Direkt zum Seiteninhalt springen

"Das ist eine Brücke in die Gegenwart"

Schönen guten Morgen. In dieser Stunde ist Roland Jahn bei mir, Journalist und Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde, korrekt: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Herzlich willkommen Herr Jahn.

Roland Jahn: Ja, schönen guten Morgen.

Manche sagen das Lebensgefühl in diesen Tagen ist gerade so ein bisschen wie zwischen den Jahren, irgendwie ausgebremst unausgefüllt, erschöpft, leer. Wie geht es ihnen gerade?

Roland Jahn: Ich denke, dass das ein Anlass ist, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, sich nochmal klar zu sein, was ist wichtig im Leben und da steht die Gesundheit ganz oben. Und dem sollten wir auch alles unterordnen.

Und wir erleben ja auch gerade, wie rundum Grenzen geschlossen werden. Ich habe mich gefragt, ob sich das für jemanden mit DDR-Vergangenheit eigentlich anders anfühlt als für Westler.

Roland Jahn: Ja, die Frage der Grenzschließungen, denke ich, ist einerseits nachvollziehbar, auf einer Seite muss man sich fragen: In einem Europa, was eigentlich ein Europa der Regionen ist, ob Grenzschließungen ein Symbol sind, was gegenteilig wirkt. Die Frage der Einschränkung des Lebens kann auch durchaus anders geschehen. Und in dieser Hinsicht zeigt man auch damit, dass man an vielen Stellen noch sehr unbeholfen ist. Also das was es bedeutet, Grenzen zu schließen, muss man auch ein bisschen abfangen. Also konsequenterweise müsste man dann sagen: Wir müssen auch die Grenzen zwischen den Bundesländern in Deutschland schließen, denn Europa ist nicht viel anders. Und in dem Sinne, gerade wenn man sich die Region anschaut, Saarland, Frankreich, das ist ja alles schon ein Zusammenleben, was sich da über Jahre entwickelt hat, wo diese Grenzschließungen ja nicht ganz nachvollziehbar ist an manchen Stellen. Sondern es geht darum, insgesamt das Leben runterzufahren, diese Kontakte zu minimieren und ob da…

…aber wie fühlt sich das an, plötzlich lauter Schlagbäume und Polizisten und Grenzschützer zu sehen?

Roland Jahn: Ja, es fühlt sich nicht gut an und deswegen ist es wichtig, dass man sich klarmacht, das kann nur für eine bestimmte Zeit sein. Und man muss auch die Perspektiven für die Zukunft jetzt wieder im Blick haben und wissen, wie geht das Leben später weiter.

Wissen wir ja nicht.

Roland Jahn: Ja, wir wissen es nicht. Die Herausforderung ist mit der Situation täglich neu umzugehen und eine hohe Flexibilität an den Tag zu legen. Das ist für alle Herausforderungen und wichtig ist, dass wir gemeinsam, die Gesellschaft gemeinsam, immer wieder nach neuen Lösungen sucht wie wir mit der Situation umgehen.

Im vergangenen Jahr haben wir uns intensiv an 30 Jahre Mauerfall erinnert. In diesem Jahr steht der Jahrestag der Vereinigung Deutschlands an und morgen gibt es auch einen Erinnerungsdatum, nämlich den 18. März 1990. Wer jünger ist als 45, der kann damit wahrscheinlich kaum was anfangen. Roland Jahn, welche Bedeutung hat dieser 18. März vor dreißig Jahren für sie gehabt?

Roland Jahn: Für mich war dieser Tag natürlich von extremer Bedeutung, weil es trat das ein was ich mir immer gewünscht hatte, nämlich freie Wahlen in der DDR. Und das ist schon etwas gewesen, was nochmal so einen Punkt setzte zur Vollendung der friedlichen Revolution. Und in dieser Hinsicht ist dieser Tag in meinem Gedächtnis immer ein bedeutsamer Tag. Ich war als Journalist unterwegs, der für das Erste deutsche Fernsehen auch die Berichterstattung mitorganisiert hat. Und in dem Sinne war ich dran an dem, was dann auch die Akteure betrifft und auch die Berichterstattung über dieses sehr bedeutsame Ereignis.

Sie waren seit sieben Jahren im Westen, rund um den 18. März, wo genau, mit wem waren sie wie unterwegs?

Roland Jahn: Ja, an  diesem Wahltag, dem 18. März, war ich zuständig für die SPD. Ich habe dort als Redakteur…

…bei Kontraste?

Roland Jahn: Ja, Kontraste war sozusagen meine Heimatredaktion, in der ich gearbeitet habe für den Sender Freies Berlin damals. Und der Sender Freies Berlin war natürlich mit vielen anderen zusammen zuständig für die Berichterstattung im Ersten. Und wir haben uns das dann aufgeteilt, dass wir nah ran wollten an die Akteure, an die Spitzenkandidaten. Und ich war zuständig für die SPD, die damals im Friedrichshain ihre große Wahlparty gemacht hat. Und mein Auftrag war es Ibrahim Böhme, Spitzenkandidat der SPD, so schnell wie möglich dann auch vor die Kamera zu bekommen und die Wahlergebnisse zu kommentieren.

Nun war er ja Verlierer an diesem Tag. Die Mehrheit der DDR Bürger und Bürgerinnen hat sich überraschend für das Bündnis Allianz für Deutschland um die Ost-CDU entschieden. Hatte sie dieses Ergebnis überrascht?

Roland Jahn: Mich hat das nicht überrascht dieses Ergebnis. Mich hat aber schon beeindruckt, wie ich Ibrahim Böhme, diesen Spitzenkandidaten für die SPD, wahrgenommen habe. Es war schon in seinem Gesicht, ein Ausdruck, der dieses Erschrecken doch verdeutlicht hat. Die SPD und auch speziell Ibrahim Böhme hat mit einem anderen Ergebnis gerechnet, aber es hat sich nur gezeigt, dass man da schon noch ein bisschen fernab der Realität war. Denn die letzten Wochen, die ich auch als Journalist unterwegs war, habe ich natürlich gemerkt, dass die Menschen die deutsche Einheit wollen. Und natürlich war der Wahlkampf kein Wahlkampf der DDR, sondern es war ein Wahlkampf der Bundesrepublik Deutschland, der dort stattgefunden hat. Und das hat natürlich massiv auch die Stimmabgabe beeinflusst.

Ich fasse mal kurz für die Hörerinnen und Hörer zusammen: Roland Jahn war seit den 70er Jahren vor allem in Jena aktiv, in verschiedenen oppositionellen Gruppen, wurde exmatrikuliert, verhaftet und 1983 in die Bundesrepublik abgeschoben. Herr Jahn, die gewählte Ost-CDU war für eine schnelle Vereinigung. Haben sie das als ehemaliger Oppositioneller, wie viele andere damals, nicht auch als eine Art Verrat empfunden?

Roland Jahn: Nein, eben nicht. Bei mir hat schon sich ausgewirkt, dass ich schon 6 Jahre in Berlin-West gelebt habe.

Aber Sie waren ja noch sehr verbunden.

Roland Jahn: Ja, klar. Aber gerade diese Verbundenheit, dieses mit beiden Blickwinkeln ausgestattete Leben, im Osten aufgewachsen, in der DDR aufgewachsen, ein Kind der DDR zu sein, Jahrgang 53- als ein solches war ich von dieser DDR geprägt. Aber gerade die Jahre in West-Berlin haben mir doch auch die Augen geöffnet. Also ich habe plötzlich gemerkt, in meiner Zerrissenheit, bin ich jetzt Ostler oder Westler, wo komme ich an und wie komme ich an im Westen, wie gestalte ich mein Leben. Und dieses Hin- und Hergerissensein zwischen dem, was ich noch gefühlt habe für die Menschen in der DDR, aber auch dieses Ankommen-Wollen im Westen. Diese Zerrissenheit hat mich dazu geführt, dass ich eigentlich schon die deutsche Einheit gelebt habe. Ich war halt weder Ostler noch Westler, sondern ich war beides in einem. Und das hat mir nochmal deutlich gemacht, dass es eigentlich keinen Weg an der deutschen Einheit vorbei gibt. Die Frage ist nur, in welchem Tempo das gemacht wird. Und in der Hinsicht war ich dann auch als Person natürlich auch immer ein Vermittelnder zwischen Ost und West, weil ich eben auch beides in mir trug.

Der Schriftsteller Stefan Heym hat an diesem Wahlabend gesagt: "Es wird keine DDR mehr geben. Sie wird nichts sein als eine Fußnote in der Weltgeschichte." Hätten sie das auch so bewertet?

Roland Jahn: Mit diesen Begriffen Fußnote der Weltgeschichte, das teile ich nicht ganz so, weil ich natürlich persönlich geprägt war von dieser Geschichte und ich denke da gerade an das Ende der DDR, gerade diese friedliche Revolution: Das ist nicht einfach eine Fußnote in der Geschichte, sondern da ist auch Weltgeschichte geschrieben worden. Dass mutige Menschen in der DDR es geschafft haben, eine Revolution auf dem Weg zu bringen und auch mit dieser Wahl am 18. März 1990 ein Finale erlebt worden ist, das ist, was nicht nur eine Fußnote ist, sondern das ist ein Weltereignis was auch ausstrahlt bis heute. Wenn verschiedene Delegation enaus verschiedenen Ländern zu uns kommen, in die ehemalige Stasi-Zentrale, dann sind sie begeistert davon, dass eine friedliche Revolution in der DDR stattgefunden hat. Und gerade auch die Ausstellung, die auf dem Hof der ehemaligen Stasi-Zentrale ist, über Revolution, Mauerfall und deutsche Einheit, drückt das alles aus.

Und doch dominiert die Erinnerung heute ja eher das Narrativ von Anschluss, von Abwicklungen, von Übernahme. Also muss man sich schon fragen, ob dieser 18. März 1990 nicht doch was ganz anderes erzählt. Also, hat hier inzwischen so eine Art Überschreibung der Geschichte stattgefunden, eine Umdeutung?

Roland Jahn: Nein, Geschichte ist die Realität, die passiert ist. Und ich halte es da eher mit Konrad Weiß von der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, der am Wahlabend gesagt hat, obwohl das Bündnis 90 / Demokratie Jetzt vereint war, nicht einmal drei Prozent bekommen hat der Wählerstimmen. Konrad Weiß hat gesagt: "Wir sind die eigentlichen Gewinner dieser Wahl, denn wir haben diese Wahlen ermöglicht." Und das sollte man sich immer wieder vor Augen halten, um was ging es damals? Es ging damals einfach darum, die Voraussetzungen zu schaffen, damit Menschen demokratisch wählen können. Und das ist der Fall. Wie dann gewählt wird, da gibt es natürlich auch Unzufriedenheit, aber entscheidend ist, dass gewählt worden ist. Und hier ist eine demokratische Wahl gewesen, die natürlich dann eine politische Richtung vorgegeben hat. Die Menschen haben die deutsche Einheit gewählt.

Viele sagen aber auch zum Beispiel in Ilko-Sascha Kowalczuk, den ich in der Sendung hatte, der Historiker, sie haben den starken Staat gewählt.

Roland Jahn: Auch das kann bei manchen ein Gedanke gewesen sein, aber ob das hundertprozentig zutrifft, darüber kann man diskutieren. In dem Moment, so habe ich das damals als Journalist erlebt, ging es darum, dass man ja keine Experimente mehr wollte. Man wollte ein System, das sich über Jahrzehnte bewährt hat. Man wollte materiellen Wohlstand. Man wollte die Möglichkeiten, die man jeden Abend im West-Fernsehen vor Augen bekommen hat. Die Menschen in der DDR haben zu einem Großteil abends im Westen gelebt, indem sie West-Fernsehen und West-Rundfunk gehört und gesehen haben. Und das ist etwas, was man nicht vergessen darf. Hier war man durchaus bestrebt, auch ein einen Anteil davon abzuhaben und deswegen kam es zu dieser Wahl. Dass das so gekommen ist, hat natürlich auch damit zu tun, dass die Parteien des Westen mit ihren Aktivitäten bei dieser Wahl enorm präsent waren im Osten. Und das ist etwas, wo man sagen muss: Natürlich gibt's da ein Fragezeichen. Wenn ich alleine die Presselandschaft ansehe, die ganzen West-Verlage, die die ganzen Informationen in die DDR gegeben haben. Es gab kaum Zeitungen, die Bestand gehabt haben, die dann auch in dieser Zeit des Wahlkampfes so berichtet haben, dass man den ganz konkreten Dingen, die die Bürgerbewegung auf den Weg gebracht hat, noch entsprechende Beachtung gegeben hat.

(…Musik…)

You Can’t Always Get What You Want, ein Klassiker der Rolling Stones im Deutschlandfunk Kultur. Und das ist eines der Lebensmotti von Roland Jahn, meinem heutigen Gast. Haben Ihnen die Stones geholfen, das zu verstehen?

Roland Jahn: Ja, ich denke schon, weil eigentlich kommt noch der Zusatz: Man kann es trotzdem versuchen, selbst wenn es scheinbar aussichtslos ist. Für mich ist der Fall der Mauer immer das Beispiel. Viele Menschen hatten sich in der DDR arrangiert mit der Mauer, haben sich eingerichtet im System. Und trotzdem die Vision zu haben, dass die Mauer fallen kann, dass war mir immer wichtig. Und es hat sich gezeigt, daran zu glauben, dass es möglich sein kann, wenn viele Dinge zusammenkommen, das passt auch zu den Rolling Stones und ihren Liedern.

Ein anderes Motto heißt: Aufklären statt abrechnen. 2014 haben sie ein Buch veröffentlicht, das nach wie vor sehr lesenswert ist: "Wir Angepassten - Überleben in der DDR". Und darin fragen sie, Herr Jahn, warum sich viele Menschen den Vorgaben des SED-Regimes angepasst haben, welchen Spielraum es für den einzelnen gab überhaupt. Wir wollen heute etwas über ihre eigene Aufarbeitungsgeschichte erfahren und deshalb würde ich gern auf die kleine Einheit ihrer Familie schauen. 50er, 60er Jahre in Jena: Wie politisch oder wie unpolitisch waren ihre Eltern?

Roland Jahn: Ja, meine Eltern haben versucht unpolitisch zu sein, haben mir das mit auf den Weg gegeben, dass Politik Unheil bringt. Meine Eltern waren gezeichnet durch die Nazi-Zeit. Mein Vater hat es mit 17 in den Krieg gezogen und hat ein Bein verloren. Das heißt, es hat unsere Familie geprägt, diese Vergangenheit, diese deutsche Vergangenheit. Und es gab halt den Versuch das kleine Glück zu finden, in der Familie, in der Freizeit, beim Fußball, im Beruf sich zu verwirklichen. Und dieser Versuch unabhängig von dem politischen Strukturen, also ohne die Staatspartei SED, ohne sich einzulassen auf das politische System, dieser Versuch war ein Versuch, den viele Menschen gemacht haben. Es gab ja 4 Millionen Menschen, die nicht in der Partei waren in der DDR. Es gab Viele, die auch versucht haben ihr Glück zu finden. Und in der Hinsicht war meine Familie doch auch sehr typisch für die DDR.

Haben Sie die Eltern als angepasst erlebt?

Roland Jahn: Ja, ich habe das Wort "angepasst" damals nicht im Kopf gehabt. Ich habe natürlich Eltern erlebt, die mir aber mit auf dem Weg gaben, dass ich doch nicht Widerspruch zu sehr raushängen lassen soll. Das ich immer auch einen Weg suche, wo man Konflikte vermeidet, wo man nicht eingeschränkt wird in seinen Möglichkeiten. Gerade auch wenn man Abitur machen wollte, wenn man studieren wollte. Immer wieder auch der Hinweis der Eltern: Das hat keinen Sinn aufzubegehren. Am Ende ziehst du den Kürzeren.

In welcher Weise haben sie aufbegehrt? Wo gab es da schon erste Konflikte?

Roland Jahn: Ja, das war natürlich der Alltag. Als man dann angefangen hat politisch zu denken. Schon mal die Frage, ob man über den Einmarsch der Warschauer-Pakt Staaten in der Tschechoslowakei, in Prag, damals 1968, ob man darüber diskutiert. Man hat es zu Hause im West-Fernsehen gesehen und dann gab's natürlich die Botschaft der Eltern: Darüber darfst du nicht in der Schule diskutieren! Es soll auch ein keiner erfahren, dass wir West-Fernsehen schauen. Und all diese Dinge haben natürlich schon damit zu tun, dass man so ein bisschen ein Doppelleben hatte. Das, was zu Hause diskutiert worden ist, durfte nicht in der Schule diskutiert werden. Aber auch dann die Auseinandersetzung in der Schule, das Tragen von langen Haaren für die Jungs, das war natürlich ein Konflikt, wo die Eltern wollten, dass ich da doch lieber den Rückzieher mache.

Wollten die Eltern das auch aus Sorge, aus Angst, aus Fürsorgepflicht?

Roland Jahn: Ja, klar. Das war natürlich damals ein Konflikt, wo ich mich gewehrt habe, auch gegen meine Eltern. Aber mit dem Blick zurück, dann sehe ich natürlich schon auch die Sorge der Familie, dass einerseits der Weg des Kindes, oder der Kinder beschädigt werden kann, aber auch das Glück der ganzen Familie. Ich stand ja im Mittelpunkt. Mein Vater hat immer betont, dass er mit seiner Hände Arbeit seine berufliche Entwicklung geschaffen hat. Er  war halt nicht in dieser SED, in der Staatspartei.

Was hat er gearbeitet, so schwer verletzt wie er aus dem Krieg kam?

Roland Jahn: Er hat als technischer Zeichner gelernt, dann sich zum Konstrukteur entwickelt und war dann beim VEB Carl Zeiss Jena in der Forschung tätig, dort wo die Weltraumkamera entwickelt worden ist, mit der der erste DDR-Kosmonaut Sigmund Jähn ins All geflogen ist. Darauf war er stolz, dafür hat er Orden bekommen, er war mehrfach ausgezeichnet. Und immer die Angst, dass der Sohn mit seiner kessen Lippe irgendwo in der Schule, an der Uni, auch seine Entwicklung gefährdet und damit natürlich auch die Voraussetzung für die ganze Familie beschädigt wird. Und das ist etwas, was ich glaube, was viele Menschen in der DDR gehabt haben, dass sie immer in der Angst lebten, dass die Verwirklichung im Beruf und Familie beschädigt wird, wenn ein Konflikt entsteht, den die Kinder mit auf den Weg gebracht haben.

Und was war mit ihrer eigenen Angst?

Roland Jahn: Die war nicht so ganz gegeben. Es war schon mehr immer auch die Rücksicht auf die Familie, auf die Eltern. Und in diesen Konflikt habe ich mich auch bewegt. Natürlich habe ich an manchen Stellen auch selber Angst gehabt, aber in diesem Alter zwischen 17 und 27, sage ich mal, da ist man ja noch stark geprägt davon, dass man als Jugendlicher herangeht und sagt: Keine Angst, auch mal dagegenhalten und so weiter. Aber das ist etwas, was auch ein Wechselverhältnis war, weil ich natürlich dann auch schon gesehen habe, dass an manchen Stellen es nichts bringt, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Und an anderen Stellen gab es natürlich dann auch Selbstverständlichkeiten. Ich bin nicht auf die Idee gekommen, den Wehrdienst zu verweigern, sondern ich bin ja zum Armeedienst gegangen und das zur Bereitschaftspolizei in Rudolstadt. Das heißt: Ich war Teil des Systems und habe funktioniert. Und dieses Eingeständnis, dass habe ich mir damals noch gar nicht so gemacht, sondern da habe ich es einfach nebenbei gemacht. Und heute bin ich erschrocken, wie ich eigentlich im System selber funktioniert habe.

Konnten Sie in dieser differenzierten, reflektierten Weise auch noch mit ihren Eltern diskutieren?

Roland Jahn: Ja, das war lange Jahre geprägt von Auseinandersetzungen, von gegenseitigen Vorwürfen. Meine Eltern, die immer wieder mir deutlich gemacht haben, dass mein Weg doch ein hohes Risiko hat und Auswirkungen auf die ganze Familie auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite, dass ich meinen Eltern Vorwürfe gemacht habe, dass sie sich halt untergeordnet haben, dass sie ja schon damals bei den Nazis nicht aufbegehrt haben. Und jetzt wieder sich anpassen in Art und Weise, die ich nicht akzeptabel fand. Aber dieser Konflikt hat sich dann auch in manchen Situationen zugespitzt und es ist ein Erkenntnisprozess gewesen, der über Jahre ging. Meine Mutter dachte immer, dass wenn jemand ins Gefängnis in der DDR kommt, muss er etwas Schlimmes getan haben. Aber als sie dann ihren eigenen Sohn eingesperrt haben, hat sie das auch begriffen, dass es eigentlich nur darum ging, dass Menschen eingesperrt worden sind, weil sie ihre Meinung sagten.

1983 ist Roland Jahn in der DDR dann tatsächlich inhaftiert worden. Nach fünf Monaten Untersuchungshaft, zu 22 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden wegen öffentlicher Herabwürdigung der staatlichen Ordnung und Missachtung staatlicher Symbole. Was genau war passiert, Herr Jahn?

Roland Jahn: Ja, heute weiß ich sogar mehr als damals. Damals dachte ich, ich werde für ein polnisches Fähnchen verhaftet, was ich immer am Fahrrad hatte mit der Aufschrift "Solidarität mit dem polnischen Volk". Mein Verbrechen bestand darin, dass das auf Polnisch war und dadurch der Schriftzug der Gewerkschaft Solidarność deutlich sichtbar war. Das hat mir zweiundzwanzig Monate  eingebracht. Und heute weiß ich aber, dass es nur ein Anlass war. Im Endeffekt ging es in der DDR immer darum, dass wenn das Maß voll war, die Menschen aus dem Verkehr gezogen wurden. Es wurde dann irgendein Anlass gesucht. Bei anderen haben sie einfach Hausdurchsuchung gemacht, haben verbotene Bücher gefunden und deswegen wurden sie dann eingesperrt. Also, das ist immer wieder deutlich, in der DDR ging es nicht um Recht und Gesetz, sondern um Politik. Und die Partei entschied mit Hilfe der Staatssicherheit, wer frei rumläuft und wer nicht.

Wir haben nun eben über ihre Familie gesprochen, über die Angst der Familie um Sie. Als das dann passiert ist, wie haben die in dieser dann konkreten Situation reagiert?

Roland Jahn: Sie haben dann schon in der Situation natürlich zu mir gestanden. Meine Mutter hat mich auch im Gefängnis besucht, aber es war natürlich auch immer wieder auch dieses Einreden: "Junge, siehst du nun, dass es Ärger bringt, dass es Unheil bringt." In der Hinsicht war natürlich dann auch dieses Verhältnis doch auch geprägt von dieser Auseinandersetzung, welcher Weg ist der richtige. Auf der anderen Seite habe ich natürlich dann selber im Gefängnis, als junger Vater, natürlich mich auch schon gefragt: Ist der Preis nicht zu hoch, den du zahlst? Wenn du dann einsam in der Zelle sitzt und dann die Stasi-Offiziere dir deutlich machen: Du wirst bei der Schuleinführung deiner damals dreijährigen Tochter wahrscheinlich nicht dabei sein, das heißt du wirst hier einige Jahre verbringen im Gefängnis. Ja, dann bist du nicht der starke Widerständler, dann bist du am Boden und dann rollen die Tränen und du fragst dich schon, was ist Verantwortung für Mitmenschen?

Auch ihre frühere Partnerin Petra Falkenberg war aktiv in der Opposition. Sie haben es gerade gesagt: Sie waren mit Mitte 20 schon Vater einer gemeinsamen Tochter, als Paar dann bald getrennt. Welche Auswirkungen hatte das denn auf diese anderen nahen Menschen? Also, ich mag dieses Wort der Sippenhaft überhaupt nicht, aber mir fällt jetzt kein besserer Begriff ein. Gab es so etwas?

Roland Jahn: Ja, klar gab es Sippenhaft. Und schon alleine, dass man meine Lebenspartnerin auch ins Gefängnis gesperrt hat. Das wir nicht wussten, was wird aus unserer Tochter. Kommt sie ins Heim? Gelingt es, dass sie zur Oma kann? Und all solche Sachen.

Was war mit der Tochter?

Roland Jahn: Ja, wir hatten das Glück, dass sie zur Oma kam. Und bei anderen sind die Kinder ins Heim gekommen. Und das ist schon das Schlimme, dass es halt Auswirkungen auf die ganze Familie hatte und in die nächste Generation hinein. Und bei mir, was mich am meisten beschäftigt, bis heute beschäftigt, ist, dass man dann, als ich ins Gefängnis kam und später dann ausgebürgert wurde, gewaltsam ausgebürgert wurde, ist, dass man dann meinem Vater sein Lebenswerk genommen hat. Er hat den Fußball Carl Zeiss Jena aufgebaut, er war dort Ehrenmitglied Nummer 1, Leiter der Jugendabteilung. Viele Nationalspieler sind aufgrund seiner Tätigkeit auch entwickelt worden in dieser Jugendabteilung. Das ist etwas, was ihm viel bedeutet hat. Gerade weil er als 17-Jähriger im Krieg ein Bein verloren hatte, den Traum des Fußballers sich selbst nicht erfüllen konnte und das man mit der Erklärung des Sohns zum Staatsfeind ihn aller Funktionen entbunden hat, dass er in der Gesellschaft nicht mehr geachtet wurde, das man ihn diese Ehrenmitgliedschaft entzogen hat, das man ihn seine Tribünenkarte für die Heimspiele in Jena entzogen hat, das hat ihn tief getroffen. Und ich fühle mich bis heute mitschuldig, dass man ihn so verletzt hat, so in sein Leben eingegriffen hat. Aber das ist ja das Komische, dass eigentlich die SED und die Staatssicherheit die Schuld haben, aber ich werde die Schuld von meinen Schultern nicht los.

Vieles, was in dieser Zeit passiert ist, haben sie dann ja auch erst aus ihren eigenen Stasi-Akten erfahren. Wie viele Regal-Meter sind das?

Roland Jahn: Ich habe das nicht gemessenen, es sind jedenfalls einige Bände, die da zusammen gekommen sind. Und für mich ist es aber wichtig, dass ich diese Akten nutzen konnte um selber auch zu begreifen, was hat dort stattgefunden. Und viele konkrete Geschehnisse, die ich damals wahrgenommen habe, sehe ich heute anders. Wenn ich alleine denke an meine Exmatrikulation aus der Universität…

…Sie haben Wirtschaftswissenschaften in Jena studiert?

Roland Jahn: Richtig. Ich war im dritten Semester und man hat dann aus Anlass der Ausbürgerung von Wolf Biermann, die ich im Seminar kritisiert hatte, dann die Frage gestellt: Kann Roland Jahn noch weiter studieren? Und hat dann die Seminargruppe darüber abstimmen lassen, ob ich weiterstudieren darf oder nicht. Und die Seminargruppe, die eigentlich meine Freunde waren, die zu mir gehalten haben, hat dann diesen Ausschluss auch beschlossen. Und für mich waren das alles Verräter. Wenn ich aber dann heute in die Akten schaue, wenn ich mit den Leuten spreche, wie ist auf sie eingewirkt worden, wie hat man sie unter Druck gesetzt, dann nehme ich diesen Begriff Verräter nicht mehr in den Mund, sondern ich sehe das es Zwangssituation waren, die sie behindert hat im freien Handeln. Und in dieser Hinsicht habe ich manchmal gedacht: Wie hättest du entschieden, wenn du an ihrer Stelle gewesen wärst? Und das ist das, was ich meine, es geht um Aufklärung, nicht um Abrechnung. Und natürlich entlasse ich niemanden aus der Verantwortung, aber jeder muss für sie selber sehen, hätte er damals anders handeln können oder nicht.

Roland Jahn ist auch, nach seiner Zwangsausbürgerung aus der DDR 1983, im Westen von der Stasi bearbeitet worden. Wie sah das aus, Herr Jahn?

Roland Jahn: Ich habe das natürlich da nicht täglich gespürt, aber im Nachhinein bin ich erschrocken, wenn ich in die Akten schaue. Wie nah die Stasi auch im Westen Berlins an mir dran war. Und das ist dann schon doch etwas was unter die Haut geht, wenn man dann die Skizze der eigenen Wohnung in Berlin-Kreuzberg genau aufgezeichnet sieht, wo welches Möbelstück steht. Und am meisten schockiert hat mich, dass der Schulweg meiner damals achtjährigen Tochter observiert worden ist. Und das in den Stasi-Akten zu sehen, da kann man nur froh sein, dass die Zeit vorbei ist.

Sie haben dann relativ schnell mit dem abgebrochenen Wirtschaftswissenschaft-Studium Fuß gefasst im Journalismus. Wie kann das überhaupt?

Roland Jahn: Ich war dann im Westen Berlins und habe natürlich Kontakte gehalten zu meinen Freunden in der DDR. In vielen Städten, manche habe ich auch neu entwickelt, Kontakte über Mittelsmänner, die immer mal rüber gefahren sind und vor allem Frauen, die rüber gefahren sind und Oppositionelle getroffen haben. Und so hat sich das dann entwickelt, dass Informationen von Ost nach West gingen. Ich habe dann mit dafür gesorgt, gerade auch im Rundfunk und im Fernsehen die Information dann wieder zurück von West nach Ost gegangen sind, so dass die Menschen in der DDR, die ja keine freie Information haben, dann Informationen bekommen haben.

Zuerst glaube ich im Radio, im Radio Glasnost bei Radio 100 in Berlin?

Roland Jahn: Zum Beispiel. Das war eine ganz besondere Sendung, weil wir dort versucht haben, die authentischen Stimmen von DDR-Oppositionellen in die Öffentlichkeit zu bringen. Eine Sendung im Monat, die dafür gesorgt hatte, dass die Opposition in der DDR eine Stimme bekommen hat. Und aber auch gerade das Fernsehen war ganz wichtig, dass wir Bilder gehabt haben. Ich habe Videokameras im Westen gekauft, hab die in die DDR geschmuggelt und habe dann von Freunden, die unter hohem Risiko diese Aufnahmen gemacht haben, das hätte mehrere Jahre Gefängnis dafür geben können, diese Bilder dann bekommen über Menschenrechtsverletzungen, über Umweltzerstörung, über Altstadtzerfall. All das was die konkreten Probleme in der DDR waren. Und das dann gesendet für eine Millionenpublikum der DDR, das war natürlich ganz ganz wichtig und hat gezeigt, dass es in der DDR auch Menschen gibt, die in Opposition gehen, die sich kritisch auseinandersetzen mit den Verhältnissen in der DDR. Und deswegen ist es auch immer wichtig Opposition und Widerstand auch zu mehr zu würdigen. Ja, gerade die Menschen, die unter hohem Risiko diesen Weg gegangen sind, sind die Wegbereiter, dass es dann irgendwann zu einer friedlichen Revolution kam und auch zu freien Wahlen in der DDR.

Wir haben eben schon kurz über ihr Buch gesprochen "Wir Angepassten -Überleben in der DDR" - Nachdenken über die Zerreißprobe, mitmachen oder verweigern, gehen oder bleiben? Also dieses Nachdenken mündet dann in einem Plädoyer bei ihnen, dafür, sich von der Täter-Opfer Sicht zu verabschieden. Auch jeder Stasi-Informant habe seine eigene Lebensgeschichte. Da stutzt man schon bisschen. Konnten sie Leuten, die anderen, aber vielleicht auch ihnen selbst geschadet haben, tatsächlich verzeihen?

Roland Jahn: Ja, ich denke, verzeihen ist möglich dann, wenn man sich auseinandersetzt mit den ganz konkreten Verhältnissen, in denen Menschen in einer bestimmten Art und Weise gehandelt haben.

Können sie ein Beispiel erzählen?

Roland Jahn: Es ist es gibt durchaus Leute, die auch in meiner Akte vorgekommen sind, die mit Informationen an die Stasi gegangen sind, dafür gesorgt haben, dass die Stasi mich stärker in den Blick genommen hat, und auch Menschen, die zum Beispiel im Gerichtsprozess gegen mich ausgesagt haben. Das sind alles Situationen, wo es einfach ist, dass man das verurteilt, aber sich klarzumachen: Wie ist es dazu gekommen, in welcher Situation war der Mensch und wie geht er heute damit um?

Ja, das ist ja der Punkt. Weil ich kann mir vorstellen zu verzeihen, wenn jemand seine Schuld eingesteht oder zumindest sein Verhalten erklärt. Aber was ist mit den Vielen, die ihre Beteiligung am Unrecht immer noch leugnen, auch vor sich selbst verleugnen?

Roland Jahn: Da ist es ganz schwierig, aber auch denen sollten wir den Rahmen setzen, dass sie eine Chance haben zu reden. Es ist wichtig, dass wir nicht von vornherein Leute irgendwie als schuldig abstempeln, sondern dass wir zuhören, dass wir versuchen zu verstehen, ohne sie aus der Verantwortung zu nehmen. Es darf niemand aus der Verantwortung entlassen werden und wir müssen immer wieder darauf setzen, dass die Menschen selber auch zu einem Erkenntnisprozess kommen. Aber das ist halt das Wichtige, da einen differenzierten Umgang zu entwickeln. Respekt zu zeigen vor den Biographien, aber deutlich machen, dass man sie die Verantwortung nimmt und sie für das  stehen müssen, für ihr eigenes Handeln. Und das ist aber auch die Brücke in die Gegenwart. Es geht immer darum, dass jeder eine individuelle Verantwortung für sein eigenes Handeln hat. Und hier denke ich, ist gerade was das Thema Anpassung betrifft, das Thema das viele Menschen betrifft in der DDR, die Aufarbeitung am Anfang. Und gerade wenn man über freie Wahlen reden, müssen wir auch darüber reden, dass es in der DDR jahrzehntelang keine freien Wahlen gab und die Menschen hingegangen sind und ein Bekenntnis abgelegt haben. Sie haben die Zettel in die Urne gesteckt, so wie es ihnen vorgegeben war und sie haben eine Zustimmung für diesen Staat damit gegeben. Und es ist mir wichtig, dass die Menschen sich dessen klar werden, dass sie damit auch einen Baustein für die Gefängnismauern oder für die Berliner Mauer mitgeliefert haben mit diesem Bekenntnis. Das will ich nicht verdammen bis in alle Ewigkeit, aber ich möchte, dass ein Erkenntnisprozess einsetzt, dass jeder in seinem täglichen Leben mit dazu beigetragen hat, dass dieser Unrechtsstaat DDR existiert hat.

Roland Jahn, jetzt haben wir hier so intensiv gesprochen in dieser Stunde. Was steht heute noch an bei ihnen?

Roland Jahn: Ja, ich gehe in mein Büro und die Aufgabe als Bundesbeauftragte ist natürlich dafür zu sorgen, dass wir auf dieses Symbol der friedlichen Revolution mit hochhalten, dass wir uns erinnern was Diktatur bedeutet hat, aber dass Menschen es auch geschafft haben sie zu überwinden. Und dafür steht auch der 18. März 1990, die freien Wahlen in der DDR. Und in diesem Gedanken hier die Brücke zur nächsten Generation zu bauen, ihr das an die Hand zu geben und klarzumachen, dass freie Wahlen, freie Meinung keine Selbstverständlichkeit sind, das ist etwas, was mein Leben heute noch bestimmt und auch den heutigen Tag.

Der Journalist weiß, wie man gutes Schlusswort spricht. Ich danke ihnen sehr für das Gespräch. Wir hätten noch viel reden können in dieser Stunde. Weitere Aspekte rund um die Stasi-Unterlagen-Behörde, die haben wir mit ihnen im Januar in unserer Sendung "Tacheles" besprochen, die kann man noch nachhören, steht online bei Deutschlandfunk Kultur. Herr Jahn, herzlichen Dank.

Roland Jahn: Ich danke auch.

Das Gespräch führte Britta Bürger