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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ... ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Dagmar Hovestädt: Hallo und willkommen zur Folge 56. Mein Name ist Dagmar Hovestädt und ich leite die Abteilung Kommunikation und Wissen im Stasi-Unterlagen-Archiv im Bundesarchiv. Ich bin die eine Moderatorin des Podcasts.
Maximilian Schönherr: Und ich der andere Host. Maximilian Schönherr, Radiojournalist, intensiver Nutzer von Archiven und Gründer des Archivradios. Heute tauchen wir etwas tiefer in die deutsch-deutsche-Geschichte ein und begeben uns in eine kleine Großstadt am Rhein, die weit über vier Jahrzehnte lang die Hauptstadt der Bundesrepublik war, Bonn.
Dagmar Hovestädt: Um den Rahmen zu setzen, ist es ganz hilfreich, sich noch mal in die Zeit zurück zu begeben, in der die Teilung Deutschlands eine sich langsam etablierende Realität wurde, die dann auch vertraglich und völkerrechtlich zementiert war, und zwar Anfang der 1970er Jahre. Das westliche Deutschland, eingebettet in das westliche Bündnis, weigerte sich, die DDR unter sowjetischer Kontrolle als eigenen Staat anzuerkennen. Beiden Staatsgebilden blieb ein Beitritt zu den Vereinten Nationen, also zur UN, verwehrt. Mit der sogenannten neuen Ostpolitik des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt, der seit 1969 regierte, gelangten dann aber Weichenstellungen für ein neues Verhältnis.
Maximilian Schönherr: Im Dezember 1972, also von jetzt aus im Frühjahr 2022 betrachtet vor fast 50 Jahren, wurde der Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten unterzeichnet. Er trat im Jahr darauf, also 1973 in Kraft. Der Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik legte normale, gut nachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung fest. Die so vereinbarte friedliche Koexistenz beider deutscher Staaten ermöglichte im September 1973 dann, dass beide Staaten auch jeweils Mitglied der UN werden konnten.
Dagmar Hovestädt: Und damit sind wir schon fast bei dem Thema, das unser Gespräch bestimmen wird. Nach der Anerkennung durch die UN wollten beide Staaten auch jeweils diplomatische Vertretungen in dem anderen deutschen Staat etablieren. Da das Verhältnis der beiden Deutschlands aber kompliziert blieb und nicht wenige im Westen die Anerkennung der DDR als schmerzhaften Abschied oder gar Abkehr vom Ziel der Wiedervereinigung sahen, erhielten diese diplomatischen Vertretungen einen Sonderstatus. Sie hießen Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin und der DDR in Bonn, also schon in den jeweiligen beiden Hauptstädten. Sie wurden im Frühjahr 1974 eröffnet.
Maximilian Schönherr: Wir machen ja ein Archiv-Podcast, wo Dokumente und nicht Phantasien wichtig sind. Trotzdem gehen wir heute auf einen Roman ein. Du hast dich nämlich mit einer Romanautorin namens Annette Wieners unterhalten, die ihre Geschichte in den vier Monaten vor der Eröffnung der Ständigen Vertretung in Bonn, abgekürzt StäV, angesiedelt hat. Der Roman enthält zwar fiktive Personen, aber die Grundlagen sind Fakten. Die Stasi spielte in der Ständigen Vertretung, sage ich mal, eine massive Rolle und das Stasi-Unterlagen-Archiv lieferte unserer Autorin dazu Quellen. Ich selber hab nie über die Ständige Vertretung der DDR in Bonn nachgedacht. Ich wusste wahrscheinlich, dass es die gab, aber die Vertretung der BRD in Ostberlin war so präsent. In den 1980er Jahren versuchten DDR-Bürgerinnen und -Bürger dort vorgelassen zu werden und damit aus der DDR ausreisen zu dürfen. Es gab etliche Besetzungen, das hat viel für Schlagzeilen gesorgt. Im Westen, in Bonn dagegen war es eigentlich ein bisschen für Bonn typisch, ziemlich still.
Dagmar Hovestädt: Vielleicht auch, weil die Quellenlage also zu dieser StäV in Bonn nicht ganz so ideal ist. Die StäV in Bonn waren nämlich hauptsächlich durch Personal des MfS bestückt und hier war die HV A, also die Auslandsspionage der Stasi, zuständig. Und die durfte sich ja bekannterweise selbst auflösen und hat ergo auch die Dokumentation zu ihrem Wirken in der StäV gut verschwinden lassen. Allgemeine und grundlegende Dokumente lassen sich schon finden, aber Detaildokumente über das Wirken und die Aufgaben sind doch eher selten. 2013 hat der BStU, also der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, die Vorgängereinrichtung des Stasi-Unterlagen-Archivs, ein Gutachten veröffentlicht, das im Auftrag des Deutschen Bundestags erstellt wurde. Darin geht es darum aufzuklären, wie die Stasi den Deutschen Bundestag ausspioniert hat. Ein kleines Kapitel beschäftigt sich auch mit der StäV und es wird sehr deutlich, dass die quasi diplomatischen Gespräche, die beispielsweise Abgeordnete in der StäV führten, vielfach bei der Stasi als Informationen landeten. Aber für die Autorin Annette Wieners, die für ihren Roman recherchiert hat, war das so ziemlich das Einzige, was sie an Dokumenten bei uns dazu finden konnte. Aber sie hat noch ein zweites Thema, die Grafologie und dazu hat sie ein paar interessante Quellen, unter anderem aus deinen Veröffentlichungen zur Stasi im Archiv-Radio finden können. Erinnerst du dich an dieses Material?
Maximilian Schönherr: Daran erinnere ich mich gut. Die Vorträge, eigentlich die Vorlesungen in der Juristischen Hochschule, eine Art geheimer Hochschule in der DDR, die Stasi-Offiziere ausbilden wollte, diese Vorlesungen drehten sich oft um Grafologie und ich hatte eine solche Menge an O-Ton dazu, die wirklich schwer erträglich waren, weil da ging es also immer um Oberlängen und um Unterlängen und die Tiefen eines Charakters, wenn er beim "G" einen größeren Schwung hatte. Und so weiter. Ich bin damit quasi als Kind schon vertraut gewesen, weil mein Opa nicht nur im Kaffeesatz lesen ließ, sondern eben auch die Grafologie benutzte, um den Charakter von Kollegen einzuschätzen, zum Beispiel. Aber es ist nicht ganz zu vergleichen mit der Kaffeesatzleserei, es hat schon irgendeinen Sinn. Und für die DDR und speziell die Stasi hatte es einen großen Sinn, weil ich etliche Fälle kenne. Die waren jetzt im Archivradio in der Sache über die operative Psychologie nicht so wichtig, weil da ging es um die Vorbereitung. Aber das Eigentliche war dann, dass jemand behauptet, den man festgenommen hat, den man verdächtigt hat, zum Beispiel an die BBC einen Brief geschrieben zu haben, dass man dessen Handschrift versuchte zu erkennen, der hat natürlich, oder die, die Handschrift verstellt. Und trotzdem gab es, ähnlich wie bei Schreibmaschinen, immer die Möglichkeit nachzuvollziehen, es hat tatsächlich diese Person geschrieben oder eben nicht.
Dagmar Hovestädt: Also ich finde das ganz interessant gelungen, das als quasi so eine zweite Ebene für den Roman zu benutzen. Dass auch die Grafologie in den Händen einer Geheimpolizei zu einem Mittel wird, Leute, die man verdächtigt, auf der falschen Seite zu stehen, irgendwie einzunehmen und dass es aber auch eine bundesrepublikanische Entsprechung gab. Und dass das eine Methode war und eine Mode hatte, fand ich irgendwie super interessant.
Maximilian Schönherr: Wir sollten die Guillaume-Affäre noch erwähnen, die kurz angesprochen wird.
Dagmar Hovestädt: Diese Guillaume-Affäre, die interessanterweise zwei Wochen vor der Eröffnung der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn im Mai 1974 für einen Riesenskandal sorgte. Günter Guillaume war ein enger Berater des Bundeskanzlers Willy Brandt und gleichzeitig Spion der HV A, in den 1950er Jahren in den Westen eingeschleust und durch Zufall und Glück bis ins Kanzleramt vorgedrungen. Am 27. April 1974 wurde er festgenommen und seine Enttarnung führte zum Rücktritt des Kanzlers.
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Dagmar Hovestädt: Annette Wieners, vielleicht zum Einstieg gern die Frage danach, dass Sie uns mal kurz erklären: Wer sind Sie?
Annette Wieners: Ich bin eine Schriftstellerin und Journalistin aus Köln. Ich arbeite schon seit sehr vielen Jahren im aktuellen Bereich, in den Radionachrichten oder in aktuellen politischen Magazinen. Und seit noch mehr Jahren schreibe ich Erzählungen, Romane und habe festgestellt, dass im Laufe der Jahre beide Berufe doch mehr und mehr ineinandergreifen, sodass ich seit einiger Zeit angelangt bin in der Situation, Romane zu schreiben, die auf realen Ereignissen basieren, die ich vorher sehr umfangreich ausrecherchiere, um ein Geschehen zu entwickeln, das entweder so stattgefunden hat in der Wirklichkeit oder so stattgefunden haben könnte.
Dagmar Hovestädt: Und wir treffen uns, weil Sie einen neuen Roman veröffentlicht haben der siebte, habe ich gesehen, "Die Diplomatenallee". Es ist ja so eine Kombination aus einerseits einem wissenschaftlichen Gegenstand der Schriftenerkennung und einem historischen Ereignis.
Annette Wieners: Eigentlich war ich gerade mit der Grafologie, diesem Wissenschaftsgebiet, das Sie gerade angesprochen haben, beschäftigt. Also in den 60er und 70er Jahren war die Grafologie eine anerkannte Wissenschaft, sehr hoch angesehen, und es gab nahezu keinen Lebensbereich in Westdeutschland, in dem nicht Grafologen das Sagen hatten, also auch in den Personalabteilungen, bei der Lufthansa, bei der Bundeswehr und natürlich auch bis runter zu Psychologen oder Lebensberatern. Und als mir dann diese Menschen diese Geschichten aus der DDR schrieben, waren auch einige dabei, die entweder geflohen sind und dann im Rheinland gelebt haben oder die sonstige Verbindung, sage ich mal, aus dem Rheinland in die DDR hatten. Und da merkte ich, das dreht sich alles um dieselbe Zeitspanne, die 70er Jahre. Und dann habe ich angefangen, so ein bisschen zu recherchieren. Was war denn hier los? Was finde ich denn zum Thema DDR im Rheinland in den 1970er Jahren? Und eines Tages las ich, dass 100 Männer, Frauen und Kinder aus der DDR in Bonn gelebt haben. Und das hatte ich bis dahin nicht gewusst. Da war ich so fasziniert, weil sich vor meinem geistigen Auge sofort Geschichten abspielten. Wie war das möglich, dass die hier lebten? Wie sah denn deren Alltag aus als linientreue Sozialisten im Kapitalismus? Die wurden ja bestimmt von der Stasi überwacht, von ihren eigenen Leuten, aber auch vom bundesdeutschen Geheimdienst, und mussten aber trotzdem ein Alltagsleben führen, einkaufen gehen, zum Friseur gehen, zum Arzt gehen. Wie hat das funktioniert? Und dann merkte ich, das hat mich jetzt richtig gepackt, da konnte ich jetzt alles zusammenbringen, Grafologie, DDR Themen, dann auch noch angesiedelt hier im Rheinland. Und je mehr ich recherchierte, umso mehr bekam ich mit, wie wenig Material es darüber gibt. Und ich glaube, das ist so ein Punkt, an dem bin ich dann nicht mehr zu halten. Da weiß ich, so, da muss ich nachgraben und da muss ich noch mal intensiver bohren, um an die Fakten zu kommen, die ich mir wünsche.
Dagmar Hovestädt: Der Roman ist ja quasi in drei große Teile geteilt und das sind drei Monate im Frühjahr, Spätwinter, Frühjahr 1974. Das ist genau die Zeit, in der das entsteht, was Sie da beschreiben, nämlich der Umstand, warum 100 Menschen aus der DDR sozusagen in einer kleinen oder einer größeren Gruppe gemeinsam in die Bundesrepublik reisen. Vielleicht würden Sie mal ganz gern die Eckdaten, die historischen Eckdaten Ihres Romans da beschreiben. Was passiert im Frühjahr '74?
Annette Wieners: Im Frühjahr '74 gestatten sich beide deutsche Staaten, eine Ständige Vertretung in der jeweiligen Hauptstadt zu eröffnen. Also die BRD eröffnet eine Ständige Vertretung in Ostberlin und die Mitarbeiter dort können über die Grenze pendeln. Das heißt, die wohnen im Westen und fahren über die Grenze zur Arbeit und abends wieder zurück, die meisten zumindest. Und die DDR eröffnet ihre Ständige Vertretung in Bonn. Und das ist so weit entfernt, dass natürlich nicht gependelt werden kann. Das heißt, die Menschen müssen hier wohnen, aber sie werden keine westdeutschen Bürger, sondern sie vertreten ihren Staat in der Bundeshauptstadt.
Dagmar Hovestädt: Man muss vielleicht noch erklären, warum das nicht eine einfache diplomatische Vertretung ist, sondern "Ständige Vertretung" heißt.
Annette Wieners: Ja, das war eine ganz heikle Frage damals. Darf die DDR ein Staat genannt werden, ein eigener Staat, oder ist das ein besetzter Teil Deutschlands? Und die Bundesrepublik hat sich geweigert, den Staat anzuerkennen und die DDR wollte das natürlich. Und dann war es, ich denke mal, gedacht, als Zwischenschritt jetzt aus DDR-Sicht, dass man sich drauf einlässt. Wir schicken aus unserer Sicht Diplomaten und wir nennen es aber dann nicht Botschaft, sondern Ständige Vertretung. Und wenn das alles gut läuft, dann können wir vielleicht den letzten Schritt auch noch gehen. Denn so Anfang der 70er Jahre war die Phase, in der die DDR viele Botschaften eröffnet hat und von vielen Staaten anerkannt wurde. Das Hauptanliegen, nämlich auch von der Bundesrepublik anerkannt zu werden, das war natürlich eine harte Nuss.
Dagmar Hovestädt: Da sind wir mittendrin in dieser deutsch-deutschen-Geschichte und dem Tanz, dass man wieder zusammenkommen wollte, aber der andere Teil sich sozusagen wirklich etablieren wollte als zweites eigenes, als eigenen deutschen Staat. Und diese Gemengelage, die sozusagen Etablierung der Ständigen Vertretung in den beiden Hauptstädten, ist der historische Rahmen für den Roman. Und da könnte man natürlich denken, Diplomaten hat nicht so viel mit Stasi zu tun und trotzdem war es für sie interessant im Stasi-Unterlagen-Archiv anzufragen und nach Unterlagen zu schauen.
Annette Wieners: Ich habe zunächst nicht gewusst, in welchem Ausmaß die Stasi an der Ständigen Vertretung in Bonn beteiligt war oder da mitgemischt hat. Und ich bin ja auch keine Historikerin, sondern einfach von einer chronischen Neugier geplagt. Das heißt, ich habe überall nachgefragt, wo es denn etwas geben könnte. Bei Journalistenkollegen, die damals in der Bundeshauptstadt gearbeitet haben, in Archiven und natürlich auch im Stasi-Unterlagen-Archiv. Denn ich hatte eine Untersuchung gefunden, die aus dem Jahr 2013 stammt, die also neun Jahre alt ist, wo das Stasi-Unterlagen-Archiv ein Gutachten erstellt hat über die Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit im Deutschen Bundestag. Und da wurde schon festgehalten, dass die Ständige Vertretung da eine Rolle gespielt hat, dass sie praktisch einen legalen Mantel genutzt hat, nämlich ihre, ich sag jetzt einfach mal, diplomatische Funktion, aber hinter den Kulissen noch was ganz anderes betrieben hat. Diese Untersuchung kommt zu dem Entschluss, dass es eine Vermischung war von offiziellen und inoffiziellen Tätigkeiten. Und da war es ja für mich ganz logisch, im Stasi-Unterlagen-Archiv Anträge zu stellen.
Dagmar Hovestädt: Das kann ich ja gern noch mal ergänzen. Das war tatsächlich eine Expertise, die wir im Auftrag des Bundestages angefertigt haben. Die heißt "Der Deutsche Bundestag 1949 bis 1989 in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit" und das war sozusagen eine ganz wichtige, grundlegende Arbeit, um den Einfluss der Stasi im deutschen Parlament einfach mal grundlegend festzuschreiben. Und da gibt es ein kleines Kapitel. Das sagt, viele Informationen oder nicht unwesentliche Informationen über das Wirken des Parlaments, der Politiker, der Mitglieder des Bundestages sind tatsächlich über diese StäV, die Ständige Vertretung in Bonn, gekommen. Und das war für sie ein Ansatzpunkt. Aber da gibt es vielleicht ein kleines Problem, wenn man nach Unterlagen sucht, die mit der Auslandsspionage zu tun haben und in dem Sinne war die Bundesrepublik das Ausland für die DDR. Da wird man nicht so richtig fündig bei uns. Richtig?
Annette Wieners: Das stimmt. Die HV A, die zuständige Abteilung im Ministerium für Staatssicherheit, durfte sich ja 1990 selbst auflösen und hat alle möglichen Akten, die habhaft, die greifbar waren, vernichtet. Das heißt, man findet keine offiziellen Dokumente. Oder sage ich mal, man findet nur wenig Dokumente und offensichtlich überhaupt keine über das Personal, das da gearbeitet hat und über Personen, die in Westdeutschland mit der Ständigen Vertretung in Verbindung standen, um für die Stasi zu arbeiten. Also das ist sehr unergiebig, sage ich mal so.
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Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
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Dagmar Hovestädt: Hatten Sie auch versucht in dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes zu recherchieren?
Annette Wieners: Ich habe da nur oberflächlich angefangen zu recherchieren, weil ich merkte, dass die Fragen, die mich bewegten, als Journalistin, aber auch als Schriftstellerin, denn ich hatte ja vor, diesen Roman zu schreiben, dass ich die gar nicht in Archiven finden werde. Denn für mich gehört dazu, mir das Leben dieser Person auch vorstellen zu können. Und das geht über offizielle Gesprächsprotokolle hinaus oder Beschlüsse, die gefasst werden oder auch über, wenn es das geben würde, Telefonnotizen von abgehörten Telefonaten zum Beispiel. Ich wollte wissen, wie haben sich denn diese Menschen gefühlt und welches Ausmaß hatte das hier in Bonn. Und bin zunächst ja auch wie diese Untersuchung von 2013 davon ausgegangen, dass es einen Teil gab in der Ständigen Vertretung, der für die Stasi gearbeitet hat, und dass es einen anderen Teil gab, der im diplomatischen Auftrag in der Bundesrepublik war. Und so bin ich daran gegangen und habe schnell gemerkt: Ich muss mit Personen sprechen, die damals dabei waren, um hinter die Kulissen blicken zu können. Und da habe ich mich zunächst an Menschen gewendet, die sich schon einmal mit diesem Thema befasst haben. Und ja, es war niemandem gelungen, sage ich mal, solche Leute ausfindig zu machen oder solche Leute zu sprechen. Wenn man welche gefunden hat, haben die gemauert. Also niemand wollte Auskunft geben. Dann hatte ich noch ein einschneidendes Erlebnis am Gebäude der Ständigen Vertretung selbst in Bonn, an der heutigen Godesberger Allee. Die gehört zu den Wegen der Demokratie vom Haus der Geschichte, auch eine Einrichtung der Bundesrepublik Deutschland, die an die Zeit auch erinnert, in der Bonn Bundeshauptstadt war. An diesem Gebäude hängt ein Schild oder hing ein Schild, auf dem stand: "Hier war die Ständige Vertretung der DDR in Bonn von 1978 bis 1990". Und ich dachte mir: Verdammt, diese Ständige Vertretung ist ja 1974 eröffnet worden, nicht '78. Wo war die denn in diesen vier Jahren? Und habe viel Zeit darauf verwendet, hinter dieses Geheimnis zu kommen. Es ist mir nicht gelungen. Schließlich habe ich vom Haus der Geschichte die Information bekommen, dass da wohl ein Fehler vorliegt und dass das Schild falsch ist, dass es tatsächlich heißen muss von 1974 bis 1990. Und so was kann natürlich immer passieren. Aber mir war klar, dass alle Journalisten, Archivare und sonstigen Menschen, die ich gesprochen hatte bis zu diesem Zeitpunkt und die über die Ständige Vertretung berichtet hatten, Feature geschrieben hatten, Artikel geschrieben hatten, dass denen das allen nicht aufgefallen war, dieses große Schild und dass das falsche Jahresangaben hatte. Und da habe ich irgendwie gespürt, es handelt sich um ein vollkommen vernachlässigtes Thema, wo nicht so genau hingeguckt wird. Es werden, sage ich mal, spektakuläre Informationen benutzt, die dann immer weitergetragen werden. Aber es wird gar nicht mehr in die Tiefe gebohrt. Man hat das irgendwie abgehakt. Und heute hängt da das richtige Schild. Es ist ein Ergebnis meiner Recherche. Das ist ganz schön. Und ja, ich bin damals dazu übergegangen, mich von diesen offiziellen Archiv-Unterlagen abzuwenden - wobei der Antrag beim Stasi-Unterlagen-Archiv natürlich weiter lief -, und mich auf die Suche nach den Personen zu machen, die in der ständigen Vertretung gearbeitet haben und dort auch gelebt haben in diesen Wohnkomplexen, zu denen die zusammengefasst waren.
Dagmar Hovestädt: Wie findet man denn dann Leute, die vor 30, 40, fast schon 50 Jahren in Bonn gelebt haben und dort diesen Alltag der Ständigen Vertretung, diese kleine Insel DDR mitten in der Bundesrepublik gelebt haben?
Annette Wieners: Übers Internet, das war meine ergiebigste Quelle, und ich wusste ja, dass einige der Mitarbeiter aus der Ständigen Vertretung ihre Kinder mitgebracht haben. Und die mussten also heute so um die 50 sein, zum Beispiel. Und, ja, ich habe einfach verschiedene Quellen im Internet erschlossen. Ich dachte mir, wer so ein ungewöhnliches Leben geführt hat, auch ein privilegiertes Leben sicherlich, der wird sich im Erwachsenenleben vielleicht auch nicht komplett aus der Öffentlichkeit zurückziehen und hier und da mal einen Kommentar oder eine Bewertung hinterlassen. Ich will das jetzt nicht, also will meine Recherchewege jetzt nicht komplett offenlegen, aber ich bin vor allen Dingen an einige der ehemaligen Kinder aus der Ständigen Vertretung gekommen und habe, nachdem ich abgeklärt habe, dass die Identitäten stimmten, habe die einfach angeschrieben und später mit denen telefoniert und Interviews geführt und mir alles erzählen lassen, was ich wissen wollte und was die bereit waren zu sagen.
Dagmar Hovestädt: Und die waren bereit zu erzählen? Also das sind ja dann Erinnerungen, die vielleicht auch ein bisschen überformt sind, aber gab es Erinnerungen an das Leben in dieser Ständigen Vertretung in Bonn?
Annette Wieners: Aber auf jeden Fall! Es gab sehr viele Erinnerungen. Das waren ganz besondere Jahre für diese Personen. Aber natürlich wollten nicht alle reden, denn wie sich sehr schnell herausgestellt hat, ist es nicht so gewesen, dass ein Teil der Mitarbeitenden in der Ständigen Vertretung bei der Stasi war und die anderen waren in einem unantastbaren politischen Auftrag als Diplomaten da, sondern [betont: alle] waren vom Ministerium für Staatssicherheit geschickt worden, um in Bonn Informationen zu sammeln oder überhaupt in der Bundesrepublik Informationen zu sammeln, denn von der Ständigen Vertretung aus wurde natürlich auch durch die Gegend gereist und wurden Aufträge an anderen Orten erfüllt. Und ja, nicht alle wollten über ihre Eltern und über die Erlebnisse, die sie als Kinder hatten, reden. Aber einige schon, denn - das war auch sehr interessant und auch sehr motivierend für mich - die hatten den Impuls: Es muss doch auch mal darüber geredet werden. Also, die vermissten das richtig in der Aufarbeitung der deutsch-deutschen Geschichte, dass über diese Aktivitäten und über diese Jahre in Bonn so wenig zu finden ist und so wenig geschrieben wird. Ich konnte jetzt - in Anführungszeichen - "nur" einen Roman anbieten, aber die waren tatsächlich sehr kooperativ und sehr aufgeschlossen, dann auch mit mir zu reden.
Dagmar Hovestädt: Das heißt, die Kinder haben sich tatsächlich daran erinnert, dass die Eltern so eine Art Spionageaufträge ausgeführt haben?
Annette Wieners: Ja. Die haben das zum Teil natürlich erst im Rückblick einsortieren können, was da los war. Also, es waren Kinder in Bonn im Grundschulalter. Im Hinterhof der Ständigen Vertretung war eine kleine Schule eingerichtet, die der DDR gehörte. Die Kinder sollten nicht in Bonn auf normale Schulen gehen, wie zum Beispiel die Kinder der russischen Botschafter, sondern Margot Honecker hatte verfügt: "Nein, unsere Kinder haben keinen Kontakt zu Westkindern. Im Hinterhof machen wir diese kleine Schule auf." Und im Grundschulalter, glaube ich, kriegt man schon sehr viel mit. Die haben natürlich auch gemerkt, dass sie ein besonderes Leben führen, weil die Eltern in der Zeit in Bonn ständig an ihrer Seite waren - entweder die Eltern oder andere Erwachsene. Wenn die draußen auf der Straße gespielt haben, dann standen rechts und links an der Straße Erwachsene, um aufzupassen, dass keine Bonner Einwohner in diese Straße einbiegen, dass es also zu keinen Kontakten kommt. Sie waren ständig in Begleitung, ständig unter Beobachtung. Aber sie haben später gesagt, sie haben es als schön empfunden, als einen ganz großen Zusammenhalt einer tollen Gemeinschaft. Und dann durften sie reisen: nach Hamburg, nach München, nach Österreich. Das wäre ja vorher gar nicht möglich gewesen zu DDR-Zeiten und ist ihnen auch später, als sie wieder in der DDR waren, nicht möglich gewesen. Und dann gab es Fälle, wo die Eltern dieser Kinder später noch mal nach Bonn mussten. Also, denen war vom Ministerium für Staatssicherheit zugesichert worden, dass sie nur ein Mal dorthin müssen für vier Jahre. Aber dieses Versprechen wurde sehr oft nicht gehalten und die Eltern wurden, wenn sie in den 70er-Jahren da waren, in den 80er-Jahren noch mal nach Bonn geschickt und die Kinder mussten dann zu Hause bleiben, weil sie nicht mehr im Grundschulalter waren. Das waren doch sehr einschneidende Phasen im Leben dieser Personen und selbstverständlich können die sich daran sehr gut erinnern. Und als die älter waren, wussten die auch genau, was ihre Eltern in Bonn machten. Sie hatten auch Auflagen, wie sie mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern in der DDR darüber sprechen durften, nämlich gar nicht, und auch über das, was sie hier als Grundschulkinder in Bonn erlebt hatten, dass sie darüber möglichst nichts erzählen. Also, diese besonderen Lebensumstände waren denen immer präsent, nicht immer negativ, sondern - ich sage mal - je kleiner sie waren, umso positiver haben sie das empfunden.
Dagmar Hovestädt: Und trotzdem waren sie ja eingebunden in so eine Art Geheimnis, das ja immer anstrengend ist zu bewahren und was das Ganze immer auch ein bisschen überzieht. Jetzt bildet Ihr Roman ja etwas ab, was nicht nur damit zu tun hat, das Binnenleben dieser kleinen DDR-Gemeinschaft in Bonn zu erleuchten, sondern eigentlich geht es ja auch darum, wie stark sich das mit dem bundesrepublikanischen Umfeld verwoben hat. Haben denn die Kinder oder auch Ihre Zeitzeugen sich daran erinnern können oder wie sind Sie darauf gestoßen, dass es durchaus auch intensivere Zusammenarbeit gegeben hat beziehungsweise - das muss man ja so sagen - auch Spionage durch West-Bürger für die DDR?
Annette Wieners: Ich habe ja viele Fragen nach dem Alltag gestellt. Und da kamen bei den meisten Personen Erinnerungen an Abende, wo Partys gefeiert wurden in den Wohnungen, wo Gäste eingeladen wurden aus Westdeutschland, aus dem Bundestag - das sagte mir eine Person ganz konkret -, und da ging es dann hoch her. Die Kinder von den verschiedenen Familien wurden dann zusammengefasst und schliefen in einem oder zwei Räumen und in den anderen Räumen feierten die Erwachsenen. Da waren regelmäßig westdeutsche Abgeordnete dabei. Da diese Erinnerungen und übereinstimmenden Beschreibungen aus verschiedenen Quellen kamen - ich war aber auch vorsichtig: Was ist abgesprochen, was nicht? -, aber ich hielt das dann für durchaus glaubwürdig, da es ähnliche Schilderungen rund um die Villa des Chefs der Ständigen Vertretung gibt. Die stand nämlich nicht in Bonn selbst, sondern in einem kleinen Ort vor den Toren, in Bornheim. In Bornheim bemühte sich der Chef der Ständigen Vertretung - oder der jeweilige Chef - um eine Anbindung an die Bevölkerung dort, vor allem im Karneval. Man erzählt sich in Bornheim noch heute, dass auch dort kräftig gefeiert wurde mit viel Alkohol, dass aber die Menschen aus der DDR offensichtlich was anderes getrunken hatten, aber die Westdeutschen, die Bornheimer, lagen morgens regelmäßig betrunken in den Vorgärten. Also, es muss sehr heftig zugegangen sein und das deckte sich einfach mit den Schilderungen aus der Stadt, aus der Ständigen Vertretung. Ich halte das für sehr plausibel.
Dagmar Hovestädt: Die Expertise des Deutschen Bundestages belegt das ja auch, dass eine bestimmte Art von Informationslieferung regelmäßig aus der StäV kam, die sich sogar einzelnen Abgeordneten zuordnen lässt. Das heißt nun nicht, dass die unbedingt aktiv, wissentlich und willentlich der DDR zugeliefert haben, sondern dass sie einfach abgeschöpft - also abgehört - wurden, ohne zu wissen, wem sie da Informationen anvertrauen. Man ist da vielleicht auch mit einer gewissen Blauäugigkeit an eine Ständige Vertretung im Sinne einer diplomatischen Vertretung herangetreten und dachte, das ist alles ein geschützter Raum und das wird wie üblich in diplomatischen Zirkeln bleiben und nicht weitergetragen werden. Und das war an der Stelle sehr offenkundig nicht so.
Annette Wieners: Ja, auf jeden Fall. Ich denke auch nicht, dass denen klar war, was da passiert auf den Partys. Die fanden das vielleicht auch spannend und da gab es dann lecker zu trinken. Aber man muss sich ja überlegen: Wie ist das denn heute? Nicht alle von denen werden inzwischen gestorben sein, sondern heute hat man eine andere Sicht darauf und ich denke mal, es wird einige geben, die nicht gerne darüber sprechen möchten, dass sie in den 70er-/80er-Jahren mit den Mitarbeitenden der Ständigen Vertretung gesoffen haben und geplaudert haben und gefeiert haben, und sich vielleicht gar nicht genau daran erinnern, wie das alles gelaufen ist. Also, für mich schloss sich da so ein bisschen der Kreis, warum so ungern darüber geredet wird: über diese Zeit in Bonn und über diese Einrichtung und über die Geschehnisse da im offiziellen Bereich, aber auch im privaten Bereich.
Dagmar Hovestädt: Jetzt haben Sie in Ihrem Buch, in dem Roman, das Ganze ja noch miteinander verquickt: das, was in Bonn, im Westen, ist, wenn die DDR-Gruppe kommt, über einen Schreibwarenladen und das Thema Grafologie. Wie haben Sie das denn eigentlich auch erkannt als etwas, das für die Stasi eine wichtige Bedeutung hat?
Annette Wieners: Na, über die Stasi-Unterlagen-Behörde beziehungsweise Ihren Podcast. Da gibt es ja eine Folge über die operative Psychologie. Ganz interessante Töne, ein Mitschnitt einer Schulung oder einer Anweisung von Stasi-Mitarbeitern zum Thema Grafologie. Das ist vom SWR, vom Archivradio, ausgestrahlt worden - in Ihrer Podcast-Folge nicht in dieser Ausführlichkeit, aber die Töne stammen aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv - und da beschäftigt sich der Experte, der Grafologe, mit Fragestellungen wie: Können wir auch den Charakter einer Person aus der Handschrift erkennen, wenn sie armamputiert ist oder wenn sie mit dem Fuß schreibt? Also, es wird dieser Frage nachgegangen: Wie viel können wir denn aus einer Handschrift abschöpfen? Und wenn ich geforscht habe in der Geschichte der Grafologie zu dieser Zeit, kam ich immer zu dem Ergebnis, dass in Westdeutschland die Grafologie im Alltagsleben eine große Rolle spielte, aber in der DDR der Stasi vorbehalten war. Also, das war eine Methode, die die Stasi angewendet hat, die aber in dem Alltagsleben oder in der Bevölkerung nicht so weit verbreitet war wie in Westdeutschland. Na ja, und dieser O-Ton oder dieser Ausschnitt aus der Schulung hat mich auch förmlich elektrisiert, weil man da hören kann, wie ernst diese Analyse der Handschrift genommen wird und welch große Bedeutung das hatte. Wenn man heute nachverfolgen würde: Wo war das Handy eingeloggt, welche Suchbegriffe hat jemand eingegeben?, also auf diese Weise digitale Metadaten sammeln würde - damals hat man das über die Handschrift erledigt. Man hat geguckt: Wie schreibt der den Anfangsbuchstaben, wie setzt der den i-Punkt, ist das "m" nach oben gewölbt oder nach unten? Man schloss von der Handschrift auf den Menschen und zweifelte auch keine Sekunde daran, dass das richtig ist.
Dagmar Hovestädt: Es ist sehr interessant, dass Sie feststellen, dass das in der Bundesrepublik durchaus eine Verbreitung hat bis hin in die Wirtschaft und Personalgewinnung und Analyse von Personen. Das muss sich ja irgendwann - mir ist das nicht so richtig erinnerlich - in den 80er-/90er-Jahren als eine doch nicht so sichere Methode zurückentwickelt haben. Der Stasi war es trotzdem lieb, die hielt daran fest?
Annette Wieners: Ja. Es gibt ja auch die Kollegin Susanne Schädlich, die diesen Bestand der Briefe, die an die BBC geschickt wurden aus der DDR, gesichert hat. In ihrem Buch kann man auch nachlesen, wie die Stasi diese Briefe analysiert hat, einfach um die Personen zu identifizieren, die aus der DDR diese Briefe losgeschickt hatten. Und es war eine ganz ernste und für manche Personen dann auch lebensgefährliche Methode, einen Charakter zu identifizieren, über Lügen oder Wahrheit zu entscheiden oder eben auch Personen festzustellen. Irgendwann hat sich das verloren, sodass man da nicht mehr so - "glauben" ist vielleicht der falsche Begriff -, sodass man sich darauf nicht mehr so verlassen hat, sondern dass man gemerkt hat: Nein, ein Mensch ist doch ein sehr vielschichtigeres Gebilde als dass man ihn über eine Handschrift komplett entschlüsseln kann. Da muss doch noch einiges dazukommen. Die Grafologie ist nicht vollkommen verschwunden, sondern heutzutage findet sie sich zum Beispiel noch in der Kriminalpsychologie wieder oder auch in der Früherkennung von Krankheiten. Aber dieses Allumfassende - "Ich erkenne dich, wenn du mir deine Handschrift zeigst." -, das gibt es heute nicht mehr, nein.
Dagmar Hovestädt: Sie haben da so ein schönes Zitat an der Stelle. Ich will ja nicht zu viel verraten von dem Roman, aber Sie haben den Professor, der da sozusagen die große Koryphäe in Bonn ist, sagen lassen: "Grafologie ist die Methode der Zukunft, der beste Weg zum Frieden, indem sie uns alle zwingt, ehrlich zueinander zu sein."
Annette Wieners: Man kann auch auf die Grafologie mit verschiedenen Brillen gucken. [belustigt] Dieser Professor im Roman stellt sich jedenfalls so dar, als ob er eigentlich im Grunde ja nur den großen Weltfrieden will: "Es wird gekämpft gegen den Nationalsozialismus, in der DDR ja auch, und wir wollen alle nur den großen Weltfrieden". Was dann hinter diesen Floskeln alles passiert, das kann man dann im Roman nachlesen [lacht].
Dagmar Hovestädt: Obwohl, ich finde das auch sehr gut, dass es Ihnen gelingt zu sagen, dass, wenn man das Wissen über einen Menschen instrumentalisiert, man sich dann sehr stark über die Menschen setzt und sie alle als manipulativ erlebt und sie sozusagen nur noch benutzt für bestimmte Dinge. Das verkörpert dieser Professor eigentlich auch ganz gut, indem er eben dieser Wissenschaft oder der Verlockung dieser Wissenschaft im Grunde genommen erliegt aus ideologischen Gründen.
Annette Wieners: Ja. Und es ist ja nicht nur die Stasi gewesen, die versucht hat, sich über die Menschen zu stellen, sie zu manipulieren und sie zu erpressen, indem sie bestimmte Dinge aus der Handschrift glaubte zu erkennen, sondern das passierte ja in der Bundesrepublik ganz genauso. Deshalb war es mir auch wichtig, im Roman die andere Seite mitspielen zu lassen - und nicht nur die Stasi, sondern auch den BND, der genauso daran interessiert war. Und so kam ich dann auch zu dieser Fragestellung: Wie funktionierte das denn eigentlich in Bonn? Die Stasi war also massiv vertreten in der Ständigen Vertretung, es war, nach Aussage meiner Informanten, jede einzelne Person bis hin zu der Krankenschwester, die da gearbeitet hat, vom Ministerium für Staatssicherheit ausgebildet und ausgesucht und gezielt nach Bonn geschickt worden. Und wie ist der BND denn an diese Leute rangekommen? Wie ist der denn mit diesen Leuten umgegangen? Denn im selben Frühjahr ist ja die Spionage-Affäre "Guillaume" gewesen und trotzdem ist die Ständige Vertretung eröffnet worden. Also, das war für mich faszinierend sich vorzustellen, was es da wohl für Missverständnisse oder auch naive Einschätzungen gegeben hat.
Dagmar Hovestädt: Sie haben den Roman jetzt "[Die] Diplomatenallee" genannt, aber die Adresse der Ständigen Vertretung war ja in der Godesberger Allee.
Annette Wieners: Ja, ich hätte ihn auch "Godesberger Allee" genannt, aber als die Ständige Vertretung eröffnete 1974, hieß das noch Kölner Straße. Dann gab es da eine Reform der Straßennamen in Bonn und dann wurde es zur heute bekannten Godesberger Allee. Von daher passte das nicht in das Jahr 1974. Aber im Volksmund sagte man sowieso nicht Kölner Straße oder Godesberger Allee. Das war entweder die "Diplomatenrennbahn" oder "Diplomatenallee". So hieß das damals, weil das die Bundesstraße, die Verbindungsstraße, war zwischen Bonn-Zentrum und Bad Godesberg. Und in Bad Godesberg standen die Villen der Botschafter und die vornehmen Häuser der höheren Abgeordneten. Morgens und abends, also jeweils im Feierabendverkehr, sah man dann die Diplomatenwagen rauf- und runterrauschen. Deshalb hieß das "Diplomatenallee" oder auch "Diplomatenrennbahn". Das ist natürlich ein sehr schöner plastischer Begriff, sodass der sich auch als Titel für den Roman eignete.
Dagmar Hovestädt: Haben Sie die Hoffnung, dass sich vielleicht jemand auch mal wissenschaftlich intensiver mit der Ständigen Vertretung beschäftigt?
Annette Wieners: Auf jeden Fall. Das wünsche ich mir und das wünschen sich einige der Menschen, die damals daran beteiligt waren. Das kann ich ganz sicher sagen. Ich weiß überhaupt nicht - ich habe ja jetzt hier einen Berg an Material: Was mache ich denn jetzt damit? Ich habe diesen Roman veröffentlicht, ich gehe auf Lesetour und werde bei den Lesungen Audiomaterial und Bildmaterial vorführen und so ein bisschen zu dem historischen Hintergrund erzählen, aber was passiert dann? Ich kann ja nicht zum Beispiel in das Stasi-Unterlagen-Archiv einspeisen und sagen: "Hier ist noch etwas Interessantes für euch." [lacht] Ich habe keine Ahnung. Aber ich hoffe, dass sich jemand meldet und entweder noch neue Erkenntnisse dazu beiträgt oder aber sagt: "Ich gehe da mal systematisch ran und arbeite das als Historiker auf." Ich glaube, das lohnt sich. Ich glaube, da kommt noch viel interessantes Material zutage, und es wäre einfach schön, wenn dieses Kapitel nicht so im Dämmerlicht bliebe.
Dagmar Hovestädt: Falls Ihnen jemand etwas in die Hand drücken sollte, was eine Originalunterlage ist, dann dürfen Sie sich gern bei uns melden, weil die gehört dann tatsächlich ins Stasi-Unterlagen-Archiv. Das wird nicht so wahrscheinlich sein, aber ich danke Ihnen für Ihre Zeit und dafür, dass Sie dieses Kapitel deutsch-deutscher Geschichte in dem Sinne neu entdeckt haben und wieder in die Öffentlichkeit bringen. Viel Erfolg damit!
Annette Wieners: Und ich bedanke mich für das Interesse. Vielen Dank! Es hat Spaß gemacht.
[Jingle]
Maximilian Schönherr: Das war die Buchautorin und Journalistin Annette Wieners. Ihr habt über ihre Recherchen zu ihrem Roman "[Die] Diplomatenallee" gesprochen, der im Umfeld der Eröffnung der Ständigen Vertretung der DDR in der Bundesrepublik in Bonn im Frühjahr 1974 angesiedelt ist.
Dagmar Hovestädt: Und kein Ende des Podcasts ohne eine akustische Begegnung mit dem riesigen Audiopool des Stasi-Unterlagen-Archivs, wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zu dem, was wir vorher besprochen haben.
[Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. "Schaufenster", "Erfolg", "Welthandel", "Industrie", "Rakete", "Offensive", "Perspektive" - so hießen MfS-Aktionen in den 1950er- und 1960er-Jahren zur politisch-operativen Sicherung und Durchführung der Frühjahrs- und Herbstmessen in Leipzig. Die Hauptabteilung XX war laut MfS-Handbuch - Zitat -: "... federführend auf dem Gebiet der Verhinderung beziehungsweise Aufdeckung und Bekämpfung politisch-ideologischer Diversion und politischer Untergrundtätigkeit." - Zitat Ende. Im Abschlussbericht zur Aktion "Weltspitze" zur Herbstmesse 1967 der Hauptabteilung XX spielen neben dem Kontaktverhalten westdeutscher Verlage und Firmen auch Kontakte in Kirchenkreisen eine Rolle. Wir hören dazu einen dreiminütigen Ausschnitt aus dem Diktat des Berichts.
[Archivton]
[männlicher Sprecher:] Während der Aktion "Weltspitze" wurden wiederum in fast allen kirchlichen Objekten gesamtdeutsche Treffen durchgeführt. Dabei traten die gleichen Schwerpunkte wie zur Frühjahrsmesse 1967 in Erscheinung. Absatz.
Durch operative Maßnahmen wurden zwo Studentengruppen bekannt, die an einem kirchlichen Vortrag in Leipzig teilnahmen. Es handelte sich dabei um Studenten der Universitäten Münster und München. Die Gruppe aus Münster umfasste circa 20 Personen. Ihre Reise wurde wiederum durch das Wehner-Ministerium finanziert. Absatz.
Ein für den 05.09.1967 von kirchlicher Seite geplantes Zusammentreffen führender kirchlicher Vertreter der DDR mit leitenden kirchlichen Personen aus Westdeutschland und West-Berlin wurde aus bisher unbekannten Gründen abgesagt. Absatz.
Diese Besprechungen sollten wiederum Fragen der Finanzierung kirchlicher Objekte der DDR durch die westdeutsche Kirche beinhalten. Absatz.
Das von den staatlichen Organen der DDR zur Herbstmesse 1967 ausgesprochene Verbot aller kirchlichen Messesonderveranstaltungen wurde durch die Kirchenleitungen ignoriert. Insgesamt fanden neun Sonderveranstaltungen statt, von denen die drei bedeutendsten waren: These - ein Vortrag des Pfarrers Krusche - ich buchstabiere: Konrad-Richard-Ulrich-Schule-Emil - vom Landeskirchenamt Dresden mit dem Thema - in Anführungsstrichen - "Notwendigkeit und Grenzen der Ideologien" - Ausführungsstriche, These - der Messe-Männerabend mit der Thematik - in Anführungsstrichen - "Welt und Kirche wandeln sich - was bleibt?" - Ausführungsstriche, These - ein sogenannter "Gottesdienst einmal anders" in der Markuskirche Leipzig mit der Bezeichnung - in Anführungsstrichen - "Tanz - Bindestrich - Orgel - Bindestrich - Wort - Ausführungsstriche".
In den genannten kirchlichen Veranstaltungen wurde das von staatlicher Seite ausgesprochene Verbot nicht erwähnt. Ebenfalls wurden offene Provokationen vermieden. In den genannten Veranstaltungen wurde die Absicht der Kirche deutlich, inhaltlich mit verfeinerten und anpassungsfähigeren Methoden ihre Aufgaben durchzuführen. Absatz.
[Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."