorischen Vorbemerkung im Sinne des Systems konstatierten die Verfasser, dass "sich das Stimmungsbild der Bevölkerung der DDR weiter rapide verschlechtert" habe. Die "progressiven Kräfte" würden teils resignieren, teils zum Neuen Forum überlaufen. Im Vergleich mit früheren "Hinweisen" zur Stimmungslage ist neu, dass die SED-Führung direkt attackiert wird, und dass sie in drängender Form aufgefordert wird, in einen "offenen Dialog" einzutreten. Das Papier endet mit einem ganzen Katalog von Problembereichen, in denen "Veränderungen" angepackt werden müssten, so etwa die "Schaffung von Reisemöglichkeiten in das nichtsozialistische Ausland, unabhängig von Verwandtschaftsverhältnissen und besonderen Anlässen" - einfacher formuliert: Reisefreiheit.

Passfoto Werner Irmler

Künstler und Kulturschaffende, ja selbst viele Mitarbeiter in den offiziellen Medien, engagierten sich inzwischen in der Protestbewegung. Viele waren Sympathisanten des Neuen Forums. Obwohl oder gerade weil sie sich "mehrheitlich zur DDR" bekannten, forderten sie von der SED-Führung "einen offenen Dialog" über die aufgestauten Probleme. Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe berichtete über diese Entwicklungen in der Kunst- und Kulturszene.

Was sich zu Beginn des Monats bereits abzeichnete, war Ende Oktober Realität: Die Bürgerrechtsbewegung war mit ihren Forderungen zum Sprecher der Mehrheit der Bevölkerung geworden. Selbst Mitglieder der SED identifizierten sich mit dem Neuen Forum. Die Hoffnung der neuen SED-Spitze, mit einer Politik des "Dialogs" zu ihren Bedingungen, die Initiative zurück zu gewinnen, war gescheitert.

Allein in der letzten Oktoberwoche fanden nach Zählung des MfS 130 Demonstrationen mit insgesamt einer halben Million Teilnehmenden statt, zudem 200 politische Veranstaltungen mit über 200.000 Besucherinnen und Besuchern, auf denen die SED scharfer Kritik ausgesetzt war. Die Oppositionsbewegung, vor allem das Neue Forum, "durchdringt zwischenzeitlich … ausnahmslos alle wesentlichen Bereiche der Gesellschaft". In der Bürgerrechtsbewegung wurde vor allem darüber diskutiert, ob die Zeit bereits gekommen sei, die "führende Rolle der SED" herauszufordern oder ob durch die befürchtete Gegenreaktion der Machthaber der ganze Demokratisierungsprozess gefährdet würde.

Die "undifferenzierte Unterbindung" der Aktivitäten des Neuen Forum, heißt es in diesem von Erich Mielke unterzeichneten Papier, würde "nicht zu Stabilisierung der innenpolitischen Lage beitragen".

 

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Ein wesentlicher Faktor für den Erfolg der Revolution war die desolate wirtschaftliche Lage: Sie verstärkte den Ausreisedruck, unterminierte die Legitimität des Regimes und engte seinen politischen Handlungsspielraum empfindlich ein. Führende Wirtschaftsfunktionäre, darunter ein Stasi-Oberst, legten Ende Oktober 1989 eine schonungslose Analyse vor, die sie im Auftrag der neuen SED-Führung unter Egon Krenz erarbeitet hatten.

Die Quintessenz ihrer Argumentation war, dass die DDR seit Jahren über ihre Verhältnisse konsumierte, finanziert durch eine wachsende Verschuldung im westlichen Ausland. Nun drohte Zahlungsunfähigkeit. Damit stünde die SED-Führung vor einer fatalen Alternative: Entweder trete die Zahlungsunfähigkeit ein, dann müsste sie sich ihre Wirtschaftspolitik vom Internationalen Währungsfond (IWF) diktieren lassen, oder sie müsste versuchen, mit Hilfe der Bundesregierung an zusätzliche Kredite in zweistelliger Milliardenhöhe zu kommen.

Beide Varianten bedeuteten, dass sie sich keine Politik erlauben konnte, die im Westen Missfallen oder gar Empörung hervorgerufen hätte. Auf offene Repression als Mittel zur Überwindung der Krise musste schon aus diesem Grund verzichtet werden.

  1. September 1989
  2. November 1989