Die wichtigsten Zentren des Volksaufstandes in Thüringen lagen im Bezirk Gera, im Osten der Region. Ein wichtiger Grund dafür war der Uran-Bergbau in dieser Gegend. Hier schürften tausende Kumpel unter zum Teil schwierigen Arbeitsbedingungen Uranerz in großem Stil für die Sowjetunion.

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Akten auf der Straße

Der Volksaufstand in Gera

Östlich von Gera lag ein wichtiges Abbaugebiet der SAG Wismut, einer sowjetisch kontrollierten Gesellschaft und dem weltweit größten Bergbaubetrieb in diesem Bereich. Wie in den anderen über das gesamte Erzgebirge verteilten Revieren der Wismut schürften hier tausende Kumpel Uranerz in großem Stil für die Sowjetunion. Das taten sie unter zum Teil schwierigen Arbeitsbedingungen, unter hohem Leistungsstress und geringer Rücksicht der Betriebsleitung auf die Gesundheit der Kumpel. Entsprechend unzufrieden waren viele Wismut-Angehörige mit ihrer Lage.

Gleichzeitig beobachteten die Sicherheitsorgane die "Objekte" genannten Produktionsstätten aufgrund ihrer strategischen Bedeutung ganz genau. Die Sonderzonen der SAG waren praktisch exterritoriales Gebiet auf dem Boden der DDR, in denen der sowjetische Geheimdienst ein strenges Sicherheitsregiment führte. Eine strenge Hierarchie, ein enges Netz aus Vorschriften und nicht zuletzt die starke Präsenz sowjetischen Militärs verhinderten, dass die Kumpel ihrem Unmut in ihren Betrieben Luft machen konnten. Auch am 17. Juni 1953 sorgte dieses repressive System dafür, dass es in den Objekten der Wismut relativ ruhig blieb. Außerhalb der streng bewachten Bereiche ließen die Wismut-Kumpel ihrem Frust jedoch freien Lauf und spielten an mehreren Unruheherden der Region eine schlagkräftige Rolle.

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Nach Erfurt war Gera die größte Stadt Thüringens. 1953 lebten hier etwa 98.000 Menschen. Am frühen Morgen des 17. Juni legten als erste die Arbeiter des VEB Roto-Record die Arbeit nieder. Sie wählten ein Streikkomitee, fertigten einen Resolutionsentwurf an und forderten die anderen Betriebe auf, ebenfalls zu streiken. Daraufhin schlossen sich alle größeren Geraer Betriebe diesem Streik an. Ein überbetriebliches Komitee wurde gebildet. Zehntausende Einwohner Geras strömten in die Innenstadt und belagerten Zentren der Macht wie das Rathaus, den Rat des Bezirks oder die Bezirks- und Kreisleitung der SED. Einheiten der Kasernierten Volkspolizei und sowjetisches Militär rückten schnell in die Stadt ein, es kam zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. Dutzende Polizisten wurden entwaffnet und ihrer Uniformen entledigt. Die erbeuteten Waffen zerschlugen die Aufständischen zumeist auf Bordsteinkanten. Auch Polizeiwagen wurden zerstört. Immer wieder fielen auch Schüsse aus den Waffen der Sicherheitskräfte.

Zur Abschreckung stellten sowjetische Soldaten am Nachmittag schließlich drei gefechtsbereite Geschütze in der Stadt auf. Die Bevölkerung zeigte sich zunächst beeindruckt, hoffte jedoch auf das Eintreffen der schlagkräftigen Wismut-Kumpel. Die standen im Ruf, nicht lange zu zögern und ihrem Unmut auch handgreiflich Luft zu machen. Ein Bericht des Volkspolizei-Gebietskommandos Wismut fasst die Hoffnung der Bevölkerung zusammen: "Wenn die Wismut kommt, dann schlagen wir den ganzen Kram zum Klumpen, dann geht es erst richtig los."

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Einfahrt der Wismut-Kumpel in Gera

Tatsächlich waren bereits 40 Fahrzeuge der Wismut in Thüringen unterwegs. Zunächst hatten die Kumpel Karl-Marx-Stadt zum Ziel, wo sie demonstrieren wollten. Weil sowjetische Soldaten die Kolonne jedoch an der Bezirksgrenze an der Weiterfahrt gehindert hatten, machten sich die Kumpel kurzerhand auf den Weg in Richtung Gera. Unterwegs forderten sie immer wieder Arbeiter und andere Kumpel auf, ebenfalls zu streiken und zu demonstrieren. Von einer Straßensperre der KVP am Stadtrand von Gera ließ sich die Truppe nicht lange aufhalten. Gegen 16:00 Uhr fuhr die Kolonne unter dem Jubel der Bevölkerung in die Stadt ein.

Auf dem Marktplatz versuchten gerade Einheiten der KVP, eine Demonstration aufzulösen. In dieser Situation erreichten die Wismut-Kumpel den Platz. Sie gingen sofort zum Angriff auf die Volkspolizisten über. Einen vollbesetzten Mannschaftswagen der Polizei kippten sie um, es gab mehrere Verletzte. Im entstehenden Handgemenge konnten die Kumpel die meisten Polizisten entwaffnen und zum Rückzug zwingen. Auch diese erbeuteten Waffen wurden zerstört, einen Teil behielten die Kumpel wohl jedoch. Im Anschluss kam es zu weiteren Ausschreitungen in Gera, an denen sich 300 bis 400 Wismut-Kumpel beteiligten. Es kam zu schweren Zerstörungen. Auch nachdem um 17:00 Uhr der Ausnahmezustand über Gera verhängt wurde, ließen die Wismut-Angehörigen noch keine Ruhe einkehren.

Die sowjetische Besatzungsmacht verhängte am 17. und 18. Juni in über 167 der 217 Land- und Stadtkreise den Ausnahmezustand. Daraufhin veröffentlichte die DDR-Regierung am 17. Juni eine Bekanntmachung über Maßnahmen zur sofortigen Wiederherstellung der Ordnung:

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Abzug der Wismut-Kumpel und Aufruhr im Umland

Gegen 18:30 Uhr kam es zu Schießereien auf dem Platz der Republik, bei denen offensichtlich auch Wismut-Kumpel aus erbeuteten Waffen zurückschossen. Dort hatten etwa 200 Kumpel zwei sowjetische Soldaten umstellt. Die sowjetische Armee nahm dies zum Anlass, Gera hermetisch abzuriegeln. Erst in den späten Abendstunden zog allmählich Ruhe in der Stadt ein. Die Wismut-Kumpel hatten jedoch Geschmack am Aufruhr gefunden und fuhren nicht sofort in ihre Unterkünfte zurück. In Weida, einer Kleinstadt mit etwa 12.000 Einwohnern in der Nähe von Gera, beteiligten sie sich an weiteren Aktionen. Zunächst demolierten sie mehrere HO-Gaststätten.

Gegen 19:00 Uhr griffen etwa 800 Demonstranten, viele von ihnen Wismut-Angehörige, das Polizeirevier an. Als sich die darin verschanzten Polizisten weigerten, sich zu ergeben, drohte die Menge damit, das Gebäude in die Luft zu jagen. Gegen 22:00 Uhr kam es zu Schusswechseln, die sich zu regelrechten Gefechten auswuchsen. Offenbar benutzten Wismut-Kumpel in Gera erbeutete Waffen. Auch hier beendete erst der Einsatz von sowjetischem Militär den Aufstand. Es waren jedoch noch weitere Wismut-Kumpel in der Region unterwegs, weitere Kämpfe entbrannten etwa in Ronneburg oder in Berga. Insgesamt rollten an diesem Abend 52 LKWs und Busse der Wismut durch Ostthüringen, um Demonstrationen zu unterstützen oder selbst Proteste anzuzetteln.

Der Aufstand in der Zeiss-Stadt Jena

In Jena, der zweitgrößten Stadt des Bezirks, gaben die Beschäftigten der Zeiss-Werke den Anstoß zur Demonstration Tausender in Richtung Innenstadt. Am Ende beteiligten sich sämtliche Großbetriebe Jenas an den Streiks und Demonstrationen. Von Anfang an waren aber nicht nur Arbeiter, sondern auch Angestellte, Studenten, Lehrer, Schüler, Rentner, Hausfrauen und Wissenschaftler an den Protesten beteiligt. Zentraler Anlaufpunkt für die verschiedenen Demonstrationszüge war der Holzmarkt in der Mitte der Stadt. Um 13:00 Uhr hatten sich hier etwa 30.000 Menschen eingefunden. Demonstranten besetzten unter anderem die SED-Kreisleitung am Holzmarkt und verprügelten Funktionäre. Mehr als 1.000 Aufständische stürmten die Untersuchungshaftanstalt der Volkspolizei und brachen mit Brecheisen und Schweißgeräten die Zellentüren auf.

Von der Haftanstalt in Jena zogen die Demonstranten zur nicht weit entfernt liegenden Kreisdienststelle des MfS. Sie umstellten das Gebäude, in dem sich zu diesem Zeitpunkt 13 Mitarbeiter befanden. Von der vorgesetzten Dienststelle in Gera war ihnen der Gebrauch der Schusswaffe untersagt worden. Die Aufständischen gaben den MfS-Mitarbeitern fünf Minuten Zeit, um die Tore zu öffnen. Als nichts geschah, stürmten sie das Gebäude, zerstörten die Einrichtung und warfen Akten auf die Straße. Mindestens zwei MfS-Mitarbeiter wurden verprügelt. Einen Mitarbeiter des MfS führte die aufgebrachte Menge auf den Marktplatz und verhörte ihn regelrecht. Aus Angst beantwortete er alle Fragen. Dafür wurde er später fristlos entlassen. Er arbeitete noch zwei Jahre in Thüringen und floh dann in die Bundesrepublik. Die leitenden Mitarbeiter der Kreisdienststelle Jena traf etwas später der Vorwurf, der Angst ihrer Mitarbeiter nicht energisch genug begegnet zu sein.

Sowjetische Panzer rücken in Jena ein

Um die Mittagszeit erreichten sowjetische Panzertruppen den Stadtrand von Jena. Am Nachmittag erreichten sie das Stadtzentrum. Dort verhinderten zuerst entschlossene Frauen mit einer Sitzblockade das weitere Vorrücken der Panzer. Inzwischen hatten Aufständische die Straßen mit aus den Schienen gehobenen und quergestellten Straßenbahnwagen blockiert. Ein Zeitzeuge erinnerte sich, dass die Bevölkerung Straßenbahnwagen als Barrikade vor die Panzer bugsierte. Immer wieder versuchten die sowjetischen Panzer vorsichtig, den Hindernissen auszuweichen. Sie wurden aber stets aufs Neue durch die von den Massen bewegten Straßenbahnwagen behindert. Trotz allem konnten die Menschen die schweren Panzer damit nur kurzzeitig aufhalten. Nachdem erste Schüsse in die Luft abgefeuert wurden, wichen die Menschen zurück.

Ab 17:00 Uhr fuhren Lautsprecherwagen durch Jena und verkündeten den Ausnahmezustand. Sowjetische Einheiten und KVP-Angehörige trieben die Menschen nun energischer auseinander. Vor allen Großbetrieben und zentralen Gebäuden der Stadt zogen Panzer auf, die dort noch tagelang postiert blieben und die Bevölkerung einschüchtern sollten. Ein Besetzer der SED-Kreisleitung, der 26-jährige Alfred Diener, wurde von den Besatzungstruppen verhaftet. Ein sowjetisches Militärtribunal verurteilte ihn noch am gleichen Tag zum Tode und ließ ihn bereits am 18. Juni standrechtlich erschießen. Der russische Generalstaatsanwalt hob das Urteil im Jahr 1993 auf und rehabilitierte Diener. Hunderte anderer Jenaer Bürger wurden von Volkspolizei und Staatssicherheit festgenommen. Mehr als 150 von ihnen erhielten zum Teil langjährige Haftstrafen.

Literatur

Publikation

17. Juni 1953: Volksaufstand in der DDR

Ursachen – Abläufe – Folgen

Im Buch wird anschaulich auf der Grundlage umfangreicher Quellenüberlieferungen die gesamte Breite des Volksaufstandes vom 17. Juni geschildert. In Fallstudien rekonstruiert der Autor die Geschehnisse in sämtlichen Regionen der DDR.

  • Boch, Rudolf, Karlsch, Rainer (Hg.): Uranbergbau im Kalten Krieg – Die Wismut im sowjetischen Atomkomplex"
  • Roth, Heidi, Diederich, Torsten: "Wir sind Kumpel, uns kann keiner." – Der 17. Juni 1953 in der SAG-Wismut, in: Karlsch, Rainer, Schröter, Harm: "Strahlende Vergangenheit – Studien zur Geschichte des Uranbergbaus der Wismut"
  1. Frankfurt
  2. Halle