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Flugblatt, 1968

Der Kampf um die Meinungsfreiheit auch in der DDR

In der Nacht zum 21. August 1968 rollten Panzer in die Tschechoslowakei (ČSSR) ein. Es waren Panzer der "sozialistischen Bruderstaaten" Sowjetunion, Polen, Ungarn und Bulgarien. Die Prager Innenstadt glich einem Kriegsschauplatz. DDR-Grenztruppen sicherten die Grenze zur ČSSR, marschierten aber, auf Befehl Moskaus, nicht ein. Die Hoffnung auf einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" - einen Sozialismus in Osteuropa, der auf Meinungsfreiheit und wirtschaftliche Effizienz setzte - hatte sich damit zerschlagen.

In Ost-Berlin träumte die überzeugte Sozialistin Bettina Wegner (Jg. 1947) von mehr Meinungsfreiheit. Seit 1963 verbrachte sie einen Großteil ihrer Freizeit mit dem Schreiben von Gedichten und Liedern. Als Bettina Wegner im September 1964 eine Ausbildung zur Bibliothekarin in der Staatsbibliothek begann, wuchsen in ihr die Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Arbeiter-und-Bauern-Staats. Sie sah, dass die propagierten Lebensverhältnisse im Sozialismus und der Alltag der Menschen auseinanderklaffen.

Bettina Wegner hoffte, dass die positiven Veränderungen, die seit Anfang des Jahres 1968 in der ČSSR immer deutlicher zutage traten, auch in der DDR möglich waren. Als die Reformen am 21. August 1968 gewaltsam niedergeschlagen wurden, war sie schockiert und entschied sich, gegen die militärische Intervention in der Tschechoslowakei zu protestieren. Außerdem trieb sie der Gedanke an ihren Sohn an und die Vorstellung, dass er sie später fragen würde, was sie gegen das Unrecht getan habe. Sie wollte ihm ein Vorbild sein.

Am Sonntag, dem 25. August, beschloss sie, in der S-Bahn Flugblätter zu schreiben. Den Kinderwagen mit ihrem Sohn stellte sie dicht neben sich, um vor neugierigen Blicken geschützt zu sein. Mit einem roten Buntstift schrieb sie auf 50 Zettel Losungen wie »Deutsche raus aus Prag« und »Hoch Dubček!«. Abends ließ sie die Zettel rund um die Pankower Florastraße unauffällig aus ihrer Tasche fallen.

Foto mit den durch Bettina Wegner zur Flugblattherstellung genutzten Stifte

Die Flugblätter wurden nur kurze Zeit später von der Volkspolizei entdeckt. Am Vormittag des 26. August wurde Bettina Wegner verhaftet und in die Stasi-Untersuchungshaftanstalt nach Berlin-Pankow eingeliefert. Ihr wurde "staatsfeindliche Hetze" nach § 106 des StGB vorgeworfen. Ihr Sohn kam in die Obhut seiner Großeltern.

Dokument in der Stasi-Mediathek ansehen

Nach einer Woche intensiver Verhöre wurde Bettina Wegner unter "Weiterführung der Ermittlungsverfahren" vorzeitig aus der Haft entlassen. Erich Mielke persönlich unterzeichnete diesen Beschluss. Eine ungewöhnliche Entscheidung angesichts des schwerwiegenden Vorwurfs der "staatsfeindlichen Hetze". Der Hintergrund: Bettina Wegners Eltern waren angesehene SED-Genossen. Trotz der vorzeitigen Entlassung musste sie bis zur Verhandlung Ende Oktober 1968 viermal wöchentlich zur Vernehmung in die Stasi-Zentrale. Schließlich wurde sie zu einem Jahr und vier Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Diese Strafe wurde in eine zweijährige Bewährungsstrafe umgewandelt.

Militärisch war die DDR an der Niederschlagung des Prager Frühlings nicht beteiligt. Aber die Stasi unterstützte die Wiederherstellung der alten politischen Ordnung in der ČSSR mit verschiedenen "Maßnahmen" zur Überwachung und Kontrolle von Reformanhängern, so auch im Rahmen der am 28. August von Mielke angewiesenen Operation "Genesung".

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Publikation

Stasi in Berlin

Die DDR-Geheimpolizei in der geteilten Stadt

Die Länderstudie "Stasi in Berlin" dokumentiert die Geschichte der Staatssicherheit in der ehemaligen "Hauptstadt der DDR" unter regionalhistorischer Fragestellung.