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"Damit das Gift nicht weiter wirkt"

Ein Interview von Alexander Wendt mit Roland Jahn im "Focus" vom 5. März 2012

Herr Jahn, Joachim Gauck soll Bundespräsident werden, Sie, ein ehemaliger DDR-Dissident, haben von einem Jahr das Amt als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen angetreten. Schaffen die belächelten Ex-Bürgerrechtler aus der DDR nun doch den Marsch in die Institutionen?

Jahn: Ich bin kein ehemaliger, ich bin immer noch Bürgerrechtler. Und mit der Nominierung Joachim Gaucks wird anerkannt, dass die Aufklärung über die SED-Diktatur ein großer Wert für die Demokratie ist.

Mit Gauck streiten Sie sich allerdings auch: Er hatte in den 90er-Jahren als Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde mehreren Dutzend Ex-Mitarbeitern der Stasi unbefristete Arbeitsverträge gegeben. Sie sehen die Beschäftigung ehemaliger Stasi-Offiziere in dieser Behörde als "Schlag ins Gesicht der Opfer". Stehen Sie sich bei diesem Thema immer noch unversöhnlich gegenüber?

Jahn: Wir führen die Diskussion schon seit 20 Jahren und haben sie kürzlich wieder bei einer Podiumsdiskussion hier im Haus geführt. Joachim Gauck und ich, wir haben ein gutes Verhältnis und können einander auch in dieser Debatte gegenseitig respektieren. Mich hat es gefreut, dass Joachim Gauck in der Diskussion gesagt hatte, es könnte sein, dass er damals nicht besonders gut beraten war.

Mittlerweile soll ein Gesetz die Beschäftigung von 45 ehemaligen Stasi-Leuten in Ihrer Behörde beenden. Auf diese Regelung hatten Sie gedrängt. Aber funktioniert sie auch in der Praxis?

Jahn: Der Prozess ist im Gange. Es geht darum, dass die ehemaligen Stasi-Offiziere, die bei uns arbeiten, Stellen in anderen Behörden bekommen. Einer der 45 Mitarbeiter arbeitet schon in einem anderen Bereich des öffentlichen Dienstes. Der Mitarbeiter saß übrigens hier an diesem Tisch und hatte mir erklärt, dass er sich zu diesem Schritt aus Respekt vor den Opfern entschieden hat.Das ist ein sehr gutes Zeichen. Ich habe ihm dafür ausdrücklich gedankt.

Sie haben als ehemaliger Stasi-Häftling kein Problem, mit früheren Stasi-Offizieren zu sprechen?

Jahn: Überhaupt nicht.Ich begegne diesen Mitarbeitern in der Behörde mit Respekt. Kürzlich hatte mich nach einem Vortrag in Hamburg ein ehemaliger Stasi-Offizier angesprochen und gesagt: "Sie sind ja gar nicht verbittert." Da hat er Recht, ich bin von Natur aus ein freundlicher Mensch.

Wegen Ihrer harten Haltung in der Sache der Ex-Stasi-Leute in Ihrer Behörde wurden Sie allerdings wütend attackiert. Ein SPD-Politiker nannte Sie damals einen "Eiferer" und unterstellte Ihnen "Menschenjagd". Hat Sie das angekratzt?

Jahn: Nein, ich kann das einordnen, ich habe schon einiges im Leben hinter mir. Für mich ist es allerdings auch erst einmal positiv, weil Hinterfragen dazugehört. Die Diskussion über das Problem war auch ein Stück Aufarbeitung. Mit allen Kritikern in dieser Sache habe ich das Gespräch gesucht.

Möglicherweise machen Sie sich gerade wieder bei vielen unbeliebt. Ein Thema, über das Sie in Vorträgen sprechen, heißt: Anpassung in der Diktatur. Aber haben sich nicht sehr viele angepasst? Warum muss diese Diskussion geführt werden?

Jahn: Wenn man begreifen will, wie die Diktatur insgesamt funktioniert hat, muss man sich alles ansehen. Die DDR wurde eben auch von vielen Menschen getragen, die sich angepasst hatten. Die Frage ist doch: Warum konnte sich das System so lange halten? Jeder ist herausgefordert, sich zu fragen: Wo habe ich mich angepasst, wo hätte ich mich auch anders verhalten können? Allerdings gibt es dafür keinen allgemeinen Maßstab. Was für den einen eine Zwangssituation gewesen ist, muss für einen anderen noch lange keine gewesen sein. Ein unverheirateter junger Mann hatte beispielsweise ganz andere Möglichkeiten zu handeln als etwa eine Alleinerziehende mit zwei Kindern.

Sie lebten zunächst relativ systemkonform in Jena, waren in der FDJ, leisteten Ihren Wehrdienst und stießen dann zur Opposition. Hilft Ihnen Ihr Lebenslauf, die Brüche in den Biografien vieler Ostdeutscher zu verstehen?

Jahn: Ja, natürlich, denn das Bekenntnis zur eigenen Biografie ist wichtig. Die Diskussion soll offen geführt werden und nicht durch Vorwürfe geprägt sein. Jeder muss die Chance haben, sich ehrlich zu seiner Biografie zu bekennen, ohne dass er gleich in eine Ecke gestellt wird.

Kann diese Vergangenheitsdiskussion vielleicht erst jetzt geführt werden, eine Generation später?

Jahn: Was heißt "kann"? Ich denke, dass sie bisher nicht richtig geführt worden ist. Jetzt sind wir an einem Punkt, an dem jüngere Leute danach fragen, wie sich ihre Eltern und Großeltern in der DDR verhalten haben.

So, wie viele im Westen der 60er-Jahre gefragt hatten: Was hast du vor 1945 gemacht?

Jahn: Richtig, und die Diskussion sollte vor allem in den Familien stattfinden. Aufarbeitung ist ja immer dann schwierig, wenn sie konkret wird. Das kann auch manchmal wehtun. Andererseits, in den Familien kennt man einander, man kann sich auf den anderen auch besser einlassen. Aber das darf nicht zu einer einfachen Entschuldigung führen, sondern dazu, dass jemand auch Verantwortung übernimmt.

Interessieren sich 16-Jährige denn überhaupt für Stasi und DDR?

Jahn: Ich diskutiere ja oft mit Jugendlichen. Da geht es ja nicht nur um Stasi und Diktatur, sondern immer auch um die Gegenwart. Wenn wir über Spitzel reden, reden wir über das Thema Verrat, wenn wir über Anpassung reden, reden wir auch über Widerspruch, darüber, dass Widerspruch nötig ist, um die besten Lösungen zu finden. Und wenn wir über den Datenwahn der Stasi reden, reden wir auch über die Gefahren, die in der Freiheit drohen, wenn Daten missbraucht werden.

Ganz in Ihrer Nähe, in Brandenburg, muss man besonders über die Vergangenheit reden. Dort arbeiten nach wie vor Dutzende Richter, Staatsanwälte und Polizeibeamte mit Stasi- Vergangenheit. Sie dürfen bleiben - und meist bleiben ihre Namen geheim. Warum ist die Aufarbeitung dort so fundamental gescheitert?

Jahn: Brandenburg ist ein Beispiel dafür, dass es nichts nutzt, beim Thema Stasi so zu tun, als sei nichts gewesen oder als sei es nicht erwähnenswert. Je stärker man es unter den Teppich kehrt, desto stärker kommt es wieder hoch. Die Bürger wollen Vertrauen in ihre Institutionen haben, und das haben sie nicht, wenn keine Transparenz geschaffen wird.

Seit einem Jahr haben Sie in Ihrer Behörde öfters Besuch aus arabischen Ländern, die sich nach dem Arabischen Frühling mitten im Umbruch befinden. Welchen Rat suchen diese Leute bei Ihnen?

Jahn: Die besondere Praxis, die wir hier in Deutschland geschaffen haben, ist zum Vorbild geworden. Diejenigen, die in den arabischen Ländern nach dem Umsturz damit beschäftigt sind, die Akten ihrer Geheimpolizei zu sichern, kommen hierher und wollen wissen: Wie habt ihr das geschafft, die Akten zugänglich zu machen, ohne dass es deshalb gewaltsame Auseinandersetzungen gab? Wie wurde das rechtsstaatliche so organisiert, dass die Transparenz gesichert worden ist, aber auch der Datenschutz? Wir hatten Anfragen aus Tunesien, Ägypten und Irak. Wir hatten sogar Besuch von chinesischen und iranischen Oppositionellen.

Welches wäre denn der wichtigste Rat, den Sie den neuen Verantwortlichen in arabischen Ländern zum Umgang mit ihrem Geheimpolizei-Erbe geben?

Jahn: Es ist wichtig, keinen Schlussstrich zu ziehen. Ein Schlussstrich, das wäre die Grundlage von Verleumdung und von Instrumentalisierung der Geheimdienstakten. Eine Geheimpolizei wirkt so lange fort, wie ihre Akten geheim bleiben. Die Transparenz ist das Mittel gewesen, damit das Gift der Stasi nicht weiterwirkt.

Die Aktenöffnung gehört ja zu den wenigen Dingen, die die Ostdeutschen durchgesetzt und in die Einheit gerettet hatten - teilweise gegen erhebliches Unbehagen der westdeutschen Bürokratie. Welche Spuren hat eigentlich der Sturm auf die Stasi-Akten von 1989 hinterlassen?

Jahn: Der Gedanke der Transparenz, der Öffnung von Akten ist damals eingezogen in das vereinigte Deutschland. Wenn ich an das Informationsfreiheitsgesetz denke, an die Erfolge der Piratenpartei - das sind alles Dinge, die auch auf diesen Impuls aus Ostdeutschland zurückgehen. Insgesamt, denke ich, hat sich in Deutschland ein großer Wandel im Verständnis von Transparenz vollzogen. Es geht darum, dass Bürger den Staat kontrollieren und nicht der Staat die Bürger. Das ist mein Verständnis von Freiheit. Im Grunde besteht unsere tägliche Arbeit in der Stasi-Unterlagenbehörde darin, Herrschaftswissen zum Wissen für die Allgemeinheit zu machen. Deshalb kann es auch kein Ende der Aufklärung geben.

Das heißt: Auch wenn die Regelüberprüfung öffentlicher Bediensteter auf Stasi-Vergangenheit im Jahr 2019 endet, sollten die Stasi-Akten nicht in irgendein unzugängliches Archiv verschwinden?

Jahn: Wer dann was verwaltet, das ist eine Frage des Türschilds. Aber das Entscheidende, der ungehinderte Aktenzugang, den wir seit 20 Jahren gut praktizieren, der darf kein Ende haben.

Das Gespräch führte Alexander Wendt