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Ich habe meine Akte noch nicht zu Ende gelesen

20 Jahre Einsicht in Stasi-Akten. BILD-Interview mit Behördenleiter Roland Jahn (58) vom 10. Januar 2012

Die Beinamen zeichnen ein einseitiges Bild von Roland Jahn (58, eine Tochter). Der Journalist ist seit dem 14. März 2011 Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Mit Nachdruck vertritt der ehemalige Oppositionelle aus Jena die Interessen der Stasi-Opfer. Ex-Täter, die noch in seiner Behörde arbeiten, lässt er gegenwärtig versetzen. Anlässlich des 20. Jahrestages der Öffnung der Stasi-Akten sprach BILD mit Roland Jahn über Verfolgung und Vergebung, Vertrauen und Verantwortung.

BILD: Leiden Sie an Verfolgungswahn?

Roland Jahn: "Nein. Ich trage Verantwortung für die Opfer der Stasi, sage aber auch: Eine zweite Chance für Täter muss möglich sein."

Ein Beispiel bitte!

Jahn: "Neulich bekam ich eine SMS eines ehemaligen inoffiziellen Mitarbeiters, der sich bei mir bedankte."

Was ist passiert?

Jahn: "Der Mann bewarb sich in Brandenburg für ein öffentliches Amt, rief mich an und fragte, ob er seine IM-Tätigkeit in der Bewerbung zugeben sollte. JA, sagte ich ihm. Er folgte meinem Rat und wurde eingestellt."

Jetzt sind Sie sauer, weil er genommen wurde?

Jahn: "Im Gegenteil. IM ist nicht gleich IM."

Können Sie sicher sein, dass keiner Ihrer noch 1650 Mitarbeiter einst IM war?

Jahn: "Nein. Aber deshalb gibt es ja bei uns immer wieder Überprüfungen."

Noch müssen Papierschnipsel aus 15 500 Säcken zu Dokumenten werden. Rechnen Sie mit spektakulären Enthüllungen?

Jahn: "Die Stasi hat ja wohl nicht gerade das Unwichtigste zerrissen. Es kann spannend werden."

Wann kommt das Computerprogramm zum Einsatz, das bei der Rekonstruktion helfen soll?

Jahn: "Nächsten Monat soll die Testphase beginnen. Zunächst sollen die Fetzen aus 400 Säcken zusammengefügt werden. Allein 90 Säcke sind von der Auslandsspionage."

Wie funktioniert das?

Jahn: "Die Schnipsel werden gescannt. Das Programm erkennt Farbe, Papierart und die Risskanten, formt die einzelnen Teile zu ganzen Seiten. Aus einem Sack entstehen so rund 5000 DIN-A4-Blätter."

Dann könnte sich auch die Wartezeit für Antragsteller verringern?

Jahn: "Die Antragsteller warten so lange, weil es noch einen großen Antragsstau bei uns gibt."

Wie viele Leute wollen nach 20 Jahren überhaupt noch wissen, was damals in der DDR war?

Jahn: "Im vergangenen Jahr wurden 80 000 neue Anträge auf Akteneinsicht gestellt."

Opfer beklagen, dass Sie Ihre eigenen Akten im Lesesaal nur unter Aufsicht lesen können. Außerdem ist vieles geschwärzt!

Jahn: "Geschwärzt sind die Daten anderer Opfer. Das legt das Gesetz so fest. Und das ist gut so."

Warum dauert es so lange, bis Ihre Mitarbeiter die Klarnamen zu den Tarnnamen finden?

Jahn: "Es ist insgesamt ein Problem, dass es lange dauert, bis man seine Akte einsehen kann -bis zu zwei Jahren. Wir versuchen gerade, weitere Mitarbeiter für die Einsicht in die Akten zu gewinnen - durch Umbesetzungen, Reaktivierung von ehemaligen Mitarbeitern im Ruhestand und Neueinstellungen."

Sie kennen aber schon die Personen, die auf Sie angesetzt waren?

Jahn: "Nicht alle. Ich habe meine Akte noch nicht vollständig gelesen."

Wie lange wird es die Stasi-Unterlagenbehörde noch geben?

Jahn: "Das weiß ich nicht. Auf jeden Fall noch die nächsten vier Jahre. Viel wichtiger ist, dass die Akten - wo auch immer - für Aufarbeitung und Forschung zugänglich bleiben. Auch das Ausland wie der Irak, Ägypten oder die chinesische Opposition bewundert uns für den relativ öffentlichen Umgang mit den Dokumenten, wenn sie uns im Stasi-Archiv besuchen."

Das Interview führten Miriam Krekel und Hartmut Kascha