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Tausende West-Spione der DDR noch unentdeckt

Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen Roland Jahn im Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (NOZ) vom 06. August 2011

Osnabrück. Die DDR-Staatssicherheit hat ihn einst inhaftiert, nun ist er Herr der Stasi-Akten. Zu Mauer und Zivilcourage äußert sich der neue Stasi-Bundesbeauftragte Roland Jahn im Interview.

NOZ: Herr Jahn, welche Folgen der Berliner Mauer sind noch heute spürbar?

Roland Jahn: Die Mauer war ein Eingriff in das Leben der Menschen, der nicht vergessen wird. Bei mir deswegen, weil ich mit Gewalt, gegen meinen Willen und in Knebelketten gefesselt, gewissermaßen über die Mauer geworfen wurde. Die Mauer war für mich die Trennung von Familie und Freunden.

Unter welchen Versäumnissen leidet die deutsch-deutsche Einheit?

Jahn: Im Einzelfall wären vielleicht mehr Verständnis und Respekt für die Biografie des anderen vonnöten. Aber die deutsche Einheit ist ansonsten auf einem guten Weg.

Heutzutage nutzen Rebellen Twitter. Wie würden Sie die wichtigste Lektion der DDR-Geschichte twittern?

Jahn: Freiheit muss man sich nehmen. Auch eine Diktatur kann überwunden werden, wenn die Menschen es schaffen, ihre Angst zu verlieren.

Wie viele unentdeckte West-Spione der Stasi gibt es noch?

Jahn: Es gibt keine konkreten Überlieferungen, weil die für Auslandsspionage zuständige HVA, die Hauptverwaltung Aufklärung, fast alle ihre Akten selbst noch vernichtet hat. Die Wissenschaftler unserer Behörde haben für die Zeit zwischen 1949 und 1989 rund 12000 West-Spione berechnet. Dazu muss man die Zahl der Strafverfahren gegen solche Agenten in Bezug setzen: Von 1990 bis 1999 gab es circa 3000 derartige Verfahren. Davon kamen allerdings lediglich 500 zur Anklage, 360 Spione wurden verurteilt.

Wo liegt die DDR-Forschung noch im Dunkeln?

Jahn: Eine solche Diktatur aufzuarbeiten ist ein langer Prozess. Es ist wichtig zu wissen: Warum hat ein ganzes Volk in dieser Diktatur funktioniert? Wie konnte dieses System der Angst, das von der Stasi mitgeprägt worden ist, gelingen? Wieso waren hochintelligente Menschen dem DDR-Staat zu Diensten? Es ist noch viel Aufklärung notwendig, um Antworten zu finden. Das System der Angst, etwa durch Sippenverfolgung, hat selbst mich dazu gebracht, Rücksicht zu nehmen auf die Familie, die durch meine Aktionen eventuell Nachteile hätte in Kauf nehmen müssen und später genommen hat. Ich habe täglich mein Verhalten bedacht - und habe meine Meinung nicht immer gesagt.

Ihr Ziel ist Versöhnung. Zugleich halten Sie 47 in Ihrer Behörde beschäftigte Ex-Stasi-Mitarbeiter für untragbar. Wann kommt es zur Versetzung?

Jahn: Die zuständige Bundesregierung ist dabei, Stellen anzubieten. Wie lange dieser Prozess dauert, ist noch nicht abzusehen. Es hängt davon ab, wie die Ministerien die Angebote bereitstellen. Ich möchte das Problem lösen, weil mein Ziel, ein Klima der Versöhnung zu schaffen, damit zu tun hat, wie man das Empfinden der Opfer respektiert.

Sie reden von Versöhnung. Aber wie groß muss Ihre Wut auf einen wie Ex-Stasi-Hauptmann Hans-Joachim Seidel sein, der 1982 nicht nur Sie vernommen hat, sondern ein Jahr zuvor - noch dazu im selben Gefängnis in Gera - auch Ihren Freund Matthias "Matz" Domaschk? Domaschk starb in Stasi-Haft, Seidel schweigt...

Jahn: Ich kann mich auch mit so einem Menschen versöhnen - wenn er in der Lage ist, sich seiner Verantwortung zu stellen. Man sollte allen Menschen eine zweite Chance geben. Aber diese zweite Chance gibt es nicht frei Haus. Voraussetzung ist die Auseinandersetzung mit dem, was man gemacht hat, bis derjenige erkennt, dass er mit seinem Verhalten die Menschenrechte mit Füßen getreten hat.

Würden Sie auch dem Massenmörder von Norwegen eine zweite Chance einräumen?

Jahn: Das weiß ich jetzt nicht. Allerdings ist die Idee der Versöhnung, dass man also Mensch und Tat trennt, im christlichen Verständnis verwurzelt. Sie prägt unsere Gesellschaft.

Nach dem Norwegen-Massaker kam in Deutschland flugs der Ruf nach einem NPD-Verbot. Was halten Sie davon?

Jahn: Schnelle Verbote helfen nicht weiter. Eine demokratische Gesellschaft sollte im Meinungsstreit ihren Weg suchen. Wie steht es um das DDR-Wissen in Deutschland?

Das Wissen über die DDR ist immer noch ungenügend. Gleichwohl ist in den letzten 20 Jahren in Deutschland in Sachen Aufarbeitung viel geleistet worden. Allerdings ist eine neue Generation herangewachsen, die die DDR nur von Erzählungen kennt. Bleibt Zivilcourage auf der Strecke?

Jahn: Tatsächlich gibt es Formen von Anpassung und Stillschweigen, für die in einer demokratischen Gesellschaft kein Platz sein sollte. Im Berufsalltag fügen sich viele etwa aus Angst vor Nachteilen und scheuen deshalb offene, kritische Diskussionen. Mein Anliegen ist es, das demokratische Bewusstsein zu schärfen, dass die Leute bereit sind, auch mal den Mund aufzumachen und zu widersprechen.

Was erwarten Sie bei der Aufarbeitung der DDR-Geschichte von der SED-Nachfolgepartei "Die Linke", aber auch von anderen Parteien?

Jahn: Alle und besonders die SED-Nachfolgerin "Die Linke" müssen intensiver und gründlicher die eigene Parteigeschichte aufarbeiten. Das könnte zum Beispiel neues Licht in die Zusammenarbeit zwischen SED und Stasi bringen. Die Funktionäre als Zeitzeugen müssen endlich die Karten auf den Tisch legen.

Welche Rolle spielte der heutige Linke-Fraktionschef Gregor Gysi?

Jahn: Als Rechtsanwalt in Fällen von Oppositionellen hat er durchaus eine umstrittene Rolle gespielt. Ich habe als Journalist mehrere TV-Beiträge über Gregor Gysi gemacht. Darin ist vieles beschrieben. Der Bundestags-Immunitätsausschuss hat viele Akten zu Herrn Gysi ausgewertet und kam zum Schluss, er habe der Stasi zugearbeitet.

Sie erhalten also aufrecht, was Sie als TV-Journalist berichtet haben?

Jahn: Es gibt keinen Grund, meine Darstellungen zu revidieren. Die Akten sprechen für sich.

Nach Ihrer Ansicht wird mit Blick auf die DDR-Geschichte zu sehr gerechtfertigt. Wen meinen Sie?

Jahn: Zum Beispiel Ex-DDR-Armeegeneral Heinz Keßler und Ex-NVA-Stabschef Fritz Streletz, die in ihrem Buch "Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben" den Mauerbau rechtfertigen - noch dazu mit dem Argument, man hätte damit den Weltfrieden erhalten wollen. Eine Mauer, an der Menschen erschossen werden, weil sie einfach nur von einem Stadtteil in den anderen wollen, ist durch nichts zu rechtfertigen. Ich wünsche mir mehr Bekenntnis zur eigenen Biografie. Damit sowohl Funktionsträger sich ihrer Verantwortung stellen als auch Menschen, die geschwiegen haben, sich hinterfragen und sich nicht in Ausreden flüchten, man habe ja nicht anders gekonnt.

Das Gespräch führte Klaus Jongebloed