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Stasi-Akten schärfen Sinne für die Demokratie

Der Chef der Stasi-Unterlagenbehörde möchte, dass die "Rolling Stones" dem früheren DDR-Geheimdienst aufs Dach steigen

Erich Honecker sagte voraus, dass die Mauer "in 50 und in 100 Jahren noch stehen" werde. Wird es die Stasi-Unterlagenbehörde in 50 und in 100 Jahren noch geben?

Jahn Es war schon immer eine offene Frage, wie lange eine Behörde dafür nötig ist. Aber die Akten müssen für immer zugänglich sein. Aufklärung ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie. Was auf dem Türschild steht, muss die Politik entscheiden. Wichtig ist, dass die Aufgabe erfüllt wird.

Gibt es denn immer noch Anträge?

Jahn Wir haben in diesem Jahr schon wieder mehr Bürger-Anträge auf Akteneinsicht als im Vorjahr. Die Zahl stieg von 80 000 im ganzen letzten Jahr auf 84 000 bis Ende November. Damit haben nun bereits über zwei Millionen Menschen Anträge eingereicht.

Was hat dieser Zugang gebracht?

Jahn Die Opfer der Staatssicherheit haben Genugtuung erfahren. Mit den Akten haben sie ein Stück ihres gestohlenen Lebens zurückbekommen. Für die Betroffenen ist es sehr wichtig zu erfahren, wie in ihr Leben eingegriffen wurde.

Die brisantesten Akten sind im Häcksler gelandet.

Jahn Vieles ist unwiederbringlich vernichtet, aber wir haben 15 000 Säcke mit zerrissenen Akten und immerhin haben wir manuell schon 1,5 Millionen Blatt zusammensetzen können. Die haben uns viele neue Erkenntnisse gebracht.

Was konkret?

Jahn Zum Beispiel ganz konkrete Hilfen für Menschen, die ohne diese Informationen nicht hätten rehabilitiert werden können, die ohne diese Dokumente Nachteile zum Beispiel beim Rentenbezug hätten. Und es hilft bei der Erforschung, wie die Stasi gewirkt hat. So konnten wir viele Vorgänge rekonstruieren, die die Arbeit der Stasi im Bundesgebiet beleuchten.

Was kam dabei heraus?

Jahn Die Stasi hat an der innerdeutschen Grenze die Pässe der Westdeutschen kopiert, um sie fälschen zu können. Mit den gestohlenen Identitäten dieser Bürger sind dann Stasi-Agenten um die Welt gereist. Sogar der Pass des damaligen Oberhausener SPD-Bundestags-Abgeordneten Dieter Schanz wurde kopiert. Ein Stasi-Mitarbeiter ist als "Dieter Schanz" leicht durch Grenzkontrollen gekommen und hat Firmen in mehreren Ländern bespitzelt, ohne dass der Politiker ahnte, dass seine Identität derart missbraucht wurde. Durch die zusammengesetzten Akten konnten wir auch erfahren, dass ein Stasi-Mitarbeiter mit dem gefälschten Pass eines Busfahrers aus Spandau in Skandinavien spionierte, und es konnte zurückverfolgt werden, dass es sich dabei um einen Professor aus Jena handelte, der immer noch lehrte. Dessen Vertragsverhältnis wurde aufgrund dieser Erkenntnisse nun aber beendet.

Das heißt, in den 15 000 Säcken lauern noch viele Sensationen?

Jahn Jedenfalls gibt es noch viele unentdeckte Vorgänge. Die Stasi hat ja nicht das Unwichtigste in den Reißwolf gegeben, sie hat zielgerichtet zu vernichten versucht. Daher lohnt sich die Zusammensetzung. Mit einem speziell entwickelten Computerprogramm wird die virtuelle Rekonstruktion der zerrissenen Akten künftig sehr viel schneller gehen. Wenn wir dadurch über das Wirken der Stasi im Westen mehr erfahren, ist das sicher für alle gut.

Hätte es der frühen Bundesrepublik gut getan, den Nationalsozialismus aufzuklären, so wie es nach dem DDR-Sozialismus mit Ihrer Behörde geschah?

Jahn Ich hüte mich davor, etwas gleichzusetzen. Die Stasi-Unterlagenbehörde war jedenfalls ein Gewinn: Weltweit erstmalig konnten Akten einer Geheimpolizei genutzt werden, für den Einzelnen und für die Kenntnis vom Funktionieren einer Diktatur. Das war beispielgebend. Je besser wir begreifen, wie Diktatur funktioniert, desto besser können wir die Demokratie gestalten. Wir können daraus Maßstäbe für die Gefährdung der Freiheit entwickeln.

Worauf müssen wir achten?

Jahn Wir müssen darauf achten, dass es keinen Datenmissbrauch gibt, dass bei der technischen Entwicklung am Ende die Bürgerrechte nicht auf der Strecke bleiben. Wir müssen darauf achten, dass Widerspruch im demokratischen System hoch gehalten wird. Widerspenstige Geister dürfen nicht kaltgestellt werden. Der Blick in die Unfreiheit kann unsere Sinne für die Freiheit schärfen.

Aber in den neuen Ländern wächst die Ostalgie.

Jahn Es ist verständlich, warum sich Menschen vor allem an das Positive ihrer Vergangenheit erinnern. Sie denken ja nicht an das System, sondern an die schönen persönlichen Erlebnisse. Das ist ein Teil ihrer Biografie. Aber es gab das Gute nicht wegen, sondern trotz des Staates. Auch ich hatte viele schöne Erlebnisse. Auch in der Diktatur scheint die Sonne. Nur haben viele diese Sonne nicht gesehen, weil sie im Gefängnis saßen. Wir müssen darauf achten, Erinnerung von Schönfärberei zu unterscheiden.

Für Sie persönlich hätte in der DDR auch mehr die Sonne geschienen, wenn Sie nicht mit Solidarnosc-Fahne herumgefahren und ein Hitler-Stalin-Bild plakatiert hätten.

Jahn Klar. Wer nicht aneckte, konnte ein schönes Leben haben. Aber darin besteht ja der Grund für die friedliche Revolution. Die Leute sind immer mehr angeeckt. Es gab eine neue Generation in den 80er Jahren, die nicht mehr die Niederschlagung des Aufstandes von 1953 in den Knochen hatte. Sie forderte unerschrocken ein selbstbestimmtes Leben ein. Weil man ihr das nicht gewährte, wurde die neue Generation mutiger. Das System der Angst funktionierte nicht mehr. Und wenn das nicht mehr funktioniert, ist die Diktatur am Ende.

Viele wollten eine DDR ohne Mauer. Hätte das funktionieren können?

Jahn Das glaube ich nicht. Die Verbindungen waren einfach zu stark. Jeder Fußballfan hatte zusätzlich seinen West- Verein. Für mich war es Carl-Zeiss-Jena in der DDR, aber ich war zugleich ein Dortmund-Fan. Es gab immer schon die gelebte Einheit. Der DDR-Bürger hat jeden Abend im Westen gelebt, weil er das Westfernsehen eingeschaltet hat. Es war immer klar: Sobald die Menschen in der DDR frei und selbstbestimmt entscheiden können, kommt die Einheit.

Was wird aus der Stasi-Zentrale?

Jahn Es ist eine große Chance für kommende Generationen, mehr über die Vergangenheit zu lernen, wenn wir unsere Arbeit am historischen Ort, dort wo Stasi-Chef Mielke war, anschaulich machen. Wir wollen die Forschungsabteilung dort, nahe an den Akten, unterbringen und eine Bibliothek mit Café etablieren. Das kann als eine Art "Campus für Demokratie" funktionieren. Als alter Stones-Fan habe ich zusätzlich den Traum, dass zur Eröffnung die Rolling Stones Mielke aufs Dach steigen und dort oben ein Konzert geben.

Wie kommen Sie zu diesem Traum?

Jahn In den Akten finden sich viele Hinweise auf das Gerücht, das 1969 die Runde machte: Die Stones würden auf dem Springer-Hochhaus in West-Berlin ein Konzert geben und das am Jahrestag der DDR-Gründung. Hunderte, die sich daraufhin an der Mauer versammelten, wurden festgenommen und einige ins Gefängnis gesteckt. Die Stones hatten für die DDR-Jugend eine besondere Bedeutung. Freiheit und Selbstbestimmung symbolisierten sich in ihren Liedern. Und ein Konzert auf dem Dach der ehemaligen Stasi-Zentrale würde auch die Befreiung symbolisieren: Hier haben die Menschen die Zentrale gestürmt und die Akten gesichert.

Und der "Campus der Demokratie" würde noch funktionieren, wenn es eine eigenständige Stasi-Unterlagenbehörde nicht mehr gibt?

Jahn Davon bin ich überzeugt. Deshalb habe ich mich gefreut, dass inzwischen auch die Robert-Havemann-Gesellschaft plant, mit auf diesen Campus zu ziehen und ihr Archiv der DDR-Opposition dort zu präsentieren. Auch das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik, das die virtuelle Rekonstruktion der Stasi- Akten-Schnipsel entwickelt, möchte gerne am historischen Ort in einer Art "gläsernen Fabrik" die 15 000 Säcke mit dem "größten Puzzle der Welt" aufarbeiten. Jetzt kommt es darauf an, dass bei der Verwirklichung der Idee niemand auf der Bremse steht.

Gregor Mayntz stellte die Fragen