[Intro]
Sprecherin: "111km Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ..ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Wir hören im heutigen Podcast Anne Pfautsch. Sie ist eine Wissenschaftlerin, die in Halle aufgewachsen ist und in London lebte und ich glaube auch heute noch lebt. Ich traf sie im Gebäudekomplex des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin, und zwar im letzten Sommer, Sommer 2019. Und wir sprachen über das, was an dem Tag gerade passiert ist, sie hat nämlich ihren Rechercheantrag über ihren Großvater abgegeben, in dieser Behörde. Bevor wir in das Gespräch eintauchen, was also im Sommer 2019 aufgenommen wurde, wüsste ich gerne noch von Dagmar Hovestädt, die quasi meine Partnerin ist hier in dem Podcast - ich bin nämlich nur, in Anführungszeichen, Journalist, der die Sache von außen wahrnimmt, also nicht in dem Archiv tätig ist. Ich hab sehr viel darin recherchiert und so weiter. Aber Dagmar Hovestädt ist die Kommunikationschefin des BStU. Du hast dir das schon mal angehört, was die Hörer jetzt alles hören werden. Gibt es irgendwelche Sachen, die du aus deinen internen Kenntnissen zurecht rücken müsstest?
Dagmar Hovestädt: Ich fand es erstmal ganz super, dass wir in der zweiten Folge gleich eine Nutzerin des Archives befragen können, wozu sie das Archiv nutzt. Und dann in dieser Doppelkombination als junge Wissenschaftlerin, die an ihrer Doktorarbeit sitzt. Aber auch als jemand, der sein Familienleben zu DDR-Zeiten erforschen will. Das hat mich letztendlich sehr gefreut.
Maximilian Schönherr: Das sind ja Menschen, die ihr normalerweise, wenn ihr da arbeitet im Stasi-Unterlagen-Archiv, nicht seht. Die Antragsteller.
Dagmar Hovestädt: Genau. Also, in der Kommunikation, wenn man Pressearbeit macht und Online-Kommunikation, dann begrüßen wir natürlich nicht jeden Antragsteller mit Handschlag. Sondern das ist eher mal eine Ausnahme, dass man jemanden trifft, der bei uns einen Antrag stellt. Insofern ist das auch für mich immer eine tolle Einsicht, das mitzubekommen. Und ich hab es eigentlich auch ganz interessant gefunden, wie jemand, der von außen kommt und noch nie so einen Antrag auch auf persönliche Akteneinsicht gestellt hat, das erlebt. Es ist ja was besonders. Sie kann nicht zu sich selber einen Antrag stellen, dazu ist sie zu spät geboren. Aber sie hat ja einen Antrag gestellt zu ihrem verstorbenen Großvater. Und das ist tatsächlich möglich, dass man zur Aufklärung des Familienschicksals auch Anträge zu verstorbenen Verwandten bis zum zweiten Grad stellen kann. Und dennoch, und dass hat sie durchaus als kompliziert erlebt, muss man genau nachweisen, da sind wir tatsächlich etwas bürokratisch, dass der Großvater auch wirklich der Großvater ist und dass der Großvater auch wirklich verstorben ist. Und dass es keine anderen Verwandten gibt, die dazwischen liegen oder die dem widersprechen. Insofern geht es auch bei Familienaufklärung darum, die Privatsphäre, die Daten auch des verstorbenen Familienmitglieds insofern zu wahren, als dass wir genau prüfen, ob das alles stimmt und ob es auch einen wirklichen Schicksalsaufklärungsansatz gibt. Ich sag mal flapsig formuliert: wer nur Erbstreitigkeiten klären will, der kann das nicht über Stasi-Akten tun.
Maximilian Schönherr: Und die lange Wartezeit, die sie erwähnen wird, stimmt die so, ist das üblich?
Dagmar Hovestädt: Tatsächlich ist es so, dass wir immer noch überraschend viel, also gedacht aus der Perspektive des Anfangs der frühen 90er Jahre, immer noch sehr viele Anträge bekommen, auf diese private, persönliche Akteneinsicht. Zwischen 4.000 und 5.000 im Monat zur Zeit, sodass die Warteschlange mittlerweile immer noch bei 30.000 Menschen liegt, die vor einem dran sind. Das heißt wenn man tatsächlich Unterlagen zu einer Person findet, dann zieht sich das schon ein bisschen hin, bis man dran ist. Und wenn wir dann recherchieren müssen im Archiv kann dann schon mal so anderthalb Jahre vergehen. Sie sagt zwei Jahre, das ist aber nicht garantiert, weil wir natürlich zwischenzeitlich die Warteschlange verkürzen und daran arbeiten, das abzubauen. Aber tatsächlich ist es mindestens ein Jahr, das man zur Zeit warten muss, meistens anderthalb und in komplexen Fällen, mit vielen Unterlagen kann es bis zu zwei Jahren auch dauern.
Maximilian Schönherr: Und es gibt die immer im Raum stehende Klage, es würde immer mehr geschwärzt. Also es wurde viel weniger geschwärzt vor 20 Jahren als heute. In Dokumenten, die man sehen möchte. Also, da ist ein Name nicht mehr sichtbar, der vor 10, 20, 25 Jahren noch sichtbar gewesen wäre. Das thematisieren Anne Pfautsch und ich auch in diesem Gespräch. Stimmt das so?
Dagmar Hovestädt: Ja, das wollte ich dich eigentlich fragen, weil du das ja auch thematisierst, dass du das Gefühl hast, es ist früher weniger geschwärzt worden. Ich würde das gar nicht unbedingt nachvollziehen. Schwärzen ist der Schutz von Persönlichkeitsrechten. Das ist ganz wichtig. Wir sind gehalten, dass auf Grundlage des Stasi-Unterlagen-Gesetzes die privaten Daten von denjenigen, die von der Stasi bespitzelt wurden, zu schützen. Und das wird durch Schwärzen erledigt. Die Daten und Informationen zu den inoffiziellen Mitarbeitern und hauptamtlichen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit, die bleiben offen. Und insofern ist das schwer nachvollziehbar, warum sich über die Zeit daran eigentlich etwas ändern sollte. Im Gegenteil: Je länger jemand verstorben ist beispielsweise, desto mehr greifen dann diese Archivgesetze, dass man bis zu 30 Jahre nach dem Tod die Persönlichkeitsrechte wahren sollte und danach ist es eigentlich einfacher, alle Daten zugänglich zu machen. Insofern interessiert mich dein Eindruck, warum du denkst, dass das Schwärzen stärker wird.
Maximilian Schönherr: Weil ich immer wieder mit Menschen geredet hab, die solche Anträge stellten. Unter anderem direkt nach der Wende, als BStU frisch gegründet war. Und das ist konkret jetzt eine sehr veritable Wikipedia-Autorin, die sagte, sie hat über ihre Familie schauerliche Dinge gelesen und als sie dann jetzt vor ein paar Jahren wieder einen Antrag stellte, um das nochmal näher nachzulesen, waren viele, viele von diesen Details, die sie damals lesen konnte, geschwärzt. Und diesen Eindrduck habe ich jetzt sehr direkt von ihr bekommen, also sie hat gesagt: garantiert war es so. Und sie ist Wissenschaftlerin, ihr glaube ich auch. Aber es kann natürlich bei anderen ganz anders sein. Aber ich hatte auch den Eindruck bei Anne Pfautsch in dem Gespräch, dass es so ein bisschen in diese Richtung geht. Aber wir haben schon einen Podcast vorbereitet, mit einem Dokumentar und Archivar bei euch, wo es genau darum geht. Es hängt ja oft von den Personen, den Betreuern ab, wie die mit dem Datenschutz umgehen, wenn ein Antragsteller Akten sehen möchte.
Dagmar Hovestädt: Das würde ich auch so sagen, dass die Beurteilung davon, was eine identifizierbare Information zu einem Menschen ist, der von der Stasi ohne sein Einverständnis dokumentiert worden ist - klar, das ist keine exakte Mathematik. Das hat bisschen was damit zu tun, wo jemand sagt: Das Auto vor der Tür mit der Farbe rot und der Marke so und so, das ist zu identifizierbar oder nicht. Da gibt es immer eine Grauzone, sodass es unterschiedlich wird. Aber am Ende muss man immer sagen: Es geht darum, die Daten, die privaten Daten von Menschen zu schützen, die nie ihr Einverständnis gegeben haben. Also auch ein ganz aktuelles Problem. Und insofern da ein Verständnis dafür zu wecken. Aber klar, das ist für mich auch nicht so eine einfache Geschichte oder ist es auch nicht so positiv, wenn Leute das Gefühl haben, ihnen werden Informationen vorenthalten. Aber das ist eben vor dem Hintergrund der Privatsphäre zu betrachten. Also insofern hoffentlich auch mit ein bisschen Verständnis.
Maximilian Schönherr: Ich glaube auch nicht, dass es eine Unterstellung ist, dass da jemand Böses will. Sondern es ist einfach, man hat einen Eindruck von außen: Es wird mehr Vorsicht walten gelassen.
Dagmar Hovestädt: Ja, das würde ich auch so sagen. Man muss einfach nur verstehen, worum es dabei geht. Trotzdem kann es für bestimmte Personen absurd wirken oder dass man eben da einen Unwillen entwickelt, weil man glaubt, es wird einem etwas vorenthalten.
Maximilian Schönherr: Ich glaube jetzt haben wir sehr viel darüber geredet, über das, was jetzt kommt. Und da wünschen wir natürlich gute Unterhaltung und einen hohen Informationswert.
Dagmar Hovestädt: [lacht kurz] Genau.
Maximilian Schönherr: Wie heißen Sie mit ganzem Namen? Wo kommen Sie her? Was tun Sie, warum haben Sie mit dem Archiv zu tun?
Anne Pfautsch: Mein Name ist Anne Pfautsch, ich bin in Halle/Saale geboren. Und ich bin PhD-Candidate an der Kingston University in London und promoviere zum Thema "DDR-Dokumentarfotografie". Dazu habe ich mich aus Forschungsgründen an das BStU gewandt. Harald Hauswald, ein Fotograf der Ostkreuz Agentur, über die ich schreibe, hat eine Akte, die er auch veröffentlicht hat und mit der wollte ich mich auseinandersetzen. Auch aus privaten Gründen habe ich mich an das Stasi-Unterlagen-Archiv gewendet, weil ich gerne mehr über meine Familiengeschichte in Erfahrung bringen wollte.
Maximilian Schönherr: Sprechen wir gleich noch drüber. Es ist sehr interessant, dass die Wissenschaft dieses Archiv nutzt. Das ist aber fast selbstverständlich, Historiker vor allem. Sie sind keine Historikerin?
Anne Pfautsch: Nein.
Maximilian Schönherr: Sondern?
Anne Pfautsch: Kunsthistorikerin.
Maximilian Schönherr: Okay. Deswegen auch Fotografie und Fotografie-Geschichte, also späte DDR-Fotografie eigentlich.
Anne Pfautsch: Genau, ja.
Maximilian Schönherr: Und andererseits: Privatpersonen. 45.000 Anträge pro Jahr. Sie haben jetzt gerade einen gestellt von diesen 45.000. Wie war das? Sie haben ihn gerade unten abgegeben?
Anne Pfautsch: Das war irgendwie kompliziert. Aber ich glaube, das lag sowohl an meiner Naivität, dass ich nicht genau wusste wie man das stellen soll und was man da noch irgendwie für Unterlagen und Dokumente benötigt. Kompliziert auch aufgrund meiner Familiengeschichte, weil das nicht unbedingt so gewollt ist, dass ich diesen Antrag stelle. Und kompliziert, weil man viel beachten muss.
Maximilian Schönherr: Das heißt es ist eigentlich kompliziert diesen Antrag zu stellen? Weil das Archiv dazu da ist, das Leute den Antrag stellen!
Anne Pfautsch: Ich weiß! Man muss sehr viele Sachen berücksichtigen. Es geht natürlich um die Wahrung von Persönlichkeits- und Datenrechten. Das Abgeben geht auch mit der Online-Ausweisfunktion, die ich nicht zustande gekriegt habe. Deswegen war es für mich das Einfachste, das persönlich abzugeben.
Maximilian Schönherr: Und Sie wohnen eh in Berlin.
Anne Pfautsch: Genau, ich wohne eh in Berlin, aber man kann das ja auch in allen Außenstellen abgeben. Ich glaube, es gibt so Dinge, die man irgendwie beachten muss und wenn man – keine Ahnung, in einem Zeitalter aufwächst, wo man ganz viele Dinge per E-Mail rausschicken kann, dann ist dann so ein Stasi-Antrag doch wieder so ein bisschen oldschool und dadurch vielleicht komplizierter.
Maximilian Schönherr: Sie haben eine DDR-Geschichte. Sie sind kurz vor der Wende geboren, richtig?
Anne Pfautsch: Genau. Also ich glaub, wahrscheinlich ist DDR-Geschichte zu euphorisch. Ich kann mich nicht an viel aus der DDR erinnern.
Maximilian Schönherr: Aber die DDR-Geschichte ist in ihren Eltern drin. In welcher Form?
Anne Pfautsch: Glaube, sie ist auf der einen Seite geprägt durch die Art wie meine Eltern in der DDR groß geworden sind und was sie für eine Geschichte und für Erfahrungen in der DDR haben. Dadurch ist natürlich auch irgendwie meine Kindheit geprägt.
Maximilian Schönherr: Das kriegen Sie jetzt gerade so mit? Oder ist es Ihnen schon länger bewusst, dass das so ist?
Anne Pfautsch: Na ja, ich glaube, wenn man nicht anfängt, sich bewusst damit auseinanderzusetzen, dann hat man irgendwie so ein waberiges Gefühl in einem, was man irgendwie nicht so klar greifen kann.
Maximilian Schönherr: Ein ungutes Gefühl?
Anne Pfautsch: Nee, es ist eher so, dass man das Gefühl hat, man ist irgendwie anders. Das lässt sich irgendwie ganz komisch formulieren, aber ich habe fünfeinhalb Jahre im Ausland gewohnt und da fliegen einem dann so Stereotype der Deutschen um die Ohren und man hat irgendwie das Gefühl, dass man da nicht so richtig reingehört. Weil die eigene Geschichte irgendwie eine andere ist. Ich bin halt in einer Platte aufgewachsen und ich glaub, was ich eigentlich sagen wollte ist, dass sowohl die DDR-Erfahrung meiner Eltern mich geprägt hat als aber, glaube ich, auch ganz stark die Nachwendeerfahrungen meiner Familie. Oder das, was man als Kind mitkriegt und irgendwie nicht versteht. Was ich dann irgendwie, indem ich mich wissenschaftlich mit dem Thema beschäftige, ich irgendwie anders einordnen kann oder sich Momente, die man nicht verstanden hatte, irgendwie klären oder auflösen.
Maximilian Schönherr: Das kam durch Ihren ersten Antrag hier eigentlich erst zustande? Durch Ihre wissenschaftliche Forschung haben Sie nachgedacht?
Anne Pfautsch: Na ja, nee. Ich glaube, das fing schon viel früher an. Mit dem Weggehen aus Deutschland fing das irgendwie an.
Maximilian Schönherr: Wann sind Sie weggegangen?
Anne Pfautsch: 2013.
Maximilian Schönherr: Und davor fehlte sozusagen irgendwas in Ihrer Biografie, das haben Sie aber nur so undbewusst wahrgenommen und dann wurde es deutlicher?
Anne Pfautsch: Ja, ich habe auch in Leipzig studiert, das heißt ich bin auch im Osten geblieben. Es gab jetzt irgendwie nicht so einen richtigen Bruch davor in meinem Leben. Als ich weggegangen bin und mich dieses Thema "DDR-Fotografie" immer mehr beschäftigte und wollte, dass das englischsprachige Ausland was über DDR-Fotografie lernt. Und das man durch dieses Arbeiten an meiner Doktorarbeit dann irgendwann so einen Aha-Moment hat, wo man das Gefühl hat, da kommt irgendwas zum Schluss. Der Kreis schließt sich. Das ist ein Weggehen aus dem Osten oder Deutschland, das ich irgendwie verstanden habe, dass ich mehr ostdeutsch bin als ich eigentlich sein wollte und das hab ich im Ausland begriffen. Diese Doktorarbeit hat auch ganz viel mit Auseinandersetzen mit der eigenen Familiengeschichte zu tun, was dann irgendwie zusammengefasst alles in dieser Doktorarbeit ein Ende findet. So hoffe ich.
Maximilian Schönherr: Wie weit ist diese Arbeit, in der es um DDR-Fotografie geht?
Anne Pfautsch: Die Abgabe ist bald. [lacht]
Maximilian Schönherr: Okay. Haben Sie das Archiv intensiv genutzt dafür?
Anne Pfautsch: Nee. Es ist tatsächlich so, dass ich das Stasi-Archiv für meine Überlegungen, für meine kunsthistorischen Überlegungen nicht brauche. Es war eher ein Interessensmoment, dass ich das wissen wollte. Und ich glaube, da ist es dann auch wieder: ich als ostdeutsches Kind - wohl wissentlich, dass in meiner Familie Stasi-Akten existieren – dass ich wissen wollte, wie die sich anfühlen, wie die aussehen, wie das Arbeiten mit denen ist und wie es sich anfühlt, so einen Antrag zu stellen. Und dass ich dann irgendwie dachte, dass das für meine Doktorarbeit auch hilfreich ist, die Stasi-Akte von Harald Hauswald auch vielleicht mal zu lesen.
Maximilian Schönherr: Haben Sie sie gelesen?
Anne Pfautsch: Ja.
Maximilian Schönherr: Wie dick?
Anne Pfautsch: Sehr dick. Also er hatte zwischenzeitlich 35 IMs auf ihn angesetzt. Ich glaube, er hat selber mal sehr scherzhaft zu mir gesagt, dass, immer wenn er nicht weiß, was er an irgendeinem Tag gemacht hat, er in seine Stasi-Akte schaut, weil da teilweise minutiös alles erfasst ist. Ich hab diese Akte ja nicht hier gelesen, sondern in der Robert-Havemann-Gesellschaft und das hatte aber eher mit Zeitgründen zu tun. Also gar nicht mit dem Stasi-Unterlagen-Archiv, sondern ich dachte, in Vorbereitung auf diesen Podcast es ganz gut ist, diese Stasi-Akte gelesen zu haben. Weil ich ja wusste, dass ich die Akte meines Großvaters so schnell nicht kriegen werde.
Maximilian Schönherr: Also, Moment – die Akten der Robert-Havemann-Gesellschaft sind diesselben wie hier im BStU?
Anne Pfautsch: Genau, also Harald Hauswald hat netter Weise die Kopie seiner Stasi-Akte in die Robert-Havemann-Gesellschaft gegeben, das Archiv der Stasi-Opposition.
Maximilian Schönherr: Das heißt das Original liegt hier, aber die Kopie drüben und da haben Sie sie gelesen.
Anne Pfautsch: Genau.
Maximilian Schönherr: Viel geschwärzt?
Anne Pfautsch: Ja. Viele Namen geschwärzt und ich weiß zum Beispiel gar nicht, ob ich jetzt die gleiche kriegen würde oder ob noch mehr geschwärzt wäre.
Maximilian Schönherr: Davon würde ich ausgehen, ja.
Anne Pfautsch: Wahrscheinlich wäre noch mehr geschwärzt, genau. Also ich war sehr mitgenommen. Erst mal über das Konvolut. Es war einfach so viel!
Maximilian Schönherr: Was die Stasi gesammelt hatte über ihn?
Anne Pfautsch: Genau, über Harald Hauswald. Wie minutiös wirklich sein Tagesablauf überwacht wurde.
Maximilian Schönherr: Zum Beispiel?
Anne Pfautsch: Wann er das Haus verlassen hat, wie lange er von A nach B gebraucht hat, was er dort wie lange in einem Konsum gemacht hat, was er in diesem Konsum gekauft hat, wann er wieder raus ist, wann er wieder nach Hause ist, wann er das Haus wieder verlassen hat. Wo man wirklich irgendwie denkt: Wow!
Maximilian Schönherr: Welche Jahre ungefähr?
Anne Pfautsch: Das ist in den 80ern.
Maximilian Schönherr: In der Wohnung selber da gab es keine Akten? Es gibt ja oft Akten über Leute, die überwacht werden, dass eine Wanze installiert ist. Haben Sie nicht gefunden.
Anne Pfautsch: Bestimmt. Vielleicht wurde diese Kopie nicht in die Robert-Havemann-Gesellschaft gegeben. Sagen wir so: die Kreise, in denen er sich bewegt hat, waren infiltriert von inoffiziellen Mitarbeitern und da wurde dann auch sehr viel über Geburtstagstreffen und Kirchengruppentreffen und Umweltgruppentreffen verfasst. Harald Hauswald hat ja zusammen mit Lutz Rathenow ein Buch über Ost-Berlin gemacht, was in Westdeutschland veröffentlich wurde und darum ging es sehr, sehr, sehr viel in diesen Akten.
Maximilian Schönherr: Bevor wir uns von Hauswald verabschieden, haben Sie ein Lieblingsfoto von ihm?
Anne Pfautsch: Viele! Tatsächlich wirklich sehr, sehr viele.
Maximilian Schönherr: Beschreiben Sie mal eins.
Anne Pfautsch: Ich glaub, ich würde Harald sehr gern als den Straßenfotografen Ost-Berlins bezeichnen und der hat einfach ganz tolle Momentaufnahmen gemacht. Es gibt eins – ich glaub, das mag ich sehr, sehr gerne – da hat er ein Schaufenster fotografiert, von einem Laden, der geschlossen war. Und in diesem Schaufenster hängt ein Schild, da steht "Reparatur sämtlicher Systeme". Es sind solche Fotos, wo immer solche Doppeldeutigkeit drin ist, die irgendwie immer eine Spitze gegen das Regime darstellt und eine Art Verbrüderung mit seinen Mitmenschen.
Maximilian Schönherr: Das heißt Sie haben durch die wissenschaftliche Forschung gemerkt, dass es dieses Archiv gibt und kamen dann auf die Idee, über Ihre Familie zu forschen? Warum forscht man über eine Familie, warum gab es da Verdacht, dass Akten hier sein können? Woher wussten Sie das?
Anne Pfautsch: Ich wusste das, das war irgendwie klar. Es wurde irgendwie auch immer gesagt, dass in der Familie gewusst wurde, wer bespitzelt hat.
Maximilian Schönherr: Wer aus der Familie bespitzelt hat.
Anne Pfautsch: Genau. Wer aus der Familie bespitzelt hat und dass mein Opa eine Akte hat, die meine Großeltern 1990, glaube ich, gelesen haben.
Maximilian Schönherr: Eine Akte als Täter oder als Opfer?
Anne Pfautsch: Als Opfer. Das sage ich jetzt hier, das ist das, was in der Familie erzählt wurde.
Maximilian Schönherr: Sie haben sie ja selber noch nicht gesehen.
Anne Pfautsch: Genau, ich habe es noch nicht gelesen.
Maximilian Schönherr: Aber er hatte es schon gesehen, damals?
Anne Pfautsch: Genau.
Maximilian Schönherr: Das heißt er wusste damals schon er war bespitzelt worden und es wird so eine Akte geben. Die hat er wahrscheinlich sehr wenig geschwärzt gelesen.
Anne Pfautsch: Das hoffe ich.
Maximilian Schönherr: Hat er drüber geredet?
Anne Pfautsch: Auf alle Fälle nicht mit mir. Ich war aber auch viel zu klein. Weiß gar nicht genau, in meiner Familie wird nicht so viel geredet. Ich glaube, das ist irgendwie vielleicht so ein DDR-Phänomen oder – ich glaub, das gibt’s wahrscheinlich in vielen Familien, aber vermehrt im Osten- das nicht viel geredet wird. Das ist in meiner Familie eben auch so.
Maximilian Schönherr: In der unmittelbaren Nachwendezeit?
Anne Pfautsch: Generell. Nach wie vor. Also meine Großmutter hatte, glaube ich, sehr damit zu kämpfen und ich kann mir das auch gut vorstellen. Wenn man 40 Jahr lang weiß, dass man bespitzelt wird, dann ist glaube ich diese Selbstrestriktion, die man verinnerlicht, sehr schwer abzulegen. Meiner Großmutter ist das nicht so gelungen. Dadurch wurde nicht gesprochen und diese, ich sag das ganz gerne polemisch, "Schweigediktatur" wurde auch irgendwie an die Kinder weitergegeben. Und dann irgendwie auch an die Enkelkinder weitergegeben, die – glaube ich – sich jetzt beide irgendwie so aufbegehren, weil das irgendwie sehr schwer erträglich ist.
Maximilian Schönherr: Okay. Warum wurden Ihre Großeltern bespitzelt?
Anne Pfautsch: Ich glaube, das weiß ich gar nicht so genau. Also, das sind ja auch Dinge, die ich irgendwie versuche herauszufinden, wenn ich diese Akte lese. Meine Oma hatte sehr viel Westverwandtschaft. Ich glaub, das würde ich sagen, ist wahrscheinlich ein Punkt.
Maximilian Schönherr: Mit der sie korrespondiert hat, zum Beispiel?
Anne Pfautsch: Ja, ihre Mutter und ihre drei Brüder haben im Westen gewohnt.
Maximilian Schönherr: Wo?
Anne Pfautsch: In der Nähe von Stuttgart. Genau, da gab es Austausch, da gab es die berühmten Westpakete. Es gab Besuche.
Maximilian Schönherr: Aber Westverwandtschaft hatten natürlich Unmengen von Bürgern der DDR. In einem geteilten Land ist das ja nun einmal so.
Anne Pfautsch: Ja und bei meinem Opa weiß ich gar nicht so genau. Also all das versuch ich halt über diese Akten rauszufinden. Was ich halt weiß oder irgendwie nicht weiß, das ist alles man würde sagen halbgares Wissen, was irgendwie so weitergereicht wurde und ich weiß eigentlich nichts. Meine Großmutter ist im Frühjahr dieses Jahres auch verstorben und irgendwie weiß ich, glaube ich, eigentlich nicht so viel über meine beiden Großeltern. Und als ich dann mit meiner Mutter darüber sprach meinte sie so: "Du, ich glaube, ich habe meinen Vater auch nicht gekannt und meine Mutter irgendwie ein bisschen besser, aber auch nicht so richtig". Also nicht, dass diese Stasi-Akte irgendwas erklärt, aber ich glaube sie gibt einen Einblick in ein Leben was ja vorbei ist, aber dennoch irgendwie zur Biografie dazugehört.
Maximilian Schönherr: Also: wenn die Oma Westverwandtschaft hatte und das der Grund der Bespitzelung war, dann müssten Sie über sie einen Antrag stellen und nicht über den Opa.
Anne Pfautsch: Ja, das kann ja auch immer noch passieren. Das, was ich weiß – und ich glaub, deswegen ist diese Stasi-Akte meines Opas so zentral – ist, dass meine Großeltern diese Akte 1990 gelesen haben. Ich glaub, mein Großvater war darüber sehr schockiert über das, was da drin stand. Weil es Verleumdungen waren, die – so wurde mir das wiedergegeben – von der Stasi dort fabriziert wurden und meine Oma hat daraufhin ihre Akte gar nicht erst beantragt. Und, da weiß ich halt nicht so genau, sie schon auch meinte, dass damals, noch so Anfang der 90er, ganz viele Steine in den Weg gelegt wurden. Also, dass irgendwie gesagt wurde: Ja, diese Stasi-Akten zu beantragen dauert irgendwie 20 Jahre und dann ist eh alles geschwärzt und so! Deswegen hat sie glaube ich sich dagegen entschieden, ihre eigene Akte einzusehen. Und das ist auch der Grund, warum - glaube ich – in meiner Familie kein weiterer irgendwie Akten bis jetzt eingesehen hat. Meine Tante zum Beispiel meinte auch: selbst, wenn ich da so einen Antrag stelle, dann dauert das ja irgendwie so 20 Jahre. Wo ich dann auch meinte: nee das stimmt nicht! Aber ich weiß halt nicht, wie die Kommunikation Anfang der 90er noch war.
[mysteriöse Musik]
Sprecher: Sie hören
Sprecherin: 111km Akten
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs
Maximilian Schönherr: Ihre Mutter müsste es ja eigentlich unterstützen, dass Sie diesen Antrag stellen. Endlich mal Klarheit in dem Laden!?
Anne Pfautsch: Ja, ich glaube, wenn man so aufgewachsen ist, dass man eher alles ruhen lässt und unter den Teppich kehrt, damit bloß kein Staub aufgewirbelt wird - dann ist das, glaube ich, sehr schwer nachvollziehbar, dass das eigene Kind plötzlich die Akte des Vaters lesen möchte. Also, ich glaub, sie möchte es nicht und das kann ich auch verstehen.
Maximilian Schönherr: Warum?
Anne Pfautsch: Das weiß ich nicht. Das hab ich tatsächlich nicht gefragt.
Maximilian Schönherr: Er ist doch da Opfer. Also, wenn er Täter wäre, wenn der Verdacht bestünde, er wäre Täter, dann wäre das eine andere Nummer.
Anne Pfautsch: Ja, aber ich glaube, es ist auf der einen Seite das Wissen, dass man eh irgendwie nichts daran ändern kann, selbst wenn es eine Opfer-Akte ist, dann kann man ja irgendwie daran jetzt nichts mehr ändern. Mein Opa ist seit sehr langer Zeit tot. Und dann würde man quasi Staub aufwirbeln und vielleicht, eventuell, schmerzhafte Sachen rausfinden, die man vielleicht lieber ruhen lassen möchte.
Maximilian Schönherr: Sie tun sich das aber an.
Anne Pfautsch: Ich tue mir das an, weil ich glaube ich nach dem Motto lebe, dass ich Sachen wissen muss, damit ich mit ihnen umgehen kann und mich Unwissenheit und Angst hindern.
Maximilian Schönherr: Haben Sie denn Geschwister?
Anne Pfautsch: Ja, ich habe einen jüngeren Bruder.
Maximilian Schönherr: Und hat der Interesse daran? Weiß der von Ihrer Unternehmung?
Anne Pfautsch: Der weiß nichts von meiner Unternehmung.
Maximilian Schönherr: Das heißt Sie sprechen ja auch nicht in der Familie!?
Anne Pfautsch: Genau. [lacht] Aber ich glaube, dass er sehr, sehr Interesse daran hat. Wie gesagt, wir haben beide ein großes Interesse daran, diese aufgebaute "Schweigeglocke" zu zerschlagen – auch, wenn wir sehr unterschiedlich sind.
Maximilian Schönherr: Haben Sie mal mit ihm über dieses Schweigen geredet?
Anne Pfautsch: Ja, vor sehr langer Zeit.
Maximilian Schönherr: Fiel ihm gar nicht so auf?
Anne Pfautsch: Doch! Doch, doch und das ist was, was wir auch beide immer irgendwie kritisiert haben. Weil dieses "Nicht Reden" ist sehr schwierig, wenn man als Kind Sachen nicht versteht und darüber reden möchte. Und man immer nur hört: "Darüber redet man nicht!" oder "Das fragt man nicht!" oder "Das geht dich nichts an!" Das sind so Sachen, die man glaube ich als Kind schwer versteht.
Maximilian Schönherr: Beispiel? Das Kind fragt dann was?
Anne Pfautsch: Es gab zum Beispiel eine Situation die es sehr oft gab, wenn meine Oma und ich einkaufen gegangen sind, meine Oma Anfang der 90er alle Ostprodukte, die in den Supermärkten unten lagen, auf die oberen Regale drauf getan hat, wo die neuen Westprodukte lagen. Das habe ich als Kind natürlich nicht verstanden, wenn man irgendwie nur drei Sachen einkaufen sollte und dann dauerte das ganze zwei Stunden. Das hat sie dann zum Beispiel aber auch nie erklärt. Das war immer so: "Ja, ist halt besser! Wir haben auch gute Produkte!" Und das versteht man als Kind natürlich nicht, warum das eine Waschmittel jetzt besser sein soll als das andere. Das wurde nie erklärt.
Maximilian Schönherr: Klingt eigentlich nach jemandem, der etwas verteidigen möchte und Teil des Systems war, sich damit identifiziert hat. Und es wirkt bizarr, dass der oder die dann bespitzelt wurde.
Anne Pfautsch: Nee, ich glaube nicht, dass es das heißt. Ich glaube, diese Schlussfolgerung die Sie da ziehen, ist vielleicht zu verkürzt. Weil ich glaube, das was ich mit meiner Forschung begreife, ist das was mit der Wende passiert ist: dass die gesamte DDR mit allem weg war. Also es wurde nicht gewollt, dass da eine Erinnerung oder etwas Gutes oder irgendwas zurückbleibt. Und ich glaube, dass das sehr schwer sein muss, also ich stelle mir vor, dass das unfassbar schwer sein muss; wenn man 40 Jahre lang in einem Land gewohnt hat und plötzlich ist alles, was man erlernt hat, alle Regeln, Normen, Kultur – alles ist plötzlich weg. Und man darf dieses erlernte Wertesystem auch nicht mehr anwenden. Ich glaube, das ist ein Grund, mit dem man vielleicht Ostalgie erklären möchte. Also, so habe ich mir zumindest immer meine Oma vorgestellt, weil positiv wurde über die DDR bei uns überhaupt gar nicht geredet.
Maximilian Schönherr: Auch von der Oma nicht, die die Lebensmittel umgeräumt hat?
Anne Pfautsch: Never. Nee. Nee, nee.
Maximilian Schönherr: Das ist irgendwie bizarr, oder?
Anne Pfautsch: Das ist total bizarr! Deswegen glaube ich, dass es eher wirklich so ein kulturelles Normen- und Wertesystem war, was sie da irgendwie versucht hat zu verteidigen. Das der Rotkäppchen-Sekt vielleicht nicht unbedingt der bessere Sekt ist, aber der schmeckt auch und den kann man auch weiter trinken.
Maximilian Schönherr: Sie haben vorhin gesagt: in der Familie gab es auch Täter. Wer?
Anne Pfautsch: Ich glaube - [flüstert: oh Gott, das darf ich gar nicht] - der Cousin.
Maximilian Schönherr: Von irgendwem in der Familie. Sie müssen das nicht spezifizieren, aber ein Cousin.
Anne Pfautsch: Ja, der Cousin.
Maximilian Schönherr: Aha. Das wissen Sie oder das denken Sie?
Anne Pfautsch: Ich weiß gar nichts! Ich spekuliere. Das wird zumindest immer erzählt.
Maximilian Schönherr: Und das würde in der Akte stehen.
Anne Pfautsch: So fern es ist nicht geschwärzt ist, hoffe ich, dass es drin steht. Ja. Aber ich war wie gesagt zu jung, um das irgendwie zu verstehen.
Maximilian Schönherr: Gut, aber woher wissen Sie davon, dass es der sein könnte?
Anne Pfautsch: Das wurde immer erzählt.
Maximilian Schönherr: Also wurde doch etwas erzählt?
Anne Pfautsch: Ja, natürlich. Na klar, es wurde etwas erzählt.
Maximilian Schönherr: Wie wurde der bezeichnet? Als "Spitzel" oder "der ist ein IM, dem können wir nicht trauen" oder wie war das?
Anne Pfautsch: Er wurde tatsächlich immer beim Nachnamen genannt. Das ist glaube ich schon sehr bezeichnend.
Maximilian Schönherr: Verdächtig!
Anne Pfautsch: Und eigentlich wurde aber immer gar nicht über ihn geredet, es wurde immer abgewunken mit "Ach, der!". Irgendwann hab ich mal gefragt, was mit dem sei und dann wurde nur gesagt: "Ja, der. Da brauch man sich ja nicht wundern!"
Maximilian Schönherr: [schmunzelnd] Sehr verkürzt.
Anne Pfautsch: Und dann gab es noch irgendwie zwei Sätze dazu und dann war das so ein "friss oder stirb".
Maximilian Schönherr: Das war jetzt ein Satz von Ihrer Oma, dem Opa oder..?
Anne Pfautsch: Das war ein Satz von meiner Oma.
Maximilian Schönherr: Ah. Und Ihre Mutter? Wie redet die darüber?
Anne Pfautsch: Gar nicht. Na ja, weil ich glaube, dass diese Bespitzelungen, die stattgefunden haben in meiner Familie, nicht die Kinder betraf sondern die Eltern.
Maximilian Schönherr: Also Ihre Mutter?
Anne Pfautsch: Nee, meine Großmutter und nicht meine Mutter und ihre Geschwister. Und ich glaube, meine Tante hat dazu noch eine Meinung, weil sie halt sehr viel älter ist als meine Mutter. Nämlich genau die gleiche: abwinken und "darüber redet man nicht". Aber ich hab meine Mutter darüber nie reden hören, ja.
Maximilian Schönherr: Wenn Sie diese Akten in ungefähr zwei Jahren dann lesen können, was erwarten Sie sich davon? Haben Sie dann Angst davor, wenn der Tag kommt und jetzt können Sie hier in die Karl-Liebknecht-Straße gehen und sie lesen?
Anne Pfautsch: Ach, nicht hier? Ich dachte hier.
Maximilian Schönherr: Nee.
Anne Pfautsch: Nee? In der Karl-Liebknecht-Straße. Ah, das stimmt gar nicht! Ich werde sie in Halle lesen.
Maximilian Schönherr: In der Außenstelle.
Anne Pfautsch: Genau, ich dachte, das ist irgendwie passend, weil ich aus Halle komme und da die Akten auch sein werden. Auch weil ich meiner Mutter die Chance geben wollte. Für den Fall, dass sie in zwei Jahren ihre Meinung geändert haben sollte, sie gerne mitkommen darf.
Maximilian Schönherr: Darf sie das? Ist das möglich, jemanden mitzunehmen?
Anne Pfautsch: Weiß ich nicht. Aber ich hoffe.
Maximilian Schönherr: Ich glaube nicht.
Anne Pfautsch: Ah! Ich dachte vielleicht als Tochter.
Maximilian Schönherr: Nee.
Anne Pfautsch: Nee? Alles klar. Gut, dann wohl nicht. [lacht]
Maximilian Schönherr: Nee, also ich glaube nicht.
Anne Pfautsch: Okay. Ich dachte nur, weil meine Großeltern die Akte meines Opas zusammen gelesen haben, dass es möglich ist.
Maximilian Schönherr: Das waren noch andere Zeiten, 1990. Ich kann das jetzt nicht definitiv sagen, aber das ist meine Erfahrung: mein Personalausweis, ich lese diese Akte und niemand anderes.
Anne Pfautsch: Okay. Tja, warum liest man sowas? Das Hoffen darauf, dass man Antworten auf Fragen findet. Es ist wahrscheinlich illusorisch.
Maximilian Schönherr: Das glaube ich nicht, weil da wahrscheinlich ja sehr viel drin steht. Wenn Ihr Opa schon schockiert war über die Akte, dann wird ja einiges aufgeklärt. Dann werden Sie plötzlich in der Verwandtschaft nämlich rumgucken und merken, was da für Indiskretionen - Liebesbeziehungen außerhalb der Ehe und solche Dinge kommen ja dann vor -, politische Nicht-Stromlinienförmigkeit und so weiter. Das kommt alles raus. Und diese Anschwärzung, die sie bisher auch nur vermuten, wird da auch klar.
Anne Pfautsch: Ich hoffe, dass ich ein Stück mehr Dunkelheit in diese obskure Familiengeschichte bringen kann.
Maximilian Schönherr: Dunkelheit?
Anne Pfautsch: Ein bisschen Licht ins Dunkel! Das wollte ich sagen. Dass ich vielleicht für mich Fragen nach Herkunft und warum ich so bin, wie ich bin, beantworten kann. Im wirklich aller, allerbesten Falle hoffe ich, dass das, was ich da lese, mir die Möglichkeit gibt, mit meiner Familie in den Dialog zu treten. Ich glaube, das ist wahrscheinlich eher illusorisch.
Maximilian Schönherr: Ihre Mutter wird da nicht drüber reden wollen, oder? Warum sollte sich das ändern?
Anne Pfautsch: Na ja, weil wir ja alle älter und weiser werden und so, ne? Dass man gemeinsam sich quasi auf diese Spurensuche nach diesen Menschen begibt.
Maximilian Schönherr: Sie sind allein auf der Spurensuche, habe ich die Befürchtung. Sie haben den Antrag gestellt, nicht Ihr Bruder mit Ihnen zusammen. Gibt es die anderen Großeltern noch?
Anne Pfautsch: Meinen Großvater väterlicherseits gibt es noch, ja.
Maximilian Schönherr: Und was sagt der zu der ganzen Lage? Auch aus Halle, oder?
Anne Pfautsch: Drum herum. Mit dem habe ich darüber gar nicht geredet. Das liegt daran, dass – sagen wir mal so – meinen Großvater gerade andere Sachen beschäftigen als die Stasi-Vergangenheit.
Maximilian Schönherr: Abschließend. Die wissenschaftliche Arbeit hat Sie darauf gebracht, dass es dieses Archiv gibt und Sie haben jetzt heute einen – wie nennt sich das eigentlich? Wie heißt dieser Antrag?
Anne Pfautsch: Antrag auf Einsicht der Stasi-Unterlagen.
Maximilian Schönherr: Gut. Haben Sie gestellt, man hat Ihnen unten gesagt es ist jetzt alles in Ordnung oder noch nicht?
Anne Pfautsch: Ich glaube, jetzt ist alles in Ordnung. Was hatte er gesagt? Das geht morgen an die Karl-Liebknecht-Straße.
Maximilian Schönherr: Und dann bekommen Sie innerhalb von einer Woche einen Bescheid, dass es ankam.
Anne Pfautsch: Nein, sechs bis acht Wochen, dann kriege ich Bescheid, dass es eingegangen ist. Dann dauert es normaler Weise zwei Jahre, bis man Einsicht der Akten bekommt.
Maximilian Schönherr: Das Antragstellen ist nicht trivial, aber es wird unterstützt. Man sollte es tun.
Anne Pfautsch: Genau, ich glaub deswegen ist es irgendwie auch so wichtig, dass man das Gefühl hat als dann irgendwie 3. Generation Ost, ist diese Möglichkeit, so eine Akte zu lesen und was über die eigene Familie zu lernen einfach wahnsinnig wichtig. Und ich hoffe, dass das BStU jetzt entscheidet, dass ich diese Akten lesen darf.
Maximilian Schönherr: Vielen Dank Anne Pfautsch.
Anne Pfautsch: Vielen Dank. Danke.
Maximilian Schönherr: Und nun gehen wir zu Elke Steinbach. Sie wird uns einen O-Ton aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv präsentieren.
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich als Dokumentarin um die Audiohinterlassenschaft des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Heute hören wir einen Ausschnitt aus einer Rede von Erich Mielke, seit 1957 Minister für Staatssicherheit, die er vor einem ausgewählten Kreis von Soldatengruppen und Zugführern hält. Vor den Soldatengruppen und Zugführern, also jungen Männern, äußert er sich über die Anforderungen oder Kriterien der Partnerwahl. Wir hören einen ungefähr zweieinhalb minütigen Ausschnitt aus diesem Tonband.
[Erich Mielke:] Es liegt im Interesse des Einzelnen, der Sicherheit unseres Organ, dass alle angewiesenen Maßnahmen bezüglich der Kontakte und des Eingehens von Beziehungen bis hin zur [betont: Partnerwahl] – komm' wieder zurück auf diese Frage, Genossen – gewissenhaft durchgeführt werden. Auch wenn das für manche mitunter mit bestimmten Härten und Schwierigkeiten verbunden zu sein scheint. Mit denen er glaubt, nicht fertig werden zu können. Die Mehrzahl von euch ist in dem Alter, in dem sich ein junger Mann normalerweise die Frau für’s Leben sucht und nicht immer ist es so, dass die Liebe auf den ersten Blick auch die Richtje [Richtige] für einen jungen Jenossen [Genossen] und Tschekisten ist. Wenn nich' - der Kopp [Kopf] denkt manchma an was anders, nich' wahr? Manch einer hat sich schon über Hals- - schon Hals über Kopf in ein Mädchen verliebt und [betont: erst dann] bemerkt, dass sie gar nich' zu ihm passt. Dass sie seine politischen Ansichten nicht teilt. Dass sie oder ihre Anjehörijen [Angehörigen] Westverbindung haben, die er sich mit anheiraten würde - aber Int’resse der Sicherheit des Regiments nich' darf! Die notwendje [notwendige] Trennung von einem solchen Mädchen wirft selbstverständlich Probleme auf und wir müssen dem Betreffenden helfen, über derartje [derartige] komplizierte Situationen wegzukommen. Dabei gilt es auch an diese Frage immer klassenmäßig heranzujehen [heranzugehen]. Wenn ich mich entschieden habe, als Anjehörjer [Angehöriger] des Wachregiments meinen Dienst zu verrichten, als Tschekist für die Int’ressen der Arbeiterklasse und für die Sache des Friedens und des Sozialismus zu kämpfen, dann muss ich ein’n Partner zur Seite haben, der mich voll versteht, unterstützt und sich in diesen Kampf einreiht. So muss es- - so muss an diese Frage ranjegangen [herangegangen] werden und so sind alle Genossen zu erziehen.
[mysteriöse Musik]
[Outro]
Sprecher: Sie hörten
Sprecherin: 111km Akten
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs