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"Aufarbeitung kann man nicht verordnen."

Spiegel Online: Herr Jahn, im Juni sollen die Akten der DDR Staatssicherheit ins Bundesarchiv übergehen. Das bedeutet zugleich das Ende der Stasi-Unterlagenbehörde als eigenständige Institution. Sind wir jetzt, 32 Jahre nach dem Fall der Mauer, mit dem Thema Aufarbeitung durch?


Roland Jahn: Nein, natürlich nicht. Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur muss weitergehen, und dafür schaffen wir jetzt bessere, zeitgemäße Bedingungen. Es geht darum, die Stasi-Unterlagen für die nächsten Generationen zur Verfügung zu stellen.

Spiegel Online: Manche ehemaligen Bürgerrechtler befürchten aber einen Schlussstrich. Und auch von den Opferverbänden kamen kritische Stimmen.

Jahn: Ich kann diese Sorgen verstehen. Schließlich wurde die Existenzberechtigung des Stasi-Unterlagen-Archivs immer wieder in Frage gestellt. Dass es damals überhaupt zustande kam, war ja schon ein politisches Wunder. Es gab nämlich nicht nur im Osten Kräfte, denen es lieber gewesen wäre, wenn die Akten unter Verschluss geblieben oder gleich ganz vernichtet worden wären. Die Besetzer der Stasi-Zentrale haben das 1990 verhindert und dann gegen erhebliche Widerstände erstritten, dass die Unterlagen zugänglich gemacht werden. Wenn es jetzt heißt, die Behörde wird aufgelöst, klingt das natürlich erstmal alarmierend. In Wirklichkeit ist es aber eine Brücke in die Zukunft. Die Akten bleiben vollständig erhalten und werden in gleicher Art und Weise zugänglich sein wie bisher. Und der Bundesbeauftragte wird ja auch weiterentwickelt und noch deutlicher als Anwalt der Opfer etabliert.

Spiegel Online: Verlieren wir mit dem Ende der Behörde denn nicht ein starkes Symbol?

Die Behörde ist nur die Organisationsform. Das Archiv bleibt, wo es ist: in der ehemaligen Zentrale des MfS in Berlin-Lichtenberg, also am authentischen, historischen Ort. Und das ist tatsächlich ein wichtiges Symbol. Von hier ging der Terror der Stasi aus; hier haben mutige Bürgerinnen und Bürger die Akten erobert und hier stehen sie jetzt jedem zur Verfügung, der sich mit ihnen befassen will, sei es privat oder wissenschaftlich. Es ist ein Ort der Repression, der Revolution und der Aufklärung. Dieser Dreiklang ist mir sehr wichtig. Wir haben oft ausländische Delegationen zu Besuch, die sich darüber informieren wollen, wie man mit den Hinterlassenschaften einer Geheimpolizei umgehen kann. Viele Länder beneiden uns um das Archiv – und um die gesetzlichen Grundlagen, die es möglich gemacht haben.

Spiegel Online: Das Stasi-Unterlagengesetz…

Jahn: Genau. Man muss ich immer wieder vor Augen führen, was das für ein Balanceakt war: 111 Kilometer Akten, außerdem Material auf Mikrofiches, das ausgedruckt und aneinandergelegt noch einmal fast 47 Kilometer ergeben würde. Millionen Fotos, Dias und Negative, fast 30.000 Tondokumente und über 2700 Filme und Videos – weitgehend unter Missachtung der Menschenrechte zustande gekommen. Wie geht man damit um? Einerseits muss man Transparenz schaffen, andererseits die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen schützen. Das Gesetz schreibt daher genau vor, auf welche Weise der Zugang zu den Akten möglich ist, und es bleibt auch weiterhin gültig.

Spiegel Online: Wenn sich anscheinend nichts ändert – was bedeutet denn der Übergang ins Bundesarchiv?

Jahn: Vor allen Dingen ist es ein ausdrückliches Bekenntnis zur Relevanz der Stasi-Unterlagen, denn sie werden damit zum Teil des nationalen Gedächtnisses. Diskussionen wie „Sollte man die Akten nicht endlich schließen?“ sind damit ein für allemal beendet. Der gesamte Bestand bleibt erhalten, und zwar so wie er ist. Da wird nichts verändert oder reduziert.

Spiegel Online: Gab es solche Überlegungen?

Jahn: In den Akten gibt es viele Kopien und Querverweise. Theoretisch hätte man sagen können: Wir werfen alle Dopplungen raus. Aber der Bundestag hat zum Glück entschieden, den Bestand als Ganzes zu erhalten. Nur so kann man die Akten als Gesamtquelle erforschen, zum Beispiel um die Arbeitsweise des MfS besser zu verstehen, aber auch ihre Verbindungen zur Polizei, zur Justiz und natürlich zur Partei.

Spiegel Online: Die Partei spielte in der gesellschaftlichen Debatte eigentlich nie eine Rolle. Bis heute geht es fast immer nur um die Stasi.

Jahn: Ja, diese Fokussierung ist problematisch. Vor allem verkennt sie die tatsächlichen Machtverhältnisse: Die Stasi nannte sich „Schild und Schwert der Partei“. Sie war dazu da, die Herrschaft der SED zu verteidigen, und zwar mit allen Mitteln. Das schmälert nicht ihre unheilvolle Rolle oder die Verantwortung des einzelnen Mitarbeiters. Man darf aber nicht vergessen, wer die Befehle zur Überwachung und Unterdrückung der Bevölkerung gegeben hat: natürlich die Parteiführung!

Spiegel Online: Hat die Stasiunterlagen-Behörde diese Fokussierung mitbefeuert?

Jahn: Ich glaube, schon allein die Tatsache, dass es eine eigenständige Behörde für die Stasi-Unterlagen gab, hat dazu beigetragen, denn das verleitete dazu, die Diktatur nur noch durch diese eine Brille zu betrachten. Dabei gerieten die anderen Akteure und Mechanismen in Vergessenheit, die die Diktatur am Laufen gehalten hatten: die Partei selbst natürlich, aber auch die alltägliche Anpassung im Kleinen, das sich-Arrangieren.

Spiegel Online: Zeitweilig konnte man den Eindruck haben, die Offenlegung der Akten diene vor allem dazu, ehemalige Mitarbeiter zu enttarnen.

Jahn: In den ersten Jahren spielte das Enttarnen tatsächlich eine große Rolle. Als Journalist habe ich mich ja selbst daran beteiligt. Mit dem Beschluss, keine ehemaligen Mitarbeiter des MfS im öffentlichen Dienst zu beschäftigen, musste die Behörde dann die entsprechenden Informationen bereitstellen. Seitdem gilt sie manchen als Instrument, um gegen andere vorzugehen. Ich habe immer versucht, deutlich zu machen, dass wir nicht das Amt für absolute Wahrheit sind. Wir behaupten nicht zu wissen, wie es war oder wer sich schuldig gemacht hat – wir wollen unseren Teil dazu beitragen, den Diskurs darüber zu ermöglichen. Mit dem Wechsel ins Bundesarchiv werden sich dafür ganz neue Perspektiven ergeben.

Spiegel Online: Inwiefern?

Jahn: Es wird einfacher sein, die Arbeit der Stasi im größeren Kontext zu sehen. Denn nach dem Wechsel wird die gesamte Überlieferung der DDR unter einem Dach vereint sein, also neben den Akten des MfS auch die der Partei, der Ministerien und Behörden, der FDJ, des Gewerkschaftsbundes und der Justiz, weil die bereits zum Bundesarchiv gehören. Wer zum Beispiel mehr über seine Inhaftierung wissen möchte, ,kann außer dem, was die Stasi über ihn angelegt hat, zugleich seine Haft-Akte aus dem Ministerium des Innern einsehen. oder Dokumente aus dem Kulturministerium zum Kunstraub. Repression hat im ganzen System stattgefunden, nicht nur durch die Stasi.

Spiegel Online: Als Sie 1983 im Stasi-Gefängnis saßen, haben Sie zu Ihren Vernehmern gesagt: „Eines Tages komme ich hier raus. Dann werde ich euren Kindern erzählen, was ihr hier getrieben habt.“ Als Bundesbeauftragter konnten Sie das gewissermaßen hochoffiziell tun. Wollten die Kinder es hören?

Jahn: Während der Haft brauchte ich diesen Satz, um mich an etwas festzuhalten. Meine Freundin war ebenfalls inhaftiert, und die Stasi-Offiziere drohten damit, unsere dreijährige Tochter Lina ins Heim zu bringen. Das waren geschulte Psychologen. Sie haben mir Fotos von Lina in die Zelle gereicht und sich daran gefreut, mich weinen zu sehen. 1993 habe ich dann als TV-Journalist bei einem meiner Peiniger geklingelt. Aber als mir zwei Kinder die Tür aufmachten, vielleicht 10 und 12 Jahre alt, habe ich mich wieder verabschiedet, ohne etwas zu sagen.

Spiegel Online: Warum?

Jahn: Weil mir in dem Moment klar wurde, dass ich kein Recht dazu habe, ihnen etwas aufzuzwingen. Heute denke ich, so ist es auch mit der Gesellschaft insgesamt. Man kann Angebote machen und hoffen, dass dadurch etwas angestoßen wird. Aber Leute indoktrinieren oder ihnen verordnen, aus der Geschichte zu lernen – das funktioniert nicht.

Spiegel Online: Mit dieser Haltung waren sie manchen nicht radikal genug. Viele fanden es außerdem unmöglich, dass Sie sich mit Tätern an einen Tisch gesetzt haben.

Jahn: Meiner Ansicht nach bedeutet Aufarbeitung, die Konflikte der Vergangenheit zu bereinigen. Dafür muss zunächst geklärt werden, wer die Verantwortung für begangenes Unrecht trägt. Damit es dann aber weitergehen kann auf gesellschaftlicher genau wie auf individueller Ebene – muss man versuchen zu verstehen, wie es dazu kommen konnte. Der Prozess ist heikel und schmerzhaft für alle, aber wenn man sich nicht zusammensetzt, ist er überhaupt nicht möglich. Ich will aufklären, nicht abrechnen.

Spiegel Online: Bis heute war höchstens eine Handvoll ehemaliger Stasi-Mitarbeiter zu einer solchen Auseinandersetzung bereit. Scheitert die Aufarbeitung am alten Korps-Geist?

Jahn: Der ist leider tatsächlich noch immer sehr mächtig. Es gehört ohnehin viel Mut dazu, sich schuldig zu bekennen und die Opfer um Verzeihung zu bitten. Während meiner Amtszeit habe ich aber ein paar solcher Momente erlebt, und es hat mich jedes Mal berührt und darin bestärkt, dass es sehr wohl möglich ist.

Spiegel Online: Aber wie kann das gehen, wenn von den Tätern kaum einer mitmacht?

Jahn: Die entscheidenden Fragen muss man sich sowieso selber stellen: Wo hätte ich mich in dieser Diktatur eingeordnet? Wie hätte ich mich verhalten? Wenn wir die Täter blindlings verdammen, kommen wir nicht weit. Der ehemalige Stasi-Offizier Bernd Roth hat zum Beispiel bei einer Veranstaltung mal erzählt, dass er zum MfS gegangen ist, weil er etwas darstellen wollte. In der Schule war er gescheitert, privat lief es auch nicht toll, also war das Angebot durchaus verführerisch. Das ändert nichts an seiner Schuld, aber solche Geständnisse machen es möglich, sich einzufühlen. Ich plädiere daher immer für ein differenziertes Bild.

Spiegel Online: Andererseits wollten Sie die 47 ehemaligen MfS-Mitarbeiter versetzen, die bei Ihrem Amtsantritt noch in der Behörde beschäftigt waren. Man warf Ihnen vor, ein „unversöhnliches Opfer“ zu sein; die Süddeutsche Zeitung schrieb von der „Rache an den kleinen Würstchen“.

Jahn: Es ging mir nicht um Rache, sondern um den Schutz der Opfer, als deren Anwalt ich mich verstehe. Wir sollten es niemandem zumuten, der unter der Stasi gelitten hat, ausgerechnet bei der Einsicht seiner Akte auf ehemalige MfS-Offiziere zu treffen. Daher habe ich mich um ihre Versetzung in andere Behörden bemüht. Meine Devise war immer: rechtsstaatlich korrekt und menschlich respektvoll. Es ist nun mal etwas anderes, ob jemand als Stasi-Offizier einen Eid geschworen oder Häftling im Stasi-Knast war. Solche Unterschiede sind real. Und dennoch: Mit reinem Schwarz-Weiß-Denken kommen wir gesellschaftlich nicht weiter. Ich gestehe vielen SED-Genossen zu, dass sie ursprünglich als Antifaschisten angetreten sind. Am Ende haben sie aber eine Diktatur aufgebaut und die Menschenrechte mit Füßen getreten – und das obwohl etliche selber unter den Nazis im Knast gesessen hatten! Es geht darum zu begreifen, wie schnell aus guten Absichten Unrecht entstehen kann.

Spiegel Online: Viele Menschen wollen sich nicht mit der Vergangenheit auseinandersetzen – weder mit der eigenen noch mit der eines Angehörigen.

Jahn: Das ist ja auch eine schwierige und vor allem sehr persönliche Angelegenheit. Sich kritisch zu hinterfragen, kann ein sehr schmerzhafter Prozess sein. Und das Bild, das man von einem nahestehenden Menschen hat, möchte man sich auch nicht kaputt machen lassen. Neulich erzählte mir eine Frau, deren Vater bei der Stasi war, von ihren zwiespältigen Empfindungen beim Lesen seiner Akte. Und dass ihre Tochter von all dem nichts wissen will, weil sie den Opa so in Erinnerung behalten möchte, wie sie ihn erlebt hat. Das ist völlig legitim.

Spiegel Online: Aber wie verträgt sich das mit Ihrem Wunsch nach Aufklärung und einem Dialog zwischen den Generationen?

Jahn: Ich bleibe dabei, dass es sowohl für jeden Einzelnen als auch für die Gesellschaft als Ganzes heilsam wäre, miteinander ins Gespräch zu kommen. Einrichtungen wie das Stasi-Unterlagen-Archiv oder der „Campus für Demokratie“ sind Angebote dazu – erzwingen kann man es nicht. Der Einzelne hat das Recht zu vergessen. Aber die Gesellschaft muss dafür Sorge tragen, dass jeder die Möglichkeit hat, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.